IV

Im Berliner Zollamt. Preußen und Mecklenburger. Mein Hauswirt und die Seinen. Studium. Gustav und Friedrich Eggers. Dichterträume

[43] Eisenbahnen gab es schon, als ich zum Sommersemester 1857 von Rostock über Schwerin nach Berlin fuhr; aber Freiheit des Verkehrs gab es zwischen den deutschen Nachbarländern Mecklenburg und Preußen noch nicht, sie waren »Ausland« füreinander – so wunderlich das auch einem heutigen Leser klingt. Das souveräne Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin war dem deutschen Zollverein nicht beigetreten, es war eine Welt für sich. Wie ein Fremder, mit der unentbehrlichen Paßkarte, mit zollamtlich untersuchtem Koffer, zog ich über die Grenze; um in Berlin zu meiner Bücherkiste zu gelangen – ich hatte mir schon mit Feuereifer eine kleine Bücherei gesammelt – mußte ich zum »Packhof« auf der Museumsinsel wandern und sogleich zu meinem tiefen Mißvergnügen erleben, was preußische Beamte waren. Mit dem »strammen« Ernst ihres Berufs, mit humorlos strengen, historisch harten Gesichtern standen sie um die geöffnete Kiste des jungen Studenten und Poeten herum, wühlten in dem Bücherhaufen, zogen die amtlichen Brauen auf und nieder und ließen endlich unter dem martialischen[43] Schnauzbart das Verdikt heraus: »Verzollen!« – »Verzollen?« sagte ich, mit heimlich aufflammendem Preußenhaß. »Sie sehen doch, daß das alles gebrauchte, gelesene Bücher sind. Ich bin hier, um zu studieren, und brauche sie zum Studium. In jedem Buch steht vorn mein Name; sehen Sie doch hin. Ich will doch nicht Handel treiben. Schon die Inschriften sagen das. Und ich soll verzollen?«

So fochten wir eine Weile (ihr Barbaren! dachte ich); endlich sagte einer, mit den Achseln halbmenschlich zuckend: »Gehn Sie zum Direktor. Wenn der Ihrer Meinung ist, dann geben wir die Kiste frei heraus!« Ich ging zum Direktor, einem älteren Mann mit etwas müden Augen, der einsam in seinem harten Lehnstuhl saß, und trug ihm so beredt wie möglich meine Sache vor. Er sah mich an und schien zuzuhören; sein Gesicht blieb still. Was wird dieser weise Borusse nun sagen? dacht' ich. Ja oder Nein? Das ganz Unerwartete geschah: er sagte weder Ja noch Nein. Er murmelte etwas – ich weiß nicht mehr, was – er gab mir nicht unrecht, aber auch seinen Unterbeamten nicht; endlich entließ er mich mit einer freundlichen Handbewegung und einem »wird schon gehen« oder »sich durchschlagen« oder so dergleichen; kein bestimmtes Wort. Ich, wieder draußen – was? ist das auch ein Preuße? dacht' ich, jetzt etwas Verachtung in meinem Zorn. Keine eigene Meinung? – Was hab' ich nun? Was mach' ich nun? – Ich entschloß mich geschwind wie Faust: »Im Anfang war die Tat!« Bei meiner Kiste wieder angekommen, sagte ich den Herren: »Der Herr Direktor ist meiner Meinung. Geben Sie[44] mir nur die Bücher heraus!« Mit stillem Erstaunen sah ich, dieses Wort genügte. Ohne weiter nachzufragen – als hätten sie diese Entscheidung erwartet – gaben sie die Kiste frei, und ich zog mit ihr als Sieger davon.

Dies war meine erste Berührung mit dem Preußentum; gefallen hatte sie mir nicht; mit einem warmen Vorgefühl war ich ohnedies nicht ins Land gekommen. Für die Geschichte Preußens, seine großen Fürsten und Helden schlug mir wohl das Herz; seine Zukunft als Deutschlands Vormacht schien meinem politischen Verstand unabweisbar; aber ich war tief innerlich ein unpreußischer Mensch – wie die Künstler es wohl alle sind. Ich suchte auf der Welt das Hohe, das Große, aber nicht das Strasse, Stramme, Enge, Steife, kurz das Nichtästhetische, das ich im Stockpreußen fand und das auch schon Lessings Minna von Barnhelm nicht liebte. Mir gefielen meine Mecklenburger besser, wenn ich auch ihr geschichtslos kleinbürgerliches Dahinleben nicht leiden konnte; ich floh ihre kleine Welt und ihr kleines Wollen, aber sie waren menschlicher, gemütlicher, humoristischer. Sie sind auch ein tapferes Volk, zwei von ihnen heißen Blücher und Moltke; vor allem aber bescheiden sind sie, treuherzig, redlich, unverdorben; und unverwüstlich, immergegenwärtig ist ihr goldner Humor. Den kennt jeder, der Fritz Reuter kennt; es wäre aber eine schöne Bereicherung der Lebensfreude und der Menschenliebe, auch den ganzen Umfang der liebenswürdigen Güte und Reinheit zu kennen, die in Mecklenburgern zu finden ist. In den Unscheinbaren oft am wunderbarsten; wie viel hab' ich das gesehn. Da steht mir ein dürftiges Gestellchen[45] vor Augen, Frau K., die noch hier in Rostock lebt; lange Jahre war sie Aufwärterin bei einer meiner Cousinen und weihte sich mit immer heiterer Hingebung der ihr heiligen Pflicht. Eines Tages liegt ihr Mann im Sterben; sie tritt vor meine Cousine hin, die noch nichts davon wußte, und fragt, ob sie nicht einmal heimgehen dürfe: sie möchte doch sehn, »ob ihr Mann noch da ist.« Die Cousine schickt sie fort: ja, ja, ja; und diesen Tag nicht wiederkommen! sie werde sich allein behelfen! Am Nachmittag stirbt der Mann. Am anderen Morgen ist Frau K. wieder da, blaß und still gefaßt; und so Tag für Tag. Dabei war sie zart, ein Hauch. Im strengen Winter steckte sie in sieben Stücken Zeug wie in sieben Zwiebelhäuten; hätte man ihr die alle abgezogen, man hätte vielleicht nur die platonische »Idee« der Aufwärterin gefunden. Sie hat aber an keinem Morgen gefehlt, all die Jahre durch.

Fast märchenhaft in ihrer Selbstlosigkeit ist eine andere Frau, die ich kenne, Frau B. in Schwerin. Dort in der Apothekerstraße geboren und aufgewachsen, verlebt sie nun all ihre Jahre in dieser Gegend der Stadt; sie war nie im Schloßgarten – wozu? sie braucht ihn nicht, sie entbehrt ihn nicht – und an keinem der Seen um Schwerin herum. Wenn aber ihrer Herrschaft, meiner Freundin, einmal ein Ausflug verregnet, das geht ihr zu Herzen; sie schüttelt ihren betrübten Kopf. »Was haben Fräulein sonst vom Leben? So'n Vergnügen, das brauchen Sie! Und nu muß es regnen!« – Fast so märchenhaft wie ihre Bedürfnislosigkeit und Selbstlosigkeit ist ihre geschlechtslose Häßlichkeit. Eine Art von Geschlechtsliebe glimmt[46] aber doch in ihr: zu einem Jugendgespielen, der noch immer ein hübscher Mann und ein unverbesserlicher Trinker ist. Den hegt und pflegt sie, schwesterlich, mütterlich. Auch hier offenbar nur die platonische Idee der Liebe; die wird aber wohl so lange leben wie sie.

Wie viel stöhnen wir über die Handwerker, und leider mit Recht. Ich könnte aber von idealen Rostocker Uhrmachern, Tischlern, Mechanikern erzählen, so rührend Vornehmes, daß viele nicht dran glauben würden. So vornehm wie ihre Seele ist aber auch ihre Tüchtigkeit.

Und muß man nicht menschenliebend lächeln, wenn man hört, wie es einer Rostocker Dame bei ihrem Hutlieferanten erging? Sie kam, um einen neuen Hut zu kaufen. »Aber Frau Doktorin,« sagt er, »Sie haben ja doch den Hut, und dann den«; er läßt nichts aus, er weiß noch alles. »Was wollen Sie denn da mit 'nem neuen Hut?«

So simpel wie diese meine Landsleute war freilich der Berliner Schuhmachermeister nicht, bei dem ich und meine freigegebene Bücherkiste einzogen; der war ein richtiges Berliner Kind, echtes Großstadtblut; freilich gleich vom besten. Er hatte Witz, er kalauerte mit Wollust, aber auch mit Humor, er schrieb Aufsätze in die demokratische Volkszeitung, er spielte mit mir Schach, und mindestens so gut wie ich. Sein Geschäft war klein, seine Wohnung winzig (am Tierarzneischulplatz bei der Karlstraße, der nun längst verbaut ist); ich mußte durch seine Werkstatt in mein Zimmer gehn, das in den großen Garten der Tierarzneischule blickte. Aber seine beiden Töchter freuten sich mit mir, daß ich meine Bücher hatte, denn sie lasen mit. Sie kannten[47] Schiller, sie kannten Goethe und auch »ihren Lessing«. Die eine half zu Haus und die andre diente; arme Mädchen, auch nicht eigentlich hübsch zu nennen, es fehlte offenbar an lebfrischem, farbenspendendem Blut; aber etwas deutsche Idealität leuchtete aus ihren grauen Augen und deutsche Bildung nistete auf ihren blassen Stirnen.

Wir wurden gute Freunde, sozusagen; zweimal flogen wir auch an schönen Sommersonntagen miteinander aus, und ich warf ein paar Blicke in die Welt der Schuster, in diesem gegen heut noch so kleinen, aber doch schon von der Großstadtglorie gekrönten Berlin. Auf dem Schusterinnungsstistungssest in der Hasenheide fand ich mich, wie es verabredet war, mit den beiden Mädchen und ihrer munteren Freundin zusammen; wir festmahlten (gut bürgerlich) und zogen miteinander herum – bis die vergnügte Feierstimmung des Abends an unserm Vierblatt zu zergehen drohte. Unter den zahllosen Jünglingen vom Handwerk entstand eine Art von Eifersucht auf mich, den Studenten, als den man mich erkannte (anfangs hatte mich einer gefragt, ob ich ooch Buchbindergeselle sei); es mißfiel offenbar, daß drei so angenehme und distinguierte Mädels unter meiner Fahne marschierten; es bildete sich ein bedrohlicher Kreis um uns. Meine Gefährtinnen beschworen mich endlich, mit ihnen davonzugehn, es gebe sonst ein Unglück. Ich, dem es ein gewisses Vergnügen machte, so beneidet zu werden, und der es doch mit einem Hundert entrüsteter Gesellen nicht aufnehmen konnte, gab den erblaßten Mädels nach, und wir wanden uns durch die fast schon handgreifliche[48] Menge hinaus, irgend einem neutralen Wirtsgarten zu, wo wir weiterfeierten, bis die Nacht uns trennte.

Der zweite Ausflug war friedlicher, da hier statt der streitbaren Jugend die reife und nicht mehr evatolle Mannheit mitzog; Familienväter (lauter Schustermeister) mit den Ihrigen, darunter auch mein Wirt und seine lessingsrommen helläugigen Töchter. Wir pilgerten durch den Grunewald – damals noch romantisch fern, einsam, feierlich – zur Havel, nach Pichelsberge, wo man im Grünen, am Wasser sich idyllisch vergnügte; fuhren zum langgestreckten Pichelswerder hinüber, und an einer langen Tafel in einem sonst leeren Saal reihten wir Mannsbilder uns und ließen unter mannhaften Reden und Berliner Witzraketen einen mächtigen Kristallpokal kreisen, den der Wirt mit dem Nationalgetränk, der »kühlen Blonden«, gefüllt hatte.

Ich war als Student der Jurisprudenz nach Berlin gekommen, blieb es aber bald nur dem Namen nach; Geist, Seele, Herz widerstrebten mehr und mehr, ich floh zur Kunst, zu den Dichtern und zur Philosophie. In der schnöden und zähen Glut dieses Sommers – es gab Nächte, in denen ich nackt und unbedeckt im Bett, auf dem Sofa, auf dem Fußboden nicht ein Auge voll Schlaf fand – in der tropischen Luft meines Zimmers stürzte ich mich in Hegels Werke, den Spuren meines ihm getreuen Vaters folgend, und füllte mei nen heißen Kopf so lange mit Begriffen, Schlüssen und Problemen an, bis er sich wie von Wüstensand überschüttet fühlte. Nach Tische wanderte ich durch die[49] glühenden Straßen zu Lepsius, der über ägyptische Kunst und Geschichte las und mir gab, was ich vor allem begehrte: Anschauungsunterricht im Ägyptischen Museum. Ich suchte Goethe, Schiller, Shakespeare im königlichen Schauspielhaus, fand sie aber selten; nur Dessoir und Döring nahmen mich gefangen, andre spielten mich sogar aus dem Faust hinaus; es ward auch hier, wie in meiner Vaterstadt, mit Wasser gekocht. Aber »Menschen! Menschen!« Mehr als alles begehrte ich Menschen, wie ich sie daheim vergebens ersehnt hatte, Menschen der Großstadt, der Welt, des Geistes, von denen ich leben lernen, an denen ich wachsen und werden konnte.

Sag' ich es nur gleich mit dankbarer Seele: dieses mein Urverlangen ward mir so erfüllt und gesegnet, wie ich's wünschen konnte; nichts hat mir das Leben so reich vergönnt. Überall an meinem Weg stehen rechts und links freundliche Gestalten, Bildner, Führer, Gefährten, Freunde, Herzenskameraden. In diesem Berliner Sommer begann es; die folgenden Jahre setzten das Liebeswerk fort, als hätten sie darüber einen Bund geschlossen. Und nun, da die letzten, die weißhaarigen Jahrzehnte kommen, schiebt mir noch immer eine unsichtbare Hand liebe, jugendvolle, nachwachsende, herzenswarme Gestalten zu, mit denen ich weiter werde – denn das darf nicht enden –, an denen ich mich bilde und forme, denen ich dafür von dem Meinen gebe, um redlich zu zahlen.

Es begann mit einem Übergang: nach allerlei Bekanntschaften, die meine Seele nicht nährten, fand ich meinen schon angefreundeten Landsmann Gustav[50] Eggers wieder, einen jungen Komponisten, der leider von schwacher Gesundheit war und einem frühen Tod entgegenreiste. Er trug mir sein weiches Herz warm und offen zu, und in jugendlicher Kunstbegeisterung trafen wir einmütig zusammen. Zum Glück hatte er eine unglückliche Liebe, die ihn lyrisch emporhob und ihm zu den tragischen Liedern der Dichter Melodien gab. Ich seh' ihn noch, wie er am Klavier das von ihm vertonte »Mit schwarzen Segeln segelt mein Schiff« kummerselig sang, in wild schmachtender Schwermut schwelgend, daß die horchenden Wände tremolierten...

Ihm verdankte ich übrigens die erste wirkliche Kunstbelehrung in Berlin: ich hatte bereits begonnen, die volkstümlichen Liebigschen Symphoniekonzerte zu besuchen, meine Wonne, die hohe Schule meiner Laienohren, vielleicht das wertvollste aller Bildungsmittel, die mir Berlin damals gab; »Gusch« Eggers schloß sich mir an und brachte, so oft er konnte, in die Konzerte Partituren mit, die er mir erklärte, in denen er mich auf meine Weise mitlesen ließ. Ich, der ich die Noten nur oberflächlich kannte (obwohl ich viele Seiten voll als Knabe für meine älteste Schwester abgeschrieben habe), ich blickte doch wenigstens mit lernbegierigen Augen in die großen, kunstreichen Gebilde der Orchestermusik hinein, die an die dramatischen Kompositionen des Dichters mannigfach erinnern. Unterdessen kam die Zeit heran, wo der viel ältere Bruder Friedrich Eggers, Kunstprofessor an den drei Berliner Akademien, von langer Entfernung heimkehrte und ich in ihm den ersten dieser Menschen kennen[51] lernte, die ich mir für meinen Werdeweg vom Schicksal gewünscht hatte.

Ein Mensch wie Friedrich Eggers ist schwer zu schildern; in meinen »Wiener Erinnerungen« hab' ich es in Kürze versucht, in meinem Buch »Fridolins heimliche Ehe« ist er zur redlich treu gemalten Romangestalt geworden; immer droht aber die Gefahr, daß er, den gleichsam ein Geranke von Drolligkeiten umwucherte, bei noch so liebevoller Darstellung etwas zu lächerlich wird. Er war aber in seiner irisierenden Vielfarbigkeit zugleich ein rührender Mensch, von unerschöpflicher Güte, für unzählige Jünglinge und Jünger, die ihm als ihrem Meister anhingen, in selbstlosester und reinster Weise mütterlich-väterlich; denn die weiblichen und die männlichen Eigenschaften in ihm waren nicht zu trennen. Ich glaube, alle diese Jünger – »Leibschwaben«, wie der Humor sie nannte – haben an ihm gehangen bis zu seinem, leider grausam vorzeitigen Tod. Er blieb jung bis zuletzt, weil er eigentlich nichts als Begeisterung und Liebe war. Als Dichter in hochdeutscher und plattdeutscher Sprache ist er nicht »durchgedrungen«, wie man sagen muß, auch hat er als Lyriker nicht neue eigene Töne gefunden; aber in seinen sinnigen, plaudernden, erzählenden plattdeutschen Gedichten (»Tremsen« heißt die Sammlung, und »Kornblumen« bedeutet das Wort) ist er auch geworden, was er im Leben war: ein Original, und eine Dichtung wie »Pultawa«, voll schlicht tiefsinnigen Humors, würde jedes Mustersammelbuch schmücken.

Friedrich Eggers hatte in seinen Studentenjahren[52] die Vorlesungen meines Vaters besucht und sich ihm in warmer Verehrung angeschlossen; von ihm hatte er sich auch beim Scheiden einen Wahlspruch ausgebeten und die beiden Worte: »Nur anfangen!« in sein Petschaft graben lassen; man las sie bei ihm auf jedem Brief. »Nur anfangen, dann findet sich's!« So ungefähr hatte es mein Vater gemeint. Da aber »Friede« (wie ich ihn nannte) in seiner Lebhaftigkeit so manches unternahm, das er nicht zu Ende führte, so spottete ich seiner, als unsre Freundschaft spottreif geworden war: »Du hast meinen Vater prächtig mißverstanden, Friede! In deinem frommen Sinn liesest du die Worte so: Nur anfangen, nicht fertigmachen!«

Ich war viele Jahre jünger als er, und damals noch ein grüner Student; aber wir wurden bald wundergute Freunde, und – wie soll ich es sagen – der Unterschied der Jahre verging. War ich durch seinen Bruder ein wenig tiefer in die Musik hineingekommen, so kam ich durch ihn in die bildenden Künste, deren Geschichte er lehrte und die seine Zimmer, seine Wände füllten. Er hatte weniger tiefe als warme Augen, ihn begeisterte mehr das Liebliche, Anmutige, Rührende als das Gewaltige und Erhabene; aber sein Schönheitssinn war leicht erregt und fand frische Worte, heitere und ernste. Mit ihm war gut streiten; was die Jugend braucht. Und als Schutzwächter vor zu bösem Streit stand der Dritte da, der uns beiden Freund war, der Mecklenburger Humor.

Es dauerte nicht lange, so mußte ich schon sein Gast sein, wochenlang bei ihm wohnen; mit einer großen Reisetasche, in einer Droschke zweiter Klasse,[53] »reiste« ich zu ihm, in die Hirschelstraße, die jetzt Königgrätzerstraße heißt. An diesen heißen Sommertagen lernte ich von ihm früh aufstehen, in der lieblich frischen Morgenwärme wanderten wir oft nach Schöneberg hinaus – damals noch nichts als ein Dorf »da draußen«; kein Schöneberger Bauer ahnte, daß in seinem Acker eine Million steckte, die das sich wild dehnende Berlin ihm eines Tages auf den Tisch legen werde. Das einzige Wirtshaus im Dorf hatte einen Garten, in dem sich unter schattenden Bäumen herrlich frühstücken und dichten ließ; denn Friedrich Eggers arbeitete damals an einer Umdichtung von Shakespeares Macbeth in einen Operntext für Meister Taubert, und ich mußte helfen. Mir erschien das eigentlich als eine Gemeinheit, eine Tempelschändung, Shakespeare umzudichten; aber mit dem Leichtsinn des Studenten, des Freundes fügte ich mich und reimte mit. So saßen wir da stundenlang in der guten Bauernlust und hörten die Vögel singen und schändeten den Britten.

Und der Dichter Adolf Wilbrandt? der Dramatiker? der Hochstrebende? – Der war jetzt in Berlin, um die Welt zu sehen und sie zu erkennen. Und wenn ich mir wohl einmal auf meiner »Bude« in den langen Haaren wühlte, weil die Muse nicht kam, mir die Stirn zu küssen, dann lullte mich etwa ein, daß das Ziel ja doch unerreichbar war, das ich als Rostocker Primaner in einer Schulstunde aufs Papier geträumt hatte:


Ich weiß ein Ziel, wohl riesengroß,

Für einen riesengroßen Mann,

Der in der Musen reinem Schoß[54]

Die Himmelsspeise sich gewann,

Der, aufgenährt mit Göttermark,

Die Welt beherrschte still und stark.

Shakespeare und Sophokles zu einen,

Die höchste Kraft, das tiefste Maß,

Wovon Weltmutter je genas,

In sich, dem unbegrenzten Einen –

Wer das erreicht' in ird'schen Zeiten,

Dem zeugte kein Geschlecht den Zweiten!
[55]

Quelle:
Wilbrandt, Adolf: Aus der Werdezeit. Erinnerungen. Neue Folge, Stuttgart, Berlin 1907, S. 43-56.
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