V

Hans Kugler. Das Kuglersche Haus; Frau Klara. Die Freunde des Hauses. Fontane und Roquette, die Franzosen. Bruder Heinrich. Mein erster Ball. Kulgers Tod

[56] Das größte Ergebnis meines Berliner Studentenjahres ist mein Bekanntwerden mit dem Kuglerschen Haus. An diesem Haus führt fortan mein Werdeweg, gehend und kommend, immer wieder vorbei; er führt durch das Haus hindurch, er findet darin seine Ruhestatt und ein allerschönstes Ziel. Franz Kugler, der Kunstgeschichtschreiber und Dichter, hatte es mit Klara Hitzig gegründet; einer idealen Ehe waren drei edle, schönbegabte Kinder entsprossen, die Tochter Margarete hatte sich mit dem jungen Dichter Paul Heyse vermählt, der ältere Sohn Bernhard studierte in München Geschichte, Hans, der jüngere, lebte bei den Eltern. Mit diesem Hans führte mich mein gutes Geschick zuerst zusammen; in einem Wirtsgarten in der Stadt lernte ich an einem Sommerabend den langaufgeschossen schmächtigen Jüngling kennen – eben erst siebzehn Jahre alt, aber ein frühreifes Großstadtkind – und in der ersten Stunde gewann ich ihn lieb. Ihm erging es ebenso. Es ward im nächsten Winter eine Freundschaft daraus, wie ich keine zweite[56] mehr gefunden habe; es war die schönste Wahlverwandtschaft, mit immer nur erfrischenden Gegensätzen gesehniückt. Über dreißig Jahre schon lebt er nun nicht mehr, die rätselhaften Nervenleiden, die ihn schon damals ergriffen hatten, haben ihn früh ins Grab geschickt; wenn ich aber sein Bildnis sehe, von ihm selbst gemalt, das neben meinem Schreibtisch auf der Staffelei steht – eben schau' ich's an; die blauen Augen durchdringen mich, der zart rötliche Bart und die durchgeistigten Züge leuchten, von seinem geliebten roten Feß hängt die dunkelblaue Quaste in die schöngewölbte Stirn – wenn ich ihn so sehe, dann ist er doch wohl nicht tot. Eine künstlerisch begabte Freundin hat mir einen Rahmen um das Bild geformt, ihn mit Lorbeeren und Symbolen geziert; »Die Toten leben« steht darunter, der Titel einer meiner noch ungedruckten Bühnendichtungen. Ja, die Toten leben! Vierunddreißig Jahre werden's, seit er mir gestorben, und er lebt in mir allgegenwärtig wie ein Unsterblicher fort.

Gestatte man mir, ein paar Sätze aus der Biographie meines Hans hier zu wiederholen, die ich nach seinem Tode schrieb; wie wir in diesen ersten Zeiten miteinander lebten, davon geben sie in der Kürze ein getreues Bild. »Wir waren jung, überschwenglich, nach Unerhörtem dürstend, mein Gesundheitsübermut, den er neidlos trug, riß seine schwächere Lebenskraft mit fort; der steifen Berliner Sitte trotzend, langhaarig, in ungewohnten Kostümen trieben wir uns auf dem Eis, im Tiergarten, in den Straßen umher, oder erweiterten uns unsre engen Zimmer zu einer von Träumen und Hoffnungen erfüllten Welt. Mit stiller,[57] liebenswürdiger Verwunderung sah er mir zu, wenn ich etwa bei ihm eintretend, vom Überschuß der Jugendkraft umhergetrieben, in verrückter Laune mit dem Kopf gegen seine Wand fuhr; oder wir streckten uns in der Abendstille auf seinem Sofa, auf Stühlen, auf dem Fußboden aus, drückten die Augen ein, und den Gesang der verschiedensten Vögel sehr lieblich nachflötend täuschte er mich und sich in den Wald, in den Frühling, in ein Märchen hinaus.« Seine geheimnisvoll zarten, leichtverstörten Nerven, die im Lauf der Jahre wie dämonisch begabte Komödianten alle Rollen spielen sollten, hatten ihn zuerst augenkrank gemacht; der berühmte Gräfe hatte aber bald erkannt, daß das nur Nervenspuk sei, und bei möglichst gesunder Lebensweise war der Spuk vergangen. Um die Augen zu schonen, hatte Hans aber inzwischen die Schule verlassen und mit einem Privatlehrer hauptsächlich zoologische Studien betrieben, für die er Neigung und Begabung fühlte. Sein tiefstes Herz hatte er noch nicht entdeckt, sich noch nicht der Malerei ergeben, an der er später so selig-unselig sich verbluten sollte; er konnte aber doch schon ohne Kunst nicht leben, die in seinem Vaterhaus die Luft erfüllte. Wir gerieten auch in die Gesellschaft eines vielversprechenden Malers, Franz Meyerheim, der in der Folge hinter seinem jüngeren Bruder Paul zurückblieb und zuletzt in geistiger Umnachtung verging. Auch befreundeten und verbrüderten wir uns mit dem jungen Kunsthändler Amsler, der damals emporkam, dessen Name jetzt nur noch in der Kunsthandlungsfirma Amsler und Rudhart lebt. Amsler war eine nicht gewöhnliche[58] Mischung: Schweizer und Idealist; es tat ihm oft sozusagen körperlich weh, wenn er eines der schönsten, gehätscheltsten Kunstblätter verkauft hatte. Seine Stärke waren Kupferstiche, seine Liebe Madonnen; wir nannten ihn deshalb den Kupfergreis und Madonnenpietsch. Auch bei ihm hab' ich zuweilen nach sinnig heiteren Abenden übernachtet; das gefiel seiner Gemütlichkeit und meinem Zigeunersinn. Seine Wirtin war eine quecksilberne, noch jugendlich blühende Frau, die sieben Lungenentzündungen hinter sich hatte; sie erzählte es aber mit lachendem Mund. An wie vielen anderen sie sich seitdem noch verjüngt hat, hab' ich nicht erfahren.

Doch nun kam der Tag, an dem ich durch Friede Eggers auch das Ehepaar Franz und Klara Kugler kennen lernte; und bald begann für mich die poesievollste Zeit: das Mitleben in Frau Klaras Haus. Ihr Haus war es wohl zu nennen, ihre grundgütige Anmut und Holdseligkeit war die Sonne drin; der Gatte, in Arbeit aller Art vergraben, zeigte oft nur sein prächtiges, geistverklärtes Mondgesicht und verschwand dann wieder hinter seiner Wolke. Neben seinem rastlosen Schaffen hatte er als vortragender Rat im Kultusministerium die erste Stimme in allen Kunstangelegenheiten; vielleicht war dieses zehrende Doppelleben als Gelehrter und Beamter die Urquelle der Erkrankung, die ihn im nächsten Jahr so plötzlich und rasch dahinraffen sollte. Er erschien aber immer blühend, heiter, herzlich, mitgenießend, recht von Glück und Segen umringt. Eine bessere Gefährtin hätte er wohl auch in aller Welt nicht gefunden; Frau Klara, aus Romantik und Weltverstand, Warmherzigkeit und Tüchtigkeit[59] wundervoll gemischt, wandelnde Poesie, zur Liebe und zur Treue geschaffen, dazu von unvergänglicher Jugend und Schönheit, konnte nur beglücken. Mir jungem Fant, dem neuen Freund ihres Sohnes, kam sie in all ihrer schlichten Anmut mütterlich entgegen; und wie sie nur beglücken konnte, konnte man sie nur lieben; wie ich etwas später nach Hause schrieb: »Man liebt sie gleich, ohne das Übergangsmoment der Achtung.« Nach Jahren inniger Befreundung schrieb ich in einem Gedicht an sie:


Ja, so irrt' ich einst an deine Schwelle,

Und aus deinen Augen drang mir helle

Bis ins Herz der Sterne Wunderpracht!

Und der Leitstern wardst du meiner Nacht;

Legtest mildernd deine Hände

An mein finster niederwallend Haar,

Brachtest an der Grazien Altar

Meines Herzens wilde Fackelbrände

Anmutvoll zur Opferflamme dar.

Lehrtest mich, wie ich dich selber fände,

Deines Herzens treue Zärtlichkeit,

Deiner Liebe mütterlich Geleit,

Holde Zuflucht nach geschäft'ger Plage,

Flücht'ge Freuden für die kurzen Tage,

Ein Vermächtnis für die lange Zeit.


Ja, ja, ein Vermächtnis, da sie – nun so lange schon, ebensolange wie ihr Benjamin – unter der Erde ruht. Sie hat mir nicht wie der Benjamin ihr Bild auf die Leinwand gemalt, aber ins Herz!

In diesem Haus lernte ich nun eine lange Reihe[60] begabter Männer aus der Kunstwelt kennen, alte und junge, berühmte und emporstrebende, für mich eine Welt. Von den älteren will ich hier nur den großen Adolf Menzel nennen, Hermann Weiß, den berufensten Kenner der Kostümkunde, die Architekten Hitzig (Frau Klaras Bruder) und Strack, beide noch aus Schinkels Schule, beide sein, geschmackvoll, fruchtbar; nur die Siegessäule auf dem Königsplatz ist dem guten, unkriegerischen Strack leider nicht geglückt. Unter den jüngeren hatte Otto Roquette sich schon seinen Dichternamen gemacht, Fontane war noch so recht im Werden, mit seiner großen Zukunft noch unbekannt; als Kunsthistoriker blühte eben Lübke auf, Lucae als Architekt, Friedrich Eggers als Kunstschriftsteller und Herausgeber des »Deutschen Kunstblatts«, zu dessen Mitarbeitern er auch mich grünen Jungen einspannte. Diese alle lebten in guter Freundschaft miteinander, und wie das Kuglersche Haus wohl als ihr Hauptquartier gelten konnte, so stand auf ihrer Fahne: Humor. Sie dichteten, sie sangen, sie kalauerten Humor; sie entluden ihn auch besonders gern in Gelegenheitsgedichten, so bei Kuglerschen und anderen Festen. Das schönste Feuer und die blühendsten Einfälle hatte dann Theodor Fontane; auch sein schwungvoller Vortrag war siegreich, und seinem ausdrucksvoll mitredenden, schön niederhängenden Schnurrbart kam kein anderer gleich. Als Schauspieler – bei Kuglers ward auch Theater gespielt – war wohl Roquette den andern überlegen; auch Eggers stand seinen Mann, wie er denn auch Arien, Duette, Lieder aus älteren italienischen[61] oder deutschen Singspielen mit feinster humoristischer Grazie sang. Es gab ein gemeinsames Schlagwort unter diesen Freunden, um einander auf der Straße auf einen Vorübergehenden aufmerksam zu machen, der des Hinschauens wert war: »Look at him!« sagten sie rasch halblaut, oder »Look at her«, wenn's ein weibliches Wesen war. Daraus bildeten sie Eigenschaftswörter: wer geschwind angeschaut zu werden verdiente, war lookathimable oder lookatherable, je nach seinem Geschlecht. Und aus den Eigenschaftswörtern erwuchsen, unverkennbar organisch, die lookathimability und die lookatherability.

Daß zwei von ihnen, wenn auch in Deutschland geboren, von französischer Rasse waren: Fontane und Roquette, weiß ja jedermann; es stand ihnen auch ins Gesicht geschrieben, und der kleine Roquette, der lange Fontane zeigten es auch noch in der Art, wie ihr Körper lebte. Wunderlich aber und denkwürdig ist, wie diese beiden und mit ihnen der dritte Franzose unter unseren Dichtern, Chamisso, gar ein in Frankreich geborener, wie sie alle drei sich ins Allerdeutscheste hineingedichtet haben: Roquette in »Waldmeisters Brautfahrt«, Fontane in seinen preußischen Heldenliedern (die »Wanderungen durch die Mark Brandenburg« nicht zu vergessen), Chamisso in »Frauen-Liebe und Leben«, das in jedem deutschen Mädchenherzen neu geboren wird. Bedenkt man das, so sollte man meinen, daß die »Rasse« viel weniger bedeutet, als man gemeiniglich annimmt, und viel leicht das Wichtigere die Umgebung ist. Oderhätte in diesen Dichterseelen altes fränkisches, deutsches Blut gelebt, das durch alle Verwelschung[62] hindurch einen Teil seiner magischen Rassenkraft behalten und in deutscher Luft frisch entfaltet hätte?

Im Sommer dieses Jahres 1857 hatte ich mein Zimmer am Tierarzneischulgarten allein bewohnt; im Herbst, für das Wintersemester, brachte ich meinen älteren Bruder Heinrich mit, der als Studiosus der Medizin dem letzten Examen entgegenging und den ich bei der Finanzkraft meiner Stipendia einladen konnte, diesen Winter mein Gast zu sein. Das Zimmer ließ sich ohne Schwierigkeit dehnen: unter mein Bett ward eine Matratze geschoben, die man am Abend hervorzog und auf der ich schlief. Mein Bruder, einer der liebenswürdigsten Menschen, war der beste Stubenkamerad, den ich wünschen konnte; dazu sang er gern, und ich hörte ihn gern; auch brachte er eine Gitarre mit, auf der er seinen warmherzigen Vortrag stimmungsvoll begleitete, und die uns das häusliche Klavier angenehm ersetzte. Später fiel uns ein, zusammen zu singen, was im Grunde ruchlos war, da meine Stimme und meine Kunst so tief unter der seinen standen; wir halfen uns durch studentischen Unsinn, indem ich im Baß die Melodie, er in seinem edelweichen Bariton die zweite Stimme sang.

Er besuchte die Kliniken der großen Meister und lernte viel; einmal verlockte er mich, mit dabei zu sein, es ging aber fast übel aus, und das Wort »übel« muß man wörtlich nehmen. Die Vorstellung fand unglücklicherweise gleich nach Tische statt; oben auf der Höhe eines menschengefüllten Trichters saß ich neben ihm und sah auf einen halberwachsenen Jungen hinab, der da unten lag, gründlich operiert ward und im Chloroform-[63] oder Ätherrausch burlesk-kannibalisch stöhnte. Die jungen Mediziner hörten nur das Burleske, die Korona im Trichter lachte heiter; ich aber, in dieser dunstig dicken Luft, nach Tisch, das ungewohnte Bild da unten in den heißen Augen, das Gelächter im Ohr, bekam ein so seekrankes Gefühl, daß ich leise aufstand, meinem Bruder zunickte und verschwand. Ich kann nicht sagen, wie viel besser mir draußen wurde. Dann doch noch lieber den »Faust« im Königlichen Schauspielhaus! dacht' ich; und die Lehrsäle der großen Chirurgen hab' ich nie mehr betreten.

Wie brüderlich wir übrigens lebten, zeigt wohl folgender Fall, in dem mir Bruder Heinrich seine Hälfte unseres Fracks zur Verfügung stellte, damit ich Fräulein Jeannette Baeyers Hausball mit meiner Gegenwart schmücken könnte, wie von mir verlangt ward. Jeannette oder Nette war die Tochter des gelehrten Generals Baeyer, des Begründers der europäischen Gradmessung, und Nichte der Frau Klara Kugler; die beiden Familien wohnten in demselben Haus, Kuglers oben, Baeyers unten. Sie taten sich zusammen, als die achtzehnjährige Nette ihren ersten Ball geben sollte: oben ward getanzt, unten ward gegessen; und zu beidem ward auch ich befohlen, obgleich ich noch nicht meine Pflicht erfüllt, mich in die schöne und kluge Nichte noch durchaus nicht verliebt hatte. »Frau Klara,« sagte ich, »Sie verlangen Unmögliches! Ich bin kein Tänzer, ich mochte nie, hab' es nie gelernt, werd' es niemals lernen.« – »Tanzen Sie denn gar nicht?« – »Wie ein Turner, aber nicht wie ein Mensch!« – »Das tut nichts,« sagte Frau[64] Kugler mild (»Du bist wie eine milde Sternennacht«, hatte Franz Kugler sie als Bräutigam angedichtet); »Sie tanzen so gut Sie können und so viel Sie mögen. Sie können ja auch wohl einmal zum Plaudern engagieren. Haben Sie einen Frack?« – »O ja,« sagte ich stolz, »wir haben einen Frack; mein Bruder und ich zusammen. Da fehlt nichts. Aber eine ballmäßige Weste fehlt, und eine tanzfähige Krawatte.« – »Das leiht Ihnen mein Mann,« fiel mir Frau Klara ins Wort. »Wir werden Sie schon ausstatten. Kommen Sie gewiß!«

So war denn Nette Baeyers erster Ball auch der meine; ich bot meinen besten Galgenhumor auf und tat meine Pflicht. Ich sang Beethovens Adelaide, mein Lieblingslied, während nebenan Emilie, die Tochter meines Wirts, mir ein frisches Hemd bügelte; ich kleidete mich an und sang Figaros »Da, wo Lanzen und Schwerter schimmern«; ich fuhr in den Brüderfrack und rollte zum Trauerhaus. Zu Kuglers hinaufgestiegen, empfing ich von der Hausfrau Weste und Jabot, vollendete meine Ballrüstung und stürzte mich in den Saal der Gefahr. Die kleine Tanzkarte in der Hand (bei Gott, ich habe sie noch), suchte ich unter all den jungen Huldinnen die mir anempfohlenen edelsten und gediegensten auf, schilderte ihnen mit frecher Beredsamkeit die Vorzüge des Plauderns vor dem Tanzen, des Geistes vor dem Beinewerfen, ließ all meine verrückten Humore los (in denen Haus Kugler und ich damals Schreckliches leisteten), und hatte mehr Erfolg, als ich in all meinem Wagemut erhofft hatte. Während Haus der reizenden Agnes M., der Freundin seiner[65] Cousine, »Engel des Lichts« zuflüsterte, unterhielt ich mich mit meinen Tänzerinnen auf den schönsten Sesseln über »alles was Menschenbegehr«, sprach plötzliche Gedichte in Prosa mit und ohne Sinn, und sah zu, wie die Welt sich dreht. Meine Tänzerinnen nahmen mich hin, wie vom Mond gefallen. Ich wirkte, wie ein Unikum wirkt. Zuweilen wagte ich einen pflichtschuldigen Tanzversuch, etwa Zweitritt statt Walzer – auch vor Galopp und Polka fürchtete ich mich nicht – und kehrte nach einigen unerschrockenen Runden zur Unterhaltung zurück. Die holde Tante und die liebenswürdige Nichte stärkten mich dann und wann durch ein gutes Wort oder einen beifälligen Blick. Als endlich die Zeit des festlichen Mahls gekommen war, wanderte ich von Tisch zu Tisch, hier und da lustig angerufen, und schon ohne Wein im Rausch der Jugend, hielt ich Reden, Trinksprüche – Gott sei Dank, niemand weiß mehr, wie! Brächen sie jetzt plötzlich aus einem Grammophon hervor, ich möchte wohl vor Entsetzen in die Erde sinken.

Nun, auch das war Werdezeit. Bei Tag lebte ich dann wieder in den Tag hinein, den hell nüchternen, studierte Philosophie oder Kunst, schrieb meine ersten kleinen Versuche für Friede Eggers' Kunstblatt, ward von Paul Heyse aus der Ferne eingeladen, auch für sein eben übernommenes Literaturblatt zu schreiben; und hoffte, noch eine Weile in Berlin mein schön gemischtes Leben zu führen, statt, wie ich sonst gern geträumt, die akademischen Lehrjahre in der Hauptstadt Süddeutschlands, München, zu beschließen.

Der Mensch denkt, der Mann mit der Sense lenkt. Kaum saß ich in Rostock, für die Osterferien heimgegangen,[66] als, wie eine Bombe über den Berg, ein Brief von Hans Kugler kam: sein Vater nach kurzer Krankheit tot! Und nicht lange danach kam ein zweiter: wir Überlebenden bleiben nicht in Berlin, wir ziehen fort, nach München, zur Schwester, zum Schwager und zu ihren Kindern. Komm du auch! Komm mit! Du hattest es ja vordem gewollt. Laß nun unseren Schicksalsruf auch den deinen sein!

Ich zauderte nicht lange. Mir war, als zöge Berlin nach München, da mein Hans und Frau Klara zogen. Und wie vor einem Jahr alles in mir gerufen hatte: Auf nach Berlin! so rief's nun: Nach München![67]

Quelle:
Wilbrandt, Adolf: Aus der Werdezeit. Erinnerungen. Neue Folge, Stuttgart, Berlin 1907, S. 56-68.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Erinnerungen [Aus der Werdezeit]
Erinnerungen (Aus Der Werdezeit) (Sammlung Zenodotautobiographische Bibliothek) (Paperback)(German) - Common

Buchempfehlung

Wieland, Christoph Martin

Musarion. Ein Gedicht in drei Buechern

Musarion. Ein Gedicht in drei Buechern

Nachdem Musarion sich mit ihrem Freund Phanias gestrittet hat, flüchtet sich dieser in sinnenfeindliche Meditation und hängt zwei radikalen philosophischen Lehrern an. Musarion provoziert eine Diskussion zwischen den Philosophen, die in einer Prügelei mündet und Phanias erkennen lässt, dass die beiden »nicht ganz so weise als ihr System sind.«

52 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon