Siebzehnte Vorlesung.

[173] Man sollte denken, daß die Musik diejenige unter den Künsten wäre, welche am wenigsten Gefahr liefe, ihr eigentümliches Gebiet zu verkennen; allein die Erfahrung hat gelehrt und lehrt noch täglich, daß der Musiker bald den Maler, bald den Dichter zu überbieten strebt und dabei die eigentümliche Würde seiner Kunst außer Augen setzt. Im Gegensatz zu einer Musik, deren Noten weder einer Empfindung noch einer Idee entsprechen, die wie meistens die italienische, insbesonders die frühere, ein reines, gedankenloses, schwelgerisches Tonspiel ausdrückten, bildete sich eine Charaktermusik, die aus lauter Andeutungen, physischen und geistigen, bestehen sollte, die Gewitter, Mondscheinküsse, Pferdegalopp nachahmte und alles Malerische und Dichterische ohne Ausnahme in ihr unnatürlich erweitertes Gebiet aufnahm.

Allerdings, meine Herren, ist nicht zu verkennen, daß Poesie und Musik innig verwandte Künste sind, die in ihrer Vereinigung, z.B. in der Oper, im Liede, die wunderbarsten Wirkungen auf[174] unser Gemüt äußern. Allein, man erkläre sich den Umstand, daß die Sprache und die Musik so selten, ja fast nie selbständig zusammenwirken, daß bald die Sprache der Musik, bald die Musik der Sprache untergeordnet er scheint, jenes in unseren heutigen Opern, wo der Text nur so mitläuft, dieses in den Schau- und Trauerspielen der Alten, wo Text die Hauptsache, Musik und Tanz nur als Begleiterinnen auftraten. Woher diese Schwierigkeit, beide Künste in ihrer Selbständigkeit miteinander zu verbinden? Die Antwort gab schon Lessing. Die Musik bedient sich natürlicher, die Poesie willkürlicher Zeichen, die Musik der Töne, die Poesie der Buchstaben. Beide Zeichen wirken allerdings in der Folge der Zeit, allein das Zeit maß ist verschieden. Ein einziger Laut der Sprache, als willkürliches Zeichen, kann in einem flüchtigen Augenblick so viel Gedanken und Empfindungen ausdrücken, als die Musik nur in einer langen Reihe von Tönen nach und nach hörbar und fühlbar machen kann. Die hieraus entspringende Regel nehmen sich auch die Dichter der Operntexte zunutze, wenn sie darauf ausgehen, den Gedanken so wortreich als möglich auszuspinnen und die längsten und geschmeidigsten Worte den energisch kurzen vorziehen. Man hat den Komponisten vorgeworfen, daß ihnen die schlechteste Musik die beste wäre; aber sie ist ihnen nicht deswegen die liebste, weil sie schlecht ist, sondern weil die schlechte nicht gedrängt und gepreßt zu sein pflegt. Sie sind oft genötigt, ein Wort, eine Silbe ein halbes dutzendmal zu wiederholen, um den entsprechenden musikalischen Eindruck[175] zu machen. Dennoch scheint die Verbindung der Musik mit der Poesie die älteste und ursprünglichste zu sein, die Trennung eine spätere. Die Regeln des Versbaues gründen sich alle auf Harmonie, alle musikalischen Abwechselungen, Pausen sind auch in der Sprache der Poesie denkbar. So waren die ältesten Dichter zugleich auch Sänger, die älteste Poesie zugleich Musik. Wenn es heißt, daß Orpheus' Leier den Marmor schmolz und Ströme in ihrem Lauf hemmte, wenn Amphion Theben baute, so wurden unter den Tönen der Leier nicht bloße musikalische Laute, noch bloße Worte, sondern der wunderbare Einklang von Poesie und Musik verstanden.

Überhaupt war die Musik der Alten immer mit Poesie verbunden, selbständige Instrumentalmusik war ihnen fremd. Die Ursache liegt nahe. Ihre Instrumente waren weder vollzählig, noch vollkommen, was ließ sich mit der Harfe, Zither oder Forminx, mit der Lyra oder Laute, mit der Tibia oder Hoboe, mit der trompetenartigen Tuba und mit dem Syrinx der Hirten aufstellen? Erst in späteren Zeiten, besonders unter Italienern und Deutschen, bildete sich die Musik zur eigentlich darstellenden Kunst. Vorher war sie nur die Hülle, das Gewand der Poesie. Jetzt riß sie sich, den eigenen Kräften vertrauend, von ihr los, jedoch, wenigstens nicht bei den Deutschen, um sich ganz von ihr zu trennen, sondern, um sich ihr mit Freiheit wie der zu nähern. Selbst das Wort musikalisch ward nun selbständig gebraucht für die Kunst der Musik, früher bezeichnete es den Verein von Poesie[176] und Gesang, von Mimik und Deklamation, in dem jeder griechische Jüngling sich ausbilden mußte; in diesem Sinne muß man immer den musikalischen Unterricht verstehen, wovon Plato, Plutarch und andere griechische Schriftsteller so oft sprechen, als von dem wesentlichsten Bildungsmittel der Jugend, das auf Geist und Gemüt den unwiderstehlichsten Einfluß ausübe.

Die Alten sahen nur auf Melodien, ihre Chöre wurden nur nacheinander abgesungen und deklamiert. Künstliche Harmonien, Durcheinanderlassen der Töne auf verschiedenen Instrumenten, Tonversetzungen, Fugen, Auflösungen künstlicher Dissonanzen, kurz Werke eines Haydn oder Mozart, ganze große, durchdachte, auf die Regeln der Harmonie gegründete, mit Kraft, Geschicklichkeit, großartiger Phantasie ausgeführte musikalische Kunstwerke waren den Alten unerreichbar.

Räumen wir diese Selbständigkeit der Musik in neuerer Zeit ein, so kehrt mit verdoppeltem Nachdruck die Frage zurück, welche Stelle nimmt die Musik unter den Künsten ein, welche Grenzen sind ihr gesetzt, was ist ihr Reich, ihr Gebiet?

Kant in seiner Kritik der Urteilskraft sagt von der Tonkunst, daß sie unter den Künsten den größten Genuß, aber für sich die wenigste Kultur gewähre, indem sie mit bloßen Empfindungen spiele, welche auf unbestimmte Ideen von Affekten führten.

Die Musik stand also dem Königsberger nicht sehr hoch; auch Hegel machte sich nicht viel aus der Musik, weil sie ihm, wie er sagte, zu wenig zu denken gebe. Wie anders mußte Luthers[177] Ohr vom Zauberstabe der Musik berührt werden, wenn er ausruft: ich sage es frei heraus, daß nach der Theologie keine Kunst sei, so mit der Tonkunst kann verglichen werden, der die Flöte und noch kunstreicher die Laute spielte, und seinen hellen männlichen Tenor jeden Abend in seinem Hause ertönen ließ. Es ist nur Mangel an Tonsinn, an kindlicher Stimmung, an poetisch-webenden Gefühlselementen, was Kant, Hegel und andere Philosophen wie Nichtphilosophen zur Herabsetzung der Musik bestimmte. Schon das Medium, der Stoff der Musik erregen für ihre ästhetische Würde ein günstiges Vorurteil. Sie spricht durch den Sinn des Gehörs zu uns, ihr Medium, die Luft, ist unsichtbar wie die Töne, welche sie hervorruft, in diesem Unsichtbaren wirkt sie selber als etwas Unsichtbares, als etwas aus fremder Welt, und zwar nicht als Totes, Unbewegtes, Ruhendes, sondern als etwas Eilendes, Fließendes, über, neben, unter uns Hinschwebendes. Ihre Melodien sind uns die Sinnbilder unserer geistigen Regsamkeit, unsere stummen Gefühle, Ahnungen, Hoffnungen, unsere Schmerzen und Freuden, alles wird laut in unserer Brust, wir fühlen doppelt stark, allein wir erheben uns über den Schmerz und genießen diesen nur als Ton, der unser Ohr entzückt, ohne im Herzen einen Stachel zurückzulassen. Die Töne, sagt Heinse in seinem musikalischen Roman, greifen die Nerven und alle Teile des Gehörs an und verändern dadurch das innere Gefühl außer allen Vorstellungen der Phantasie. Unser Gefühl selbst ist nichts anderes als eine innere Musik, immerwährende Schwingung[178] der Lebensnerven. Die Musik rührt sie so, daß es ein eigenes Spiel, eine ganz besondere Mitteilung ist, die alle Beschreibung von Worten übersteigt. Sie stellt das innere Gefühl von außen in der Luft dar. Das Ohr, sagt er an einer andern Stelle, ist gewiß unser wichtigster Sinn und selbst das Gefühl, was man bisher für den untrüglichsten gehalten hat, bildet sich nach ihm. Das geübteste Auge eines Malers, Meßkünstlers ist gewiß nicht imstande, uns so, wie der Musiker, die leichten Verhältnisse der Hälften, Drittel, Fünftel und Sechstel einer Linie, irgendeiner Länge und Größe in Wirklichkeit auf ein Haar zu treffen. Deswegen sind die Taubstummen um so vieles unglücklicher als die Blinden, weil sie den Hauptsinn des Verstandes, der die andern zur Richtigkeit gewöhnt, nicht haben, und so gibt die Musik unter allen Künsten der Seele den hellesten und frischesten Genuß. Ein Glück, daß das Ohr des Menschen an seiner und mannigfaltiger Aufnehmung und Unterscheidung von Tönen das Ohr aller anderen Tiere übertrifft, obwohl ein vollkommen zartes, festes, reines und noch mehr, ausgebildetes Gehör ebenso selten ist, wie alle hohe Schönheit und man durch schlechte Gewohnheit diesen göttlichen Sinn sehr verderben kann.

In der Tat, vor der Musik muß jede Kunst, die am Sichtbaren haftet, an innerer Wirksamkeit übertroffen werden, wie der Körper vom Geiste: denn sie ist Geist, verwandt mit der Natur der in uns waltenden Kraft, der Seele, der Bewegung. Was anschaulich dem Menschen nicht[179] werden kann, wird ihm durch Musik mitteilbar. Vorübergehend ist jeder Augenblick dieser Kunst, denn eben das Kürzer und Länger, das Stärker und Schwächer, das Höher und Tiefer ist ihre Bedeutung, ihr Eindruck. Im Kommen und Fliehen, im Werden und Gewesensein liegt die Siegeskraft des Tons und der Empfindung. Dagegen jede Kunst des Anschauens, die an beschränkten Gegenständen und Gebäuden und nun gar an Lokalfarben haftet, dennoch nur langsam begriffen wird, obwohl sie alles auf einmal zeigt.

Vergangenheit und Zukunft unserer Empfindungen ist das Eigentümlichste der Musik. Sie soll die Natur nicht malen, nicht dichtend darstellen wie Maler, Bildhauer und Dichter, sondern anregen, nichts als anregen. Daher wirkt die Musik nie bestimmt wie der Dichter, sondern unbestimmt; daher artet die Bemühung, einzelne Begebenheiten und Erscheinungen der Natur in der Musik nachzuahmen, z.B. das Klappern der Mühlen, das Schnurren der Räder, das Knirschen der Zähne usw. in lächerliche und unerträgliche Spielerei aus. Die Musik darf nie aus dem reinen Äther herabsinken und ihren Fuß auf den glatten Boden der Wirklichkeit setzen. Unsere Gefühle begegnen ihr von selbst, wir tauchen uns in ihrem reinen, dunkelwogenden Strom, wir trinken ihre Töne und stillen und reinigen uns in ihren harmonischen Fluten.

Man kann die Tonkunst unter den Künsten die freieste nennen, weil sie am unmittelbarsten sich unserer Seele, unserer Einbildungskraft bemächtigt[180] und mit den musikalischen Formen der Schönheit anfüllt, ohne durch das Verstandesgebiet der Begriffe und noch weniger durch die Welt der wirklichen Anschauungen hindurchzugehen. In ihr verbindet sich am leichtesten das Individuelle mit dem Idealen, in ihr drückt sich am fühlbarsten das Unendliche durch das Endliche aus.

Daß die Töne, sagt Jean Paul, die in einem dunklen Mondlicht von Kräften ohne Körper unser Herz umfließen, die unsere Seele so verdoppeln, daß sie sich selber zuhört, und mit denen unsere tiefheraufgewühlten, unendlichen exaltierten Hoffnungen und Erinnerungen gleichsam im Schlafe reden, daß die Töne ihre Allmacht vom Sinne des Grenzenlosen empfangen, dies brauche ich nicht erst zu sagen. Die Harmonie füllt uns zum Teil durch ihre arithmetischen Verhältnisse; aber hie Melodie, der Lebensgeist der Musik erklärt sich aus nichts, als etwa aus der poetischen Nachahmung der roheren Töne, welche unsere Schmerzen und Freuden von sich geben. Die äußere Musik erzeugt die innere, und daher geben uns alle Töne einen Reiz zum Singen.

Wir schließen mit diesen Worten unsere Gedanken über den Kunstkreis der Musik. Nachdem wir bisher die eigentümliche Bahn der sämtlichen Künste beschrieben, flüchtig durchlaufen sind, werden wir in nächster Vorlesung unmittelbar nach unserm Plane diejenige von den Künsten behandeln, welche sich der Worte als ihrer symbolischen Zeichen bedient, der Poesie und Rhetorik.

Quelle:
Ludolf Wienbarg: Aesthetische Feldzüge. Hamburg, Berlin 21919, S. 173-181.
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