Zwölfte Vorlesung.

[133] Nur die deutsche Kathedermoral konnte das Gesetz der Schönheit so schnöde verkennen, um das ganze sittliche Leben in ihren dürren Formelkreis bannen zu wollen. Man lege jetzt ihren Kodex auf das Grab ihrer Schreiber und Urheber. Die Zeit hat sich über den Wert der Moralkompendien hinlänglich aufgeklärt, man wünscht mehr Moral im Leben und weniger auf dem Papier, und man wünscht eine Moral der Tat, eine Moral der Jugend, die, statt uns die Flügel zu beschneiden und unsere Fortschritte zu hemmen, uns beflügelt und zur Ausübung alles Guten und Schönen anleitet. Die Menschheit, das edle Roß, läßt sich nicht länger mehr trainieren, sie ist der Reitschule mit ihren veralteten Künsteleien überdrüssig, sie will nicht länger im Umkreis weniger Schritte, im verdeckten Kasten, auf den Wink ihres Bereiters ihre edle Kraft vergeuden, und peitscht sie nur, quält sie nur, reißt sie nur im Zügel, sie hat die offene Tür und das reiche, grüne Feld gesehen, ein Schlag, ein Satz und ihr liegt unter ihren Hufen und ein anderer Reiter schwebt mit ihr der Freiheit entgegen.[134]

Ich habe bisher nur von der philosophischen Moral dieses und des vorigen Jahrhunderts gesprochen, von dieser Antagonistin der menschlichen Kraft und Schönheit, die mit der Anmaßung, eine absolute zu sein, in Deutschland auftrat. Ich darf Ihnen wohl kaum erklären, daß jede philosophische Moral, erscheine sie, zu welcher Zeit sie wolle, die sich für absolut ausgibt, nur ein Machwerk her Schule und keine Moral des Lebens sei, da dieses immer um unter konkreten Bedingungen zur Erscheinung kommt. Jede geschichtliche Weltanschauung hat ihr eigenes moralisches Prinzip und solange die christliche blühte, gab es außer der, christlichen Moral keine andere, die das Gesetz des Lebens in sich trug: Man schreibe, wenn man kann, ein Moralkompendium des 13. Jahrhunderts, eine Moral christlichen Rittertums und Bürgertums, da besäße man doch wenigstens ein verdienstvolles historisches Werk, das alle die aus dem abstrakten Begriff des Christentums abstrahierten heutigen Moralen an wissenschaftlichem Wert übertreffen würde; würde man zeigen, wie die ursprüngliche menschliche Kraft jenes Zeitalters sich durchdrang von den geschichtlich gegebenen Elementen des Christentums und wie diese Mischung sich in den eigentümlichsten Formen kristallisierte und das Größte wie das Kleinste in den sittlichen Äußerungen so und nicht anders gestaltete, wie es die Geschichte lehrt. Aber nun, nachdem sich die Grundbestrebungen der Zeit außer dem früheren, innigeren Kontakt mit dem christlichen sahen, eine Art formeller philosophischer christlicher Moral der geschichtlich[135] christlichen substituieren und nach willkürlichen Abstraktionen aus dieser das Gewissen der neuen Zeit regeln und beschweren zu wollen, ist ein nichtiges Unternehmen, das auf die Gestaltung des Lebens keinen Einfluß haben und finden, obwohl auf Akademien, wie alles, sich eine Zeitlang so hinschleppen wird, bis etwas Besseres dafür an die Stelle tritt. Was sollen wir mit solcher Moral anfangen, wozu sollte sie uns nützlich sein? Entweder sie geht unsern Weg, und dann ist sie nicht das, wofür sie sich ausgibt, dann muß sie sich bescheiden, ihr Zentrum noch nicht gefunden zu haben, oder sie geht ihn nicht, und dann predigt sie tauben Ohren. Sie gibt freilich überall nur einen undeutlichen Ton von sich, so daß niemand sich leicht ihrethalben zum Kampfe rüstet. Was sagt sie uns von der Moralität oder Unmoralität unserer Staatseinrichtungen, was hat sie für ein Urteil über Freiheit und Knechtschaft? ist es moralisch oder unmoralisch, oder gleichgültig, sich in den Kampf der Zeit einzulassen, das Schwert für Recht und Freiheit zu zücken, das Bollwerk der Privilegien, die Mißbrauche des Kastenwesens anzugreisen? ist es ein moralischer oder unmoralischer Zustand, daß unser Volk kein vaterländisches, verständliches Recht hat, daß es in so vielen Ländern noch keine Stimme führt, wo es ihre vornehmlichsten und heiligsten Interessen betrifft? Fragt sie über diese und ähnliche Verhältnisse und Zustände und hört, welch undeutlich zwitschernder Ton aus ihrem Munde geht, wie sie im selben Atem zugestehen und ableugnen, einräumen und beschränken, oder gar,[136] wie sie diese Fragen, die allein gegenwärtig das Rad der Zeit umdrehen, als außer ihrem Kreise liegende, außermoralische oder außerakademische, was weiß ich, von sich ablehnen. Wirklich letztere sind noch die besten, man weiß doch, woran man mit ihnen ist. Es ist unseres Amtes nicht, sagen sie, in der Moral über das Bestehende und Werdende zu diskutieren, die Hauptsache ist, daß man erst moralisch wird, nach Anleitung unseres Kompendiums, oder vielmehr, daß man erst lernt, was Moral ist, und daß man sich die großen Schwierigkeiten zu Gemüt zieht, die für einen Moralkompendienschreiber nach Erscheinung der Schleiermacherschen Kritik aller Moral auf diesem Gebiet erwachsen sind. Mit der Gegenwart, mit dem Leben hat die Moral als Moral nichts zu tun, denn die Moral ist eine akademische Wissenschaft, und die Akademie ist gar kein Leben, sondern eine bloße Studienanstalt, deren Wirkungskreis sich völlig innerhalb der vier Wände unserer Auditorien abschließt.

Sehen Sie, man weiß doch, woran man sich zu halten hat, wenn man solche Stimmen hört. Man kann ihnen gleich nur erwidern, so hütet euch, daß die Fenster eurer Auditorien nicht offen stehen, denn der Luftzug aus der wirklichen Welt strömt herein und erinnert die junge Brust an ihre Hoffnungen, an ihren Zusammenhang mit dem Leben, an alles, was draußen liebt und haßt, kämpft und strebt, siegt und unterliegt, an die Zeit, an die Gegenwart.[137]

Es wäre leicht zu zeigen, daß sich diese Herren versündigten an der Moral wie an der Zeit, allein diese selbst hat dafür gesorgt, daß jene Sünde nicht groß wird, und daß ihre eunuchische Tendenz sich selbst vernichtet.

Eine männlichere und edlere Moral wird sich herbilden aus dem Schöße der Zeit, eine Moral, die dem neuen Zeitalter so innig angehören wird wie die christkatholische dem Mittelalter. Jene habe ich im Sinn, wenn ich behaupte, die echte Moral müsse mitten in das Gebiet der Ästhetik verpflanzt werden. Wohin sich die heutige akademische stellt und wo sie am Ende bleibt, kann uns gleichgültig sein. Mitten in der Ästhetik wird die Moral ihren Platz haben, wenn die Zeit erlaubt, die eine wie die andere in ihren lebendig geschichtlichen Zügen aufzustellen; denn aus einem Grundgefühl müssen beide entsprießen, ein Geist muß sie beide beseelen, eine Tat muß sie beide vereinigen. Es gibt vielerlei schöne Künste – die Kunst, sein eigenes Leben zu gestalten und ihm eine würdige, zeitentsprechende Form zu geben, die Moral wird eine derselben und zwar die schönste und edelste von allen. Man werfe mir nicht entgegen, daß der Meister der Lebekunst, der Bildner seiner eigenen Persönlichkeit schon deswegen himmelweit vom Bildner einer Statue, vom Verfertiger eines Gemäldes verschieden sei, daß jenem eine moralische Gottheit, ein Gewissen, das ihn lohne und strafe, im Herzen throne, während dieser ohne moralisches Gewissen zu Werke gehe: dann kennt ihr den Genius des Künstlers schlecht, wenn ihr glaubt, er arbeite[138] gewissenlos, er fühle nicht den warmen, lohnenden Kuß der Göttin, wenn ihm ein Meißelschlag, ein Pinselzug unter den Händen gelungen, oder nicht den kalten, schneidenden Blick des Tadels, wenn ihm durch Leichtsinn, Unvorsichtigkeit das ganze Werk oder ein Teil desselben mißlungen ist, hat Nicht jedes Amt, jedes Handwerk, auch das gemeinste, sein Gewissen, und die göttliche Kunst sollte keines haben, sie, die nur eine so schmale, zarte Linie hat, worauf das Gesetz der Schönheit ihr erlaubt, den Fuß zu setzen, sie sollte mit ihrer Gewissenhaftigkeit zurückstehen können vor irgend einer anderen und nun gar vor jener plumpen und weiten der gemeinen Moral, wie sie alltäglich im Leben ausgeübt wird. Haltet ihr denn auch nichts vom Gewissen des Dichters, des Musikers, habt ihr keine Ahnung von dem wirklichen Schmerz des letzteren, wenn seinem Instrument ein falscher Ton entschlüpft, wenn der Violinspieler nur eine Linie breit auf dem Stege fehlgegriffen hat? Leider, ich sage das zu unserer Schande, leider ist im Gegenteil die Kunst gewissenhafter als die Moral, der Künstler gewissenhafter als der Mensch. Ach, während in unseren Konzertsälen himmlische Melodien die Luft erfüllen und das Reich der Töne in der durchgreisendsten Harmonie sich unseren Ohren auftut, schreien die stummen Dissonanzen unserer Brust zum Himmel an, und, könnten sie laut werden, sie würden die Musik der Engel übertönen und die schrillendsten Mißlaute am Throne der Harmonie selbst laut werden lassen. Ja, die jämmerlichste Katzenmusik wäre eine solche moralische,[139] welche wir in guter Gesellschaft aufführen würden, falls durch Zauberei unsere Empfindungen Trompeten-, Geigen- und Flötentöne würden. Und woher das? Weil unsere Moral kein so seines Gewissen hat als unsere Musik, weil wir die Gewissenlosigkeit haben, die schändlichen Disharmonien der Gesellschaft, des Staatslebens, unseres eigenen, ruhig und mit geduldig langen Ohren zu ertragen.

Auch den Einwurf stelle man mir nicht entgegen, daß die Moral Opfer verlange, die Kunst hingegen genieße. Beide, wenn sie echt sind, teilen Genuß und Entsagung, und beide beruhen in Ewigkeit auf dem Grundsatz: nichts Großes kann der Mensch vollbringen, nichts Großes der Künstler gestalten, ohne seine Kräfte zu konzentrieren, d.h. ohne Selbstentsagung, ohne Aufopferung, ohne Ausscheidung des Unwesentlichen, Störenden und Feindlichen. Und hier tritt nun derselbe Fall ein wie bei dem vorigen Einwurf; man muß ihn leider gerade auf den Kopf stellen und behaupten, daß die bisherige Moral, bei aller Rigorosität ihrer Prinzipien in der Anwendung eben die flaue und laue ist und nicht imstande, einen kernhaften Menschen zu bilden und ihn zu zwingen, um eines Höchsten willen den Genuß, den Besitz und die Güter der Welt fahren zu lassen; dagegen die Kunst an Hunderten von Künstlern unserer Zeit das Beispiel gibt, zu welch anhaltendem Streben, zu wieviel durchwachten Nächten, zu welcher Menge und Größe der Opfer, Entsagungen und Entbehrungen sie ihre erwählten Lieblinge anspornt. Und man lese das Leben der großen Maler und Dichter der[140] Vergangenheit, und man lese, ob einer von ihnen groß geworden ist ohne den heiligen Entschluß, seinem Talent zu leben und zu sterben, und der Kunst alle Opfer zu bringen, welche mit ihrer großartigen, leidenschaftlichen Ausübung verbunden sind. Freilich jene Opfer wurden entschädigt und wohl überreichlich aufgewogen durch den freudigen Genuß und die Seligkeit, die sie überströmte. Nicht der Entsagung wegen entsagten sie, nein, des Genusses wegen, sie brannten im Feuer der Begeisterung, das alles Unreine verzehrt und selbst den Schmerz in Rauch und Asche auflöst.

Armselige Moralisten, die auftreten und den Leichtsinn der Kunst anklagen, der in unserer Zeit immer mehr einreiße und um sich greife. Tretet beschämt zurück und schweigt; denn wo noch in der Gegenwart der schönere Funke der Natur, der Wahrheit und der Freiheit hervorbricht, da sieht man ihn überall eher im Gesang und Gedicht als im Leben, das unter der schalen, gedankenlosen und leichtfertigen Oberfläche nur erst spärliche Lichter durchzucken läßt. Nicht die Kunst ist es, die das Leben, das Leben ist es, das die Kunst verdirbt und zu allen Zeiten, zu den schlechtesten unter Nero, ist diese noch immer besser und heiliger gewesen als jenes.

Nur wenige sind zu Künstlern geboren: alle um Selbstkünstler, Bildner ihrer eigenen Persönlichkeit zu sein; dieses eben, die Allgemeinheit und Unerläßlichkeit der Forderung ist es, was die Lebenskunst, die Moral, von den übrigen Künsten unterscheidet, die man auch in dieser Beziehung frei[141] nennen kann, indem es auf Talent und Lust ankommt, sich mit ihnen zu befassen, während jedem die Lust angemutet, das Talent zugesprochen werden muß, seine eigene moralische Bildung zu unternehmen.

So sind beide nur in ihrem Umfang, aber nicht in ihrem Ursprung und in ihrer ästhetischen Geltung unterschieden. Beide teilen auch dasselbe Ziel, Organisierung der ästhetischen Elemente zu einem gebildeten Ganzen, das bei der größten Mannigfaltigkeit seiner Teile von einer Grundidee durchdrungen und zur Einheit verknüpft wird. Nicht die Art und Menge dieser Teile, nicht die Art und Beschaffenheit der Grundidee ist das, was dem Ganzen Wert und Würde gibt, sondern einerseits die Stärke und Mächtigkeit des zugrunde liegenden Lebens, andererseits die mehr oder weniger durchgeführte Einigung und Durchdringung der zum Ganzen gehörigen Teile. So bei Menschen, so bei Kunstwerken, so bei einzelnen, so bei ganzen Zeitaltern. Nicht tief genug kann man sich diese Wahrheit einprägen, nicht lebhaft genug kann man es fühlen und ausrufen: der Mensch ist nichts wert, der Künstler ist nichts wert, der nicht Drang und Kraft und aufspringende Fibern im Herz und Hirn hat, alles, was er bildet, und wär es die vollkommenste Idee im feinsten Material, ist nichts wert vor Gott und Menschen.

Solche Kraft ist aber ein Erbteil der Geburt und der einzige Adel, der die Probe der Zeit besteht. Sie kann nicht, wo sie fehlt, ersetzt, kann aber, wo sie ist, geschwächt, ja vertilgt werden. Welchem[142] Geschlecht hat die Natur sie ganz versagt, welchem hat sie den Brunnen ihres Lebenswassers ganz verschlossen. Was wäre die Geschichte, welche armselige Rolle hätte selbst das Christentum auf der Weltbühne gespielt, ohne diese älteste und ewige Offenbarung und Ergießung des Lebensgeistes, welche Gabe des Himmels käme einer schwindsüchtigen und ohnmächtigen Menschheit zugute welche Engelszunge kann ein mattes, erstorbenes Herz in Begeisterung setzen. In jener geistig-leiblichen Urkraft ruht das Gute und Schöne wie im befruchtenden Schoß, ohne sie sind beide welk und unfreundlich und verdienen den Sonnenschein des Himmels nicht.

Auf dieser Kraft beruht unsere Wiedergebärung – wer sie in sich fühlt, der wehre dem Raube, womit die Zeit sie bedroht.

Quelle:
Ludolf Wienbarg: Aesthetische Feldzüge. Hamburg, Berlin 21919, S. 133-143.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Ästhetische Feldzüge
Ästhetische Feldzüge

Buchempfehlung

Gryphius, Andreas

Catharina von Georgien

Catharina von Georgien

Das Trauerspiel erzählt den letzten Tag im Leben der Königin von Georgien, die 1624 nach Jahren in der Gefangenschaft des persischen Schah Abbas gefoltert und schließlich verbrannt wird, da sie seine Liebe, das Eheangebot und damit die Krone Persiens aus Treue zu ihrem ermordeten Mann ausschlägt. Gryphius sieht in seiner Tragödie kein Geschichtsdrama, sondern ein Lehrstück »unaussprechlicher Beständigkeit«.

94 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon