Fünfzehnte Vorlesung.

[161] Ich glaube annehmen zu dürfen, meine Herren, daß die aufgestellte Ansicht vom Verhältnis der Natur zur Kunst manchem unter Ihnen Veranlassung gegeben, sein Nachdenken auf diesen wichtigen Gegenstand zu richten, der Ihnen vielleicht unter neuem Gesichtspunkte erschien. Um so mehr darf ich hoffen, Ihre Aufmerksamkeit mir zu bewahren, wenn ich den Faden wieder aufnehme und das Allgemeine noch einer besonderen Betrachtung unterwerfe.

Natur und Kunst, so ließen wir uns vernehmen, teilen dieselbe Aufgabe, organische Einheiten zu bilden, Begriffe, Charaktere auszuprägen und dieselben mit der Blüte der Schönheit anzuhauchen.

Für diejenigen nun, welche gewohnt sind, die Natur als ein rein Materielles, Totes, Begriffloses zu betrachten, welche daher die Schönheit selber nur in der Ausdehnung und in räumlichen Verhältnissen finden, hat eine solche Ansicht wenig Empfehlendes. Sie gehen weder in der Natur noch in der Kunst von der Seele aus, und unbekannt[162] bleibt ihnen daher jene gemeinschaftliche Quelle dessen, was ihr Auge an den Produkten der Natur und Kunst in Entzückung setzt.

Erkennen wir jene positive geistige Kraft an, welche den zufälligen und willkürlichen Stoff zur Einheit des Begriffes verbindet und die widerstrebenden Atome zwingt, sich um diesen zu versammeln. Eine geistige Symmetrie beherrscht die körperliche, der Blick des Auges, die ausstrahlende Seele wirkt der äußere Bau und die Wohl- oder Mißverhältnisse unseres Sehorgans. Kann man daher behaupten, daß es bloß körperliche Schwingungen, Winkel und Linien sind, womit uns das Auge der Schönheit anlächelt, oder ist es nicht vielmehr das geistige Etwas, das sich durch diese Linien und Winkel symbolisch verrät?

Ich berühre hier einen Punkt, um den sich die deutsche Naturphilosophie wie um ihr Zentrum dreht. Wenn die Natur nicht ebensogut Verstand und Kunst besäße als wir Menschen, wenn die Natur nicht ebensogut Begriffe enthielte, als das philosophische Hirn, wie sollte der Mensch zum Begriff und Verständnis der Natur gelangen. Bleibt es doch unumstößlich wahr, daß das Fremde das Fremde nicht begreift, daß nur Gleiches von Gleichem erkannt wird, daß die Seele nichts wissen könnte von den Dingen, wenn die Dinge nicht seelisch, seelischer Natur, seelischen Ursprungs wären. Wodurch unterscheidet sich denn die Wirksamkeit der Naturdinge von der Wirksamkeit unseres Geistes? Durch das Bewußtsein, jene Sonne, die auf den niedersten Stufen der Natur sich hinter[163] dem Horizont verbirgt und nach graduellen Dämmerungen leuchtend in der Seele des Menschen hervortritt. Die Natur stellt keine Reflexionen an. Bei der Rose ist der Begriff zugleich die Tat, der Entwurf die Ausführung. Daher ist auch sinnliche Anschauung Anfang und Ende der Naturforschung. Der Physiolog ergreift mit dem Auge den verkörperten Gedanken der Naturgegenstände, den Begriff, die Operationen der Natur in ihren immanenten Urteilen und Schlüssen; er hütet sich weislich, seine eigenen Begriffe, Urteile und Schlüsse der Natur unterzuschieben. So z.B. sieht ein Goethe den generellen Pflanzenbegriff im Blatt der Pflanze, die Pflanze ist ihm Wiederholung des Blattes, das sich periodisch sukzessive entfaltet und schließt, Stengel, Knoten, Blüte und Frucht bildet und so an sich selbst die Urteile und Schlüsse vornimmt, die der beobachtende Physiolog nur zu wiederholen und gleichsam in menschliche Sprache zu übersetzen hat. Selbst die rohe Materie trachtet ja nach Einheit und Gestaltung, sie nimmt stereometrische Formen an, die dem Reich der Begriffe angehören und etwas Geistiges in der verhärtetsten Materie repräsentieren. »Den Gestirnen«, sagt Schelling, »ist die erhabenste Zahl und Meßkunst eingeboren, die sie ohne einen Begriff derselben in ihren Bewegungen ausüben; deutlicher, obwohl ihnen selbst unfaßlich, erscheint die lebendige Erkenntnis in Tieren, welche wir unzählige Wirkungen hervorbringen sehen, die viel herrlicher sind als sie selbst; der Vogel, der von Musik berauscht in seelenvollen Tönen sich selbst übertrifft,[164] das kleine, kunstbegabte Geschöpf, das ohne Übung und Unterricht leichte Werke der Architektur vollbringt, alle aber geleitet von einem übermächtigen Geist, der schon in einzelnen Blitzen von Erkenntnis hervorleuchtet.«

Es ist derselbe Geist, der im Menschen als Freiheit erscheint. Schon in den Naturwesen bemerken wir die Tätigkeit, welche über die Existenz des Tieres hinausgeht, welche nicht bloß im Innern Knochen baut und die äußere Haut mit Federn und Haaren besetzt, sondern nach außen sich ablöst, ein künstlerisches Residuum zurückläßt, einen Gesang, ein Gespinst, ein Nest und dergleichen zutage fördert. Das ist dieselbe bildende Kraft, die den Arm des Michel Angelo bewegte, die sich zum menschlichen Genius verklärt und zugleich mit dämonischer Unwiderstehlichkeit, mit unbewußtem Drang wie mit menschlich bewußter Freiheit Meißel und Pinsel ergreift und eine zweite höhere Schöpfung in der Schöpfung hervorbringt.

Nur auf den höchsten Stufen der Individualität wirkt die unbewußte Natur seelische Schönheit und Anmut, der bewußte Mensch steht schon oder sollte schon auf dieser stehen, er findet das Gesetz der Schönheit in sich, außer sich, die Wahl des Schönsten steht seiner Künstlerhand offen, und wenn er sich vergreift, wenn er statt Seelen nur Leiber, statt Edlem Unedles bildet, so fällt die Schuld einzig und allein auf sein Haupt, er hat seine Freiheit gemißbraucht, den Beruf der Kunst, sein schönstes Vorrecht vor der blind und notdürftig waltenden Natur, ungehinderte Bildung des[165] Schönsten im Charakter des Individuellen, verkannt.

Diese glückliche Lage der Kunst zur Natur sollte man richtig einsehen und fleißig bedenken, will man über den Wert der verschiedenen Kunstleistungen ein richtiges Urteil fällen. Wirkt und schafft der Künstler blind, so unterscheidet er sich durch nichts von der Natur als durch die Unvollkommenheit seines Werkes, verglichen mit demselben Werk der Natur. Will er sich aber mit Bewußtsein der Natur bloß unterordnen, so wird es ihm nicht darauf ankommen, welchen Gegenstand er für die Kunst bearbeitet, er wird mit knechtischer Treue diesen Gegenstand wiedergeben, verdoppeln, Abschreiber der Natur, aber kein Künstler sein. Künstler ist er nur dann, wenn er Seelen erfaßt, wenn er seelische Schönheit in ihrer Verkörperung darstellt, wenn er alles Körperliche nur als Symbol des Geistigen betrachtet und solche Symbolik aus seinem Kunstwerk klärlich durchblicken läßt. Jenen, im Innern der Dinge wirksamen, durch körperliche Sinnbilder zum Auge sprechenden Naturgeist soll er in sich lebendig machen und erst nach lebendiger Ergreifung desselben zur Nachahmung des Naturwerkes schreiten. Dann hat er etwas Künstlerisches geschaffen, das weder Natur noch Ideal ist; denn es ist etwas Höheres als die Natur, etwas Wahrhafteres als Ideal, als eine Grille, die willkürliche Schönheiten willkürlich zusammenrafft.

Es bedarf nämlich wohl keiner besonderen Erwähnung und Ausführung, daß für die Kunst das Überschwengliche, Idealische eben so unzulässig sei als das Gemeine, Sklavische, Kopierte.[166]

Die Forderung zu idealisieren, sagt Schelling sehr treffend, die manche an den Künstler machen, scheint aus einer Denkart entsprungen zu sein, nach welcher nicht die Wahrheit, Schönheit, Güte, sondern von allem das Gegenteil das Wirkliche ist. Wäre das Wirkliche der Wahrheit und Schönheit entgegengesetzt, so müßte es der Künstler nicht idealisieren, sondern vernichten, um an dessen Stelle die Schönheit hinzupflanzen.

Quelle:
Ludolf Wienbarg: Aesthetische Feldzüge. Hamburg, Berlin 21919, S. 161-167.
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