Dreizehnte Vorlesung.

[143] Wir haben die Moral als die Kunst eines jeden, seinen Charakter zu bilden und sein Leben zu gestalten, dem Kreis der schönen Künste vindiziert, indem wir die irrigen Ansichten vom Leichtsinn und der Gewissenlosigkeit der Kunst als dem Ernst und Gewissen der Moral entgegengesetzt in die gehörige Beleuchtung stellten. In der Tat, jedermann ist Künstler und Kunstwerk zugleich; beobachten Sie nur die moralischen Äußerungen der Menschen, mit denen Sie umgehen, mit künstlerischem Auge, so werden Sie etwas von dem Eindruck empfinden, den ein Gedicht, eine Malerei, ein Bildwerk auf Sie zu machen pflegt. Hier sehen Sie einen Menschen, der durch und durch Charakter ist, stark im Wollen, wenn auch beschränkt und einseitig, mit starken, kühnen, aber wenigen Strichen gezeichnet; dort einen Menschen, der bei vielseitiger, formeller Ausbildung nur einen schwachen Nerv, zu wollen und zu handeln, verrät und während der erstere als die besonderste Individualität dasteht, von allen Seiten schroff, gebieterisch und[144] unzugänglich, dieser glatt, gefällig, lenkbar und sich allen Umständen und Charakteren anschmiegend. Sie werden auch nicht lange unter Ihrer Bekanntschaft zu suchen haben, um sich einen Dritten zur Anschauung zu bringen, der von der Natur in punktierter Manier ausgearbeitet ist und allen seinen Geschäften, Handlungen und Reden den Charakter ängstlicher Ausführlichkeit und Genauigkeit verleiht, sowie einen Vierten, den die Natur nur als flüchtige Skizze hingeworfen hat und der daher mehr nach Einfällen und Launen die Dinge angreift, als sie auszuführen und zu vollenden strebt. Und so mag sich ein jeder unter seinen Freunden und Bekannten eine Galerie lebendiger Porträts sammeln, die einem Bildersaal der Kunst ähnlich, im verschiedensten Stil gearbeitet sind. Doch – glaube ich, sträubt sich noch immer bei Ihnen, und das mit Recht, etwas gegen diese Ansicht, welche die Moral in den Kreis der Kunst und des Ästhetischen zieht. – Spreche ich es richtig aus, wenn ich Sie so verstehe: allerdings muß zugegeben werden, daß das, was man gemeiniglich unter dem Namen schöne Kunst begreift, ihr besonderes Gewissen hat und auch nicht ohne Opfer vonseiten des Künstlers zustandekommt; allein damit ist es noch nicht getan und die Moral von Kunst noch himmelweit unterschieden, denn das Gewissen der Moral setzt unbedingt die Möglichkeit voraus, seinen Anforderungen Genüge zu leisten, da die Moral für jedermann ist und alle ihre Gebote oder Anforderungen oder leise Winke, sowohl absolut zu erfüllende, als, vermöge der menschlichen[145] Freiheit, auch absolut erfüllbare sind. Es gibt nur eine Moral und nur eine Art, wie der Mensch sie ausübt, dagegen läßt die Kunst einen weiten Spielraum für verschiedene Bearbeitungen derselben, und man spricht daher von mehreren Kunstschulen, von italienischen, altdeutschen, holländischen Malerschulen, allein bisher ist es noch niemand eingefallen, von einer besonderen italienischen, deutschen oder französischen Moral zu sprechen. Darauf antworte ich denn folgendes: wenn wir uns recht verstehen und einmal abstrahieren von der absolut tuenden Kathedermoral, welche der deutsche Student in sein Heft niederschreibt und es dabei bewenden läßt, falls er nicht rationalistischer Prediger oder auch wieder Professor wird; wenn wir also statt gemachter und papierner Moral die Moral des Lebens, die Moral der Geschichte unserer Betrachtung würdigen, so muß es möglich sein, uns über den beregten Punkt zu verständigen. Wir denken doch, daß es eine solche Moral im Leben und in der Geschichte gibt, und daß die Moral nicht bloß in den Lehrbüchern und auf dem Papier stehe; wir haben doch den Glauben, ich meine den lebendigen, daß das Göttliche in der Welt wirklich zur Erscheinung gekommen, daß Gott sich in der Geschichte offenbart hat, wie in der Natur, welche gleichsam nur die Vorhalle seines Offenbarungstempels ist. Es wäre ja gottlos, daran zu zweifeln, daß Gottes Eigenschaften sich irgendwo unbezeugt gelassen, unverständig, ja unsinnig z.B. zu sagen, der gerechte Gott fände sich nicht in der Natur und[146] in dem, was nach christlicher Terminologie natürlicher Mensch heißt, und wir müßten es, in Ermangelung reeller Offenbarungszeugnisse, Gott auf sein Wort bloß glauben, daß er gerecht sei, ohne die Idee der Gerechtigkeit in uns, in der Natur, in der Geschichte ausgeprägt zu finden. Also, betrachten wir die Moral der Geschichte, sehen wir, wie die göttlichen Ideen sich in diesem, in jenem Volke, Zu dieser und zu jener Zeit verkörperten, in der Brust der Menschenkinder lebten und sich zu Taten entfalteten, so sehen wir zugleich, daß das eigentliche und wahre Leben dieser Ideen, der Güte, der Gerechtigkeit, der Weisheit, der Tapferkeit nur in einer gewissen eigentümlichen Beschränwng, so und so gefärbt und ausgeprägt, seinen Bestand habe, was gerade das Charakteristische der Zeit und des Volkes ausmacht und was wir die jedesmalige Weltanschauung genannt haben. Nun wäre es ja ein Aberwitz, das sittliche Leben der Indier nach dem Sittengesetz der Griechen, dieses nach der evangelischen Moral des Testaments, alle nach dem Moralkompendium eines deutschen Professors zu beurteilen und zu richten – ein Aberwitz freilich, den man oft genug findet, der aber die ganze Geschichte mit all ihrer Größe, Erhabenheit und göttlichen Mannigfaltigkeit in dem Mühlwerk einer beschränkten Ansicht zerstampft und des Herrn Geist und Werke so wenig begreift wie ein Maulwurf den Straßburger Münster oder ein bigotter Hengstenberg und Tholuck die griechische Iliade und den Jupiter des Phidias. Bedenken wir also den Satz, daß die Moral der Völker nicht[147] minder ein geschichtliches Produkt sei als die Kunst und die Poesie der Völker und daher auch nicht minder verschieden und wechselnd als diese, so müssen wir die Behauptung, es gäbe nur eine Moral, wenn sie Sinn, Verstand und Wahrheit haben soll, dahin fassen, daß wir bekennen, die göttlichen Ideen, die Begriffe der Moral sind elementarisch durch die ganze Welt zerstreut, und alle Menschen, wenn sie auf Moralität Anspruch machen wollen, müssen den elementarischen Gott in ihrem Busen tragen, müssen die Keime der Liebe, der Gerechtigkeit usw. sich eingepflanzt fühlen; obwohl dies zum moralischen Leben keineswegs hinreicht und das Göttliche in der Geschichte nicht elementarisch und abstrakt sich aufweist, sondern als gebildet uns zu den verschiedenartigsten Charakteren verarbeitet, zur Erscheinung kommt. Derselbe Fall ist es mit der Kunst. Es kann ebensowenig eine abstrakte Kunst geben, die dem ganzen menschlichen Geschlecht angehörte als eine Moral; dagegen findet sich das Elementarische der Kunst, die ästhetischen Ideen in den Kunstwerken aller Zeiten und Völker wieder, und nur der individuelle Komplex derselben, der organische Zusammenhang und alles, was zur konkreten Lebendigkeit gehört, macht das Unterschiedliche und Eigentümliche in der Kunst der Völker aus. So also unterscheiden wir zunächst in der einen Moral und Kunst die besondere Weltanschauung, welche im ganzen und großen ihren Zeitcharakter bildet. Allein hierbei bleiben wir noch nicht stehen. Die eine Moral und Kunst der besonderen Weltanschauung spaltet[148] sich nun wieder tausendfach in ihrem Kreise, nach dem Naturell der Völker, der Individuen, welche sich mit ihrer Ausübung beschäftigen. Hier verschmilzt sich der Volkscharakter mit dem Charakter des einzelnen zu einer Kraft, der einzelne, auch der Talentreichste und Größte bleibt immer ein Kind seiner Zeit, ein Sohn seines Volkes, und als solcher steht er zwischen ihm und der Menschheit und empfängt die Aufgabe, seine Individualität geltend zu machen, ohne weder dem rein Menschlichen, noch dem Volkstümlichen den gerechten und notwendigen Tribut zu versagen. Welche unendlichen Modifikationen erleiden nun nicht Moral und Kunst durch das Gesetz des Lebens, und welche Anwendung gestatten jene abstrakten Moralien und Kunstlehren dem Menschen und Künstler, der nach individueller tüchtiger Bildung strebt und andere nur insofern und in dem Maß achtet, als sie im selbigen Streben begriffen sind. Haben nicht selbst die verschiedenen Lebensalter, ganz allgemein betrachtet, ihre besondere Moral, und wird man vom Jüngling die Ruhe, Umsicht und Weisheit des Greises, vom Greise die Tapferkeit des Jünglings, vom Kinde die Beständigkeit des Mannes verlangen? Was will man also am Ende sagen mit der einen, absoluten Moral, die weder kalt noch warm macht und mit der man, um mich dieses Ausdrucks zu bedienen, keinen Hund hinterm Ofen hervorlockt. Ja es gibt eine Moral der verschiedenen Alter, der verschiedenen Stände, Talente, Stellungen, Charaktere, es gibt eine Moral der verschiedenen Zeitalter und Weltanschauungen, ebenso[149] wie es in den genannten Rücksichten eine verschiedene Theorie der Kunst und Poesie gibt. Daß man nicht von spanischer, französischer, deutscher Moral in ihren Schulen spricht, ist kein Grund, um die sprechende Tatsache zu leugnen. Ein Gemälde vom spanischen Maler Morillo, ein Gemälde vom französischen Maler David, ein anderes von unserm Albrecht Dürer, jedes derselben kann nicht entschiedener die charakteristischen Züge der Nationalität an sich tragen als die sittliche Persönlichkeit seines Malers selbst, angeschaut vom seinen und geübten Auge des Menschenkenners und nicht vom toten des Gelehrten, das sich ebensowenig auf die Individualität der Kunst, als auf die der Moral versteht.

Diese Andeutungen stehen leicht weiter auszuführen und mit anderen zu befestigen, allein, ich hoffe, sie werden genügen, um die Ansicht vom Zusammenhange des Ästhetischen und Moralischen und von der Moral als einer Kunst unter den Künsten zu rechtfertigen und etwaige Gewissensskrupel, die sich dieserhalb regen möchten, zu beseitigen.

Gingen wir nun von der Ansicht aus, daß eine allgemeine Kunstlehre eben ein solches Ding und Unding sei als eine allgemeine Moral, so wollten wir doch damit keineswegs den allgemeinen Teil einer Moral und Kunstlehre negieren, vielmehr hätte ich schon in früheren Stunden bei der ideellen Konstruktion einer künftigen Ästhetik dieses allgemeinen Teils als eines solchen Erwähnung tun sollen, der die Aufzählung der ästhetischen[150] Elemente, die aller Moral und Kunst zugrunde liegen, mit möglichst größter Vollständigkeit enthalten müßte. Dagegen verlangt jede einzelne Kunstlehre, gehöre sie der Poesie oder Prosa, der Malerei oder Bildhauerei an, daß sie vom besonderen Standpunkt der Zeit und des Volkes aufgefaßt und dargestellt werde. Ein andres hieße, in den Tag hineinzureden und einen bunten Kolibri in einem Netz mit meilenweiten Maschen fangen zu wollen.

Es bleibt mir nun immer noch übrig, ehe ich für diese Vorlesungen den angekündigten Weg einschlage, im allgemeinen der Art und Weise zu gedenken, wie nach Goethes Ausdruck das glücklichste Ergebnis einer kunstreichen Behandlung des Stoffes, das Schöne zur Wirksamkeit gelangt. Ich habe der verfehlten Definition des Schönen gedacht und bin nicht gesonnen, einen gleich unglücklichen Versuch zu machen, in drei, vier ärmliche Worte den mysteriösen Grund und Reichtum der Schönheit einzufassen. Allein ich hoffe, sowohl mich zu verstehen, als verstanden zu werden, wenn ich mich darüber so ausdrücke:

Die Schönheit, oder wie man das nennen mag, was den Menschen als das Gelungenste in Natur und Kunst, kräftig, reizend und wohlgefällig in die Augen springt, ist zunächst nichts Ideelles und Abstraktes, sondern allemal etwas Konkretes und Besonderes, das an einem bestimmten Stoffe, sei's Tat, sei's Marmor, sei's Fleisch und Blut, zur Erscheinung kommt. Ebenso individuell wie die Schönheit selber muß das Auge sein, das sich[151] ihrer erfreut, und so sehen wir es im Wesen der Schönheit selbst begründet, daß sie nicht allen schön ist und daß sie in verschiedenen Anschauungskreisen verschiedene Gefühle erregt, verschiedene Urteile hervorruft, wenn man auch alles das vom Geschmack der Völker und des einzelnen abrechnet, was seiner Anschauungsweise nur zufällig und außerwesentlich ist, wie dem Chinesen der Geschmack für winzig kleine Füße. So erscheint uns also zunächst die Schönheit vom historischen Standpunkte. Allein, man ist nur zu geneigt, diesen Standpunkt zu verlassen und, sich auf einen höheren stellend, zu behaupten, daß die echte Schönheit nur in der Harmonie zwischen unserem Auge und dem Objekte beruhe und daß andere Augen aus Ungeschmack Schönheiten bemerken, welche keine wären. Dies erregt einen Streit, bei dem jeder sich auf sein Gefühl zu berufen Pflegt wie auf den letzten Schiedsrichter, und das mit Recht, da im Ästhetischen keine andere Appellation zulässig ist als auf Gefühl und Gewissen. Damit soll aber, nicht gesagt sein, daß das subjektive Recht auch ein objektives sei; vielmehr findet sich der Nachdenkende veranlaßt, eine größere und geringere Kapazität des Schönen, ein Plus und Minus in der Bildung des Schönheitssinns unter den Menschen zu statuieren. Haben wir doch selbst, von diesem Standpunkte aus, über die indische Kunst den Stab gebrochen, obgleich wir sie als historische Erscheinung in ihrer Gültigkeit anzuerkennen gezwungen waren. Dagegen sahen wir in der griechischen Kunst und[152] Sitte eine Art der Schönheit, welche wir unserm Geschmack bei weitem angemessener fanden, was kein Munder, da wir wirklich das Bessere unseres Geschmacks eben den Griechen verdanken, das Bessere, Höhere und Edlere aber, das wir an Geschmack und Gesinnung vor den Griechen voraufhaben könnten, nur erst elementarisch im Schoß der keimenden Zeit ruht und weder zur Darstellung noch zur Anschauung bisher gelangt ist. Genug also, mit leben der Überzeugung, daß sowohl das Schaffen als das Genießen und Beurteilen des Schönen seine Geschichte hat, seine Bildungsstufen durchläuft, und in dieser Überzeugung begrüßen wir das Schöne, das wir empfinden, sowohl als wirklich und lebendig, als auch als die vollkommenste Wirklichkeit, deren wir uns bewußt werden können, ohne damit die möglichen Erweiterungen und Veredelungen des Schönheitssinns für die Zukunft abzuweisen. Fragen wir nun, wie das Schöne uns wirklich wird, so geben wir, in etwas belehrt, die obige Antwort, nur im besonderen und Individuellen, und damit sprechen wir aus, daß das Schöne jedesmal, um schön zu sein, Charakter haben muß. Lange hat man sich in Deutschland darüber gestritten, was der höchste Grundsatz der Alten in Sachen der Kunst gewesen. Winckelmann sagte: die Schönheit, Lessing die klassische Ruhe, Fernow das Idealische, Hirt das Charakteristische, bis Goethe nach langem Forschen und sinnigem Studium alle Parteien mit der Äußerung zur Ruhe brachte: »der höchste Grundsatz der Alten war das[153] Bedeutende, das höchste Resultat aber einer glücklichen Behandlung das Schöne«, welche Worte uns als Text dienen sollen, um in den nächsten Vorlesungen uns mit wohlerwogenen Schlußworten über die Natur des Schönen, über das Höchste der Kunst und über das Verhältnis der Künste untereinander zu verständigen.

Quelle:
Ludolf Wienbarg: Aesthetische Feldzüge. Hamburg, Berlin 21919, S. 143-154.
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