Sechzehnte Vorlesung.

[167] Nicht das Wirkliche als wirklich will der Künstler nachahmen, sondern dem Wirklichen eine künstlerische Bedeutung geben. Der Künstler hütet sich wohl, die marmornen Wangen seiner Diane rot zu färben. Er vermeidet selbst den Schein, als habe er mit der Natur wetteifern wollen. Er verachtet den Trug natürlicher Lebendigkeit, jedes Insekt, das auf dem Boden kriecht, würde ihn beschämen. Er fühlt sich nicht geschmeichelt, wenn sein Gemaltes oder Gemeißeltes des Zuschauers Sinne in die Täuschung versetzt, als sei es ein Lebendiges und Leibhaftes. Jene griechischen Anekdoten von gemalten Trauben und anpickenden Vögeln, von gemalten Pferden und anwiehernden lebendigen sind zweifelsohne reine Erdichtung; jedenfalls aber keine Beweise großer Kunst.

Wollte man sie dafür ausgeben, so wären Wachsfiguren die Meisterwerke der Kunst, sie kommen dem Leben am nächsten, stehen aber eben deswegen vom Leben am entferntesten ab. Dadurch erregen sie dem natürlichen Betrachter den[168] widerlichsten Eindruck. Sie stieren uns an, als wollten sie uns weiß machen, daß sie lebten, aber uns graut vor diesem wächsernen Blick, vor diesen unbegrabenen Leichen mit offenen Augen und roten Wangen, und wir verwünschen die Fingerfertigkeit des Wachskünstlers, der uns mit den Haaren zur Täuschung herbeiziehen will. Dagegen betrachten wir mit Lust und Bewunderung die Arbeiten des Bildhauers, die uns lebendige Wesen, Götter, Helden, Frauen vors Auge führen – ihre marmorne Haut scheint uns nicht gespenstisch, ebensowenig ihr sternloses Auge; ja, wir würden eher von dieser Empfindung beschlichen werden, wenn ein solcher Stern des Marmorauges unseren Blicken begegnete. Wir sehen, der Künstler hat uns kein qui pro quo vormachen wollen, er gab uns das Leben der Kunst ohne Wetteifer mit dem Leben der Natürlichkeit, ohne Falschmünzerei wie der Wachsbossierer. Lebendig und wahr soll also die Kunst sein wie die Natur, aber die Kunst wie es ihr selbst, nicht wie es der Natur zukommt.

Dieses Gesetz gilt in allen Kreisen der Kunst, und man erkennt eben den Pfuscher in der Malerei, den Maler, dem die Weihe der Kunst abgeht, sähe man ihn auch im Besitz vortrefflicher Kunstgriffe und mechanischer Fertigkeiten, man erkennt ihn hauptsächlich an der falschen Bestrebung naturwahr, statt kunstwahr zu sein, mit Früchten, Figuren, Gegenständen aller Art das Auge des Beschauers gleichsam aufzufordern, sie mit natürlichen in Vergleich zu stellen.[169]

In der Malerei fällt dies Bestreben um so mehr auf, da sie nicht freie, rings von Luft umgebene Bilder liefert wie die Bildhauerei, sondern, da man ausdrücklich ihre Bilder als Bilder ansehen soll. Sie legt ja darum auch weniger Gewicht auf die Materie als die Plastik, will schon mehr als Seele zur Seele sprechen, dagegen die Bildhauerei, dem Material nach, ganz und gar in der Sinnenwelt ruht und ein Tastbares, Irdisches darstellt. Daher stammen die verschiedenen Gesetze, die der Bildhauer und der Maler in der Darstellung befolgen. Während jener sich in acht nimmt, die Züge der Leidenschaft seinen Figuren über ein gewisses Maß einzuprägen, ja während er sich's zum Gesetze macht, das bloße Leiden, den reinen Schmerz im Stein nicht zu verewigen, ist dem Maler keine so ängstliche Grenze gesetzt, und der höchste Schmerz wie die höchste Lust, Leidenschaft, Leiden, Duldung, Tat gelingen seinem Pinsel aufs vollkommenste, falls er anders nicht vergißt, daß auch ihm ein gewisses Maß der Leidens- und Tatäußerungen vonnöten bleibt.

Aus diesem leicht bewährten Gegensatz der Malerei und der Plastik ergibt sich das Vorherrschen der letzteren im Altertum, das Vorherrschen der ersteren in der neueren Geschichte. Beide aber, Plastik und Malerei, werden für ewig in ihren bestimmten Kreisen getrennt operieren; die Plastik darf nichts ins Malerische, die Malerei nicht ins Plastische ausarten. Nicht ohne Zeitbedeutung scheint es zu sein, daß die Plastik der neuesten Zeit an Canova, besonders an Thorwaldsen so große[170] Meister gefunden; es ist ein Sieg der Tat über die bloße Empfindung des Griechentums, über das Mittelalter.

Noch geistiger als die Malerei zeigte sich die Poesie und gerade um so viel geistiger als ihr Material, die Buchstaben, geistiger sind, als geriebene Farbenerde. Lessing drückte das Verhältnis der Poesie zur Malerei mit den Worten aus: die Malerei schildert Körper und andeutungsweise durch Körper Bewegungen (Leidenschaften usw.); die Poesie schildert Bewegungen und andeutungsweise durch Bewegungen Körper. Wie dieser Ausspruch nun das ganze Verhältnis durchaus richtig angibt, so ist auch der Schluß daraus von Lessing bündig und richtig abgeleitet, daß die Malerei (wie die Plastik überhaupt) sich mit dem Simultanen, die Poesie sich mit dem Sukzessiven beschäftigen müsse. Die Poesie soll es also unterlassen, körperliche Schönheiten zu schildern; sie kann nur Zug für Zug verfahren, und während sie bei den Füßen anlangt, ist das Bild des Kopfes schon wieder verwischt. Der Malerei, die alle Schönheiten auf einmal darstellt, soll sie dieses überlassen, die Malerei aber der Poesie die komplizierten Züge einer Handlung, die bewegte Schönheit darzustellen; ihr gehört das Bewegte, der Plastik das Ruhende.

Sehen Sie hier, meine Herren; die Ursache, warum Naturschilderungen, selbst wenn Walter Scotts eminentes Talent sie ausführt, je länger und breiter sie hinausgezeichnet sind, desto vergeblicher und unerfreulicher unsere Phantasie abmartern und keine lebhafte Anschauung hervorzubringen[171] imstande sind. Die englischen Dichter sind diesem Fehler sehr unterworfen. Walter Scott wird nicht selten aus einem Dichter Maler, Architekt, Kleiderseller. Der echte Dichter schildert, wie Lessing sich ausdrückt, Bewegung, Handlung und nur andeutungsweise durch diese Körper. Zwingen, wie derselbe Lessing bemerkt, den Homer besondere Umstände, unseren Blick auf einzelne körperliche Gegenstände zu lenken, so wird doch kein Gemälde daraus, dem der Maler mit dem Pinsel folgen könnte; Homer weiß diesen Gegenstand in eine Folge von Augenblicken zu versetzen und uns auf diese Art seine Genesis vor Augen zu legen. Will er uns z.B. den Wagen der Juno sehen lassen, so muß Hebe ihn Stück für Stück zusammensetzen, wir sehen die Räder, die Achsen, den Sitz, die Deichsel usw. nicht sowohl wie es beisammen ist, sondern wie es unter den Händen der Hebe zusammenkommt. Will er uns zeigen, wie Agamemnon bekleidet gewesen, so muß der König vor unsern Augen Mantel, Stiefel, Schwert antun, und wenn er damit fertig ist, ergreift er das Zepter. So ist auch die Beschreibung des Zepters eine Geschichte des Zepters, die Beschreibung des Achilleischen Schildes eine Reihe von Geschichten. Für ein Ding hat Homer gewöhnlich nur einen Zug. Ein Schiff ist ihm das dunkle, das schnelle, wenn's hoch kommt, das wohlberuderte, dunkle Schiff. Aber wohl dient ihm das Schiffen, die Abfahrt, das Anlanden eines Schiffes zu ausführlichen Gemälden, woraus der Maler jedesmal ein halbes Dutzend verfertigen müßte, wollte er sie ganz auf die Leinwand bringen.[172] Mit gleicher Kunst behandelt er die menschlichen Schönheiten. Nireus war schön, Achilles noch schöner, Helena besaß göttliche Schönheit; das ist alles. Nirgends läßt er sich auf umständliche Schilderungen ein. Im Vorbeigehen erfahren wir, daß sie weiße Arme hatte. Welchen Luxus würde ein schlechterer Dichter als Homer mit Helenas Schönheiten getrieben haben. Aber würde er uns auch, gleich Homer, durch einen einzigen Zug die Schönheit der Helena als die höchstdenkbare fühlbar gemacht haben? Helena tritt ins Tor, wo die Greise Versammlung halten; da flüstert einer dem andern zu:


οὐ νεμεσις Τρωας και ἐϋκνημιδας Ἀχαιους

τοιη δ᾽ἀμφι γυναικι πολυν χρονον ἀλγεα πασχειν

αἰνως ἀϑανατησι ϑεης εἰς ὠπα εἰοικεν,


welche Worte im Munde von Graubärten, die Blut und Tränen und erschlagene Söhne nicht achten, um eines so göttlichen Weibes wegen.

So viel im allgemeinen vom Verhältnis der Poesie zur Plastik, von dem der geistigsten aller Künste, welche der Plastik im Kunstkreise polarisch gegenübersteht, der Musik in nächster Vorlesung.

Quelle:
Ludolf Wienbarg: Aesthetische Feldzüge. Hamburg, Berlin 21919, S. 167-173.
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