Vierzehnte Vorlesung.

[154] »Der höchste Grundsatz der Alten war das Bedeutende, das höchste Resultat aber einer glücklichen Behandlung das Schöne«, diese Worte Goethes mögen uns heute zum Text dienen, um unsere Betrachtungen über Natur und Kunst und über das Schöne als die Blüte von Natur und Kunst daran fortzuspinnen.

Ebenso richtig hätte Goethe sagen können: der höchste Grundsatz der Natur ist das Bedeutende und ihr glücklichstes Resultat das Schöne; doch leidet dieser Satz, von der Natur verstanden, eine bedeutende Einschränkung, indem wir tagtäglich eben, daß in der Natur das Prinzip der Erhaltung, der bloßen Lebensrettung, wo es not tut, mit rückichtsloser Gewalt sich geltend macht, und in diesem Fall sowohl dem Charakter als der Schönheit des individuellen Naturprodukts Abbruch tut. Verständigen wir uns zunächst über diesen so wichtigen Akt, der die Produkte der Natur von den Produkten der Kunst charakteristisch unterscheidet.[155]

Das Bedeutende in Natur und Kunst ist eben die individuelle Bestimmtheit der Natur- und Kunstprodukte, ihr Charakter, ihr Begriff.

Je entschiedener sich dieser Begriff ausgesprochen bei einer Pflanze, einem Tier, einem Menschen, desto vollkommener ist das Produkt. So stellen wir den Schmetterling höher als die Raupe, denn, obwohl schon an der Raupe und deren Verpuppung die Ringe, Flügel, Einschnitte und andere Gliederungen des künftigen Schmetterlings wirklich vorhanden sind, so sind sie es doch nur der Anlage und Tendenz nach, ihre Entfaltung bleibt der höheren Lebensstufe des Schmetterlings vorbehalten. Ebenso übertrifft die Palme an Charakter und Schönheit, nicht nur an Größe und Dicke, den Grashalm, obgleich dieser von den Naturforschern zu den Palmenarten gezählt wird und eine noch unentwickelte Palme im Kleinen vorstellt. Durch dasselbe Prinzip berechtigt sprechen wir sowohl im Pflanzenreich als im Tierreich von höheren und niederen Bildungen, je nachdem wir Pflanzen und Tiere vollkommener oder unvollkommener gegliedert und durchgebildet sehen, und so stellen wir z.B. im Animalischen die Gestalt des Menschen als die individuellste, kunstreichste, verwickeltste Organisation, als das Meisterwerk der Schöpfung, dem Mollusk und dem ganzen Geschlecht der Würmer, dem unentwickelten, kriechenden, zuckenden Schleim gegenüber, den ersten Anfang der schönsten Vollendung des animalischen Lebens auf der Erde.

Ich sage, als die schönste Vollendung. Denn[156] im selben Grade wie wir den Charakter einer Pflanze, eines Tieres sich deutlicher entwickeln sehen, im selbigen schreiben wir ihm auch eine größere Schönheit zu; und umgekehrt, je schöner wir die Bildungen der Natur finden, desto vollkommener wird sich bei näherer Untersuchung ihre Charakteristik ausweisen. Wem z.B. gefällt nicht das bloße grüne Blatt eines Rosenstrauchs, einer Weinrebe vor hundert anderen Blättern, wenn ihm auch die Ursache dieses Gefallens nicht klar ist, er wird aber bei genauerer Betrachtung auch diese entdecken, und die feineren Fasern, die zarteren Verzweigungen, den regelmäßigeren Schnitt, die gelungene Auszackung des Blattes dafür halten. Mem gefällt nicht die Gestalt eines Pferdes besser als die Gestalt einer Kuh, und wer sieht nicht gleich, daß er das Pferd darum schöner findet, meil dasselbe schön im Nußern, schärfere Sinne, schlankere Glieder aufweist und daher eine gebildetere Organisation des Innern verrät, also einer entschiedeneren Tiercharakteristik angehört. Mit gleichem Recht halten wir daher die menschliche Gestalt nicht allein für die entschiedenste, an Organen feinste, an Funktionen reichste, an Bewegung freieste, sondern auch, und aus demselben Grunde für die schönste, für die idealischste Gestaltung der Animalisation.

Wir sehen also, daß die Natur, indem sie die Leiter ihrer Bildungen hinaufsteigt, dabei den Grundsatz vor Augen hat, Schritt vor Schritt an Bedeutung wie an Schönheit zu gewinnen, bis sie bei der bedeutsamsten Gestalt, der menschlichen,[157] anlangt und mit dieser, gleichsam als Resultat ihres Strebens, die höchste Schönheit vereinigt.

Insofern finden wir die Natur auf demselben Wege mit der Kunst und die Kunstgeschichte gewissermaßen analog mit der Geschichte der Naturreiche, indem die Anfänge beider sich erst allmählich aus unbestimmter Charakterlosigkeit, aus roher Masse, schwachen Andeutungen der Glieder aufarbeiteten zu individuelleren Formen und Gestalten, bis das Prinzip der Schönheit sich merklich machte und die höchste Charakteristik mit der höchsten Anmut zusammenfiel. Man kann sogar darauf anspielen, daß die älteste Malerei und Bildhauerei von Tiersymbolen ausging und allmählich erst sich zur Darstellung des Menschlichen steigerte, dieses selbst aber jahrhundertelang noch sehr unvollkommen blieb, steife, eckige Umrisse, geschlossene Arme und Beine, kaum bemerklichen Unterschied der Geschlechter beibehielt, bis nach der Sage Dädalus die Bildsäulen wandeln ließ, das heißt getrennte Beine, fortschreitende Füße, freie Arme, offene Augen, entschiedene Geschlechtscharakter am Marmorblocke ausführte.

So ward auch für die Kunst das Bedeutende immer mehr Grundsatz, und da die Zeichnung der festen Teile, der Knochenbau als der Träger des Bedeutsamsten an der menschlichen Figur anerkannt werden mußte, so gab es in der griechischen, wie in jeder anderen nationalen Kunstgeschichte, einen Zeitraum, wo die Bildung der festen Teile, des Charakters in seinem starren Typus, in seinen stark ausgedrückten Grundzügen,[158] das überwiegende Prinzip war und den sogenannten Stil ausmachte. Winckelmann bezeichnet diesen zweiten Zeitraum als den großen und hohen Stil der griechischen Kunst, in dem Phidias, Zeitgenosse des Miltiades und Themistokles, der ausgezeichnetste Meister war. Erst im dritten Zeitraum offenbarte sich der schöne Stil, der mit Beibehaltung des charakteristisch Festen auch das charakteristisch Weiche und Zarte ausdrückte, aus welcher Behandlung eben die hohe Schönheit ihrer Meisterwerke, wozu unter anderen der Laokoon gehört, resultierte; ebenso wie die Natur unter allen Schönheiten, die sie bildet, bei der Bildung eines schönen Jünglings oder Mannes sich gleichsam ihr äußerstes Ziel gesetzt hat, da in einer männlich schönen Gestalt das Feste und Weiche harmonischer ineinander aufgehen als in der schönsten weiblichen Gestalt.

Allein die Meisterin Natur hat andere Schwierigkeiten zu besiegen als die Meister der Kunst. Keine Schönheit kann freilich die ihrige übertreffen, wenn und sooft sie sich einer ungestörten Entwickelung erfreut, die kühnste Bildnerei und Malerei wird zuschanden vor ihrer nackten Einfalt. Während aber der echte Künstler bei hinlänglich gutem Material allezeit imstande ist, die Verwirklichung des ästhetischen Gesetzes charakteristischer Schönheit ungehindert und ausschließlich anzustreben, wird die Künstlerin Natur nur zu oft in ihrem Streben gehemmt, und während sie es auf das Höchste anlegte, auf das bloß Notwendige der Existenz, auf die Rettung des Daseins ihrer Geschöpfe,[159] auf Selbsterhaltung reduziert. Sehen Sie hier, meine Herren, den wesentlichen Unterschied zwischen dem Bildungsgange der Natur und der Kunst. Die Kunst gehört dem Reiche der Freiheit, die Natur dem Reiche der Notwendigkeit an, die Kunst kann nur wollen, und ihrem Willen gelingt das Schönste, die Natur aber, beim besten Willen, sieht sich nicht selten genötigt, durch den Schrei der nackten Existenz innerlich gezwungen, ihren auf das Schöne gerichteten Willen zu brechen und zunächst nur die ärmlichen Forderungen des Daseins zu erfüllen. Die ganze Organisation ist ja nur die Frucht eines Kampfes der bildenden Natur mit den rohen und regellosen Kräften des Chemischen, Unorganischen, Chaotischen, das von allen Seiten auf das Organische eindringt, tückisch auf jede Blöße lauert, welche dasselbe darbietet und dann sogleich den nagenden, zerstörenden Zahn unmittelbar auf den Nerv der kranken Stelle heftet. So kann man z.B. das ganze Verdauungssystem der Tiere als einen defensiven Akt der organischen Natur be trachten, die Speisen, die wir zu uns nehmen, und die unser Magen mit so gebieterischer Regelmäßigkeit verlangt, sind bei weitem weniger zu unserer Ernährung als zu unserer Verteidigung bestimmt, wir werfen die animalischen und vegetabilischen Stoffe dem Zerstörer hin zur chemischen Zersetzung, damit nicht unser eigener Körper ihm zur Zersetzung und Zerstörung anheimfalle. Hier sehen wir also einen Erhaltungsakt, der einem regelmäßigen System des Körpers angehört, auf dem seine ganze Existenz basiert ist; allein, nun bedenken[160] Sie die tausend möglichen, unvorhergesehenen Zufälle, in welchen der geschlossene Organismus durchbrochen und feierlich angegriffen werden kann, das Heer der Störungen und Krankheiten, welche die Hilfsmittel der Natur auf einem Punkt in Anspruch nehmen und sich ihrer harmonischen Verwendung für das Ganze widersetzen, und Sie begreifen, daß diese Meisterin selten in voller Kraft, und gleichsam in Ruhe und Muße fortarbeiten und die Idee, die ihr vorschwebt, zur Ausführung und Vollendung bringen kann. Licht, Luft, Erde, Wasser, Wärme, Kälte usw. bedingen unaufhörlich die ideale Tätigkeit der Natur, und was zu den schönsten Formen berechnet war, kann der Zufall in die ärmlichsten und schlechtesten hinabdrücken.

Quelle:
Ludolf Wienbarg: Aesthetische Feldzüge. Hamburg, Berlin 21919, S. 154-161.
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