[129] Zehn Jahre waren vergangen seit jenem Abend, wo Luise allein geblieben war im Schloßgarten, allein auf der Welt. Sie lebte nicht mehr bei der Stiefmutter, die zu einer ihrer jüngern Töchter gezogen war: ein Legat des alten Onkels sicherte ihr eine bescheidene Unabhängigkeit, und sie wohnte nun bei Bruder Theodor, der seit einigen Jahren auch in den Hafen einer Pfarrei eingelaufen war.
Also doch in einem Pfarrhaus! Sie war dankbar dafür, und wenn sie auch die Verwaltung von Haus und Garten der rüstigen jungen Schwägerin überlassen mußte, so hatte sie doch im Dorfe ihren stillen Wirkungskreis, und der Bruder nannte sie im Scherz den Herrn Unterpfarrer.
Die Zeit und das Leid waren schonend über ihre Züge hingegangen, die Geduld hatte sich nach den schönen Worten des alten Liedes an ihr bewährt:
[129]
Als wie ein schönes Licht,
Davon, wer an ihm hanget,
Mit Gottes Hilf' erlanget
Ein fröhlich Angesicht.
Sie war nicht unterlegen unter der Wucht ihres Leides, und ehe sie angefangen, das Schicksal und den Geliebten ihrer Jugend anzuklagen um die zerstörte Saat ihrer Freuden und Hoffnungen, hatte sie ernste Rechnung gehalten mit ihrem eigenen Herzen. Was war es, das ihr jetzt die Stunden so lang und schwer machte, die Gegenwart freudlos und die Zukunft öde? was sie alle Abend wünschen ließ, einzuschlafen und nimmer aufzuwachen? War sie nicht nach wie vor das Kind des ewigen Vaters, dessen Tagewerk sie zu vollbringen hatte auf Erden, der ihr einen Trost gegeben hatte und eine selige Hoffnung? Was hatte ihr indessen die Mühe so leicht gemacht und die Arbeit so süß? War es der Aufblick zum Herrn der Ernte oder der Hinblick auf irdische Liebe und irdisches Glück? Sie erkannte die milde Vaterhand, die sie zu sich ziehen wollte, und haderte nicht mehr über den Weg, der sie zum rechten Ziel führen mußte; sie lernte sagen aus tiefstem Herzen:
Du bist's, der, was wir bauen,
Mild über uns zerbricht,
Daß wir den Himmel schauen –
Darum so klag' ich nicht.
Vor acht Jahren, als die Hochzeit Lehners in der Residenz gefeiert wurde, hatte sie eine Freundin dort besucht und in einer verborgenen Ecke der Kirche der Trauung zugesehen.
Sie sah zum erstenmal wieder ihre erste und einzige Liebe, Lehners kräftige männliche Gestalt, und an ihn gelehnt die schlanke zarte Braut in schneeweißen Gewändern, in silbergesticktem Schleier und Myrtenkranz.
Sie blickte ruhig hin zum Altare mit ihren stillen Augen, die Hände gefaltet. Kein innigeres Gebet um Segen für die Vermählten ist zum Himmel gestiegen als aus ihrer Seele, undkeines aus der Versammlung ist mit ruhigerem, friedevollerem Herzen nach Hause gekehrt als die einsame Luise.
So war sie denn keine schmerzumflossene Niobe; sie war die alte heitere Luise, fröhlich, gutmütig und selbstvergessen, dankbar für all die schönen Tage, die Gott sie hatte erleben lassen, die Hilfe aller Hilfsbedürftigen, die liebe, wenn auch oft mißbrauchte Tante der zwei kleinen Neffen.
Luise saß auch einmal wieder an dem runden Nähtischchen der seligen Mutter, das ihr mehr zu erzählen hatte als alle magnetisierten und klopfenden Tische: von den alten Tagen, wo sie als junges Mädchen dies werte Erbstück glückselig aus der Rumpelkammer geholt; wo später August mit seinem Pfeifchen neben ihr gesessen; wo sie aufblickend ihn hatte von fern durch die Kornfelder schreiten sehen; wo sie, an diesem Tischchen, in den Stunden stiller Arbeit allmählich er kennen gelernt hatte, daß Gott Gedanken des Friedens und nicht des Leides über sie gehabt, – oh, es war ein kostbares Tischchen, samt seinem Fachwerk mit Faden und Bändern und alten Knöpfen von verschiedener Gestalt und der runden Nadelbüchse von Buchsbaum, die ihr August einmal von dem Jahrmarkt mitgebracht!
Der kleine Gustav Adolf, der älteste Sohn und künftige Stammhalter des Geschlechts, kam die Treppe heraufgeklettert und rief: »Tante Uis!« und brachte ihr, stolz über seine Wichtigkeit, einen Brief. Das war eben nichts Seltenes. Luise, obgleich auch jetzt noch nicht stark im Briefschreiben, erhielt zuzeiten Briefe von allen Seiten, je nachdem irgendwo in der Familie eine Krankheit eingekehrt war, eine Kindtaufe, ein Umzug oder eine Reise der Hausfrau bevorstand, und man wußte unten fast gewiß, daß Tante Luise unmittelbar nach Empfang eines Briefes auf den Boden stieg, um ihren alten Lederkoffer hervorzusuchen und auszustäuben, und der Bruder pflegte sie mit der Frage zu empfangen: »Nun, wo ist's diesmal los?« Warum aber bewegte sie dieser Brief in so ganz andrer Weise? Warum stieg ihr das Blut in die Wangen und klopfte ihr Herz und zitterte ihre Hand so heftig, daß sie ihn[132] kaum öffnen konnte? Gustav Adolf, nachdem er vergeblich auf einen Botenlohn oder wenigstens auf Anerkennung von der zerstreuten Tante gewartet, war wieder hinabgeklettert und hatte sie verklagt: »Tante so bös, nix geben, nix g'sagt.« Etwas beunruhigt stieg der Bruder hinauf, um nach dem Inhalt des Briefes zu fragen. Luise hatte sich wieder gefaßt und bereits den Lederkoffer auf den Platz geschafft; der Brief lag offen auf dem Tischchen, und sie gab ihn mit tiefem Erröten dem Bruder zu lesen, während sie sich zu tun machte. Theodor las:
Ich habe kein Recht zu diesem Brief und der Bitte, die er enthält, als den Glauben an Ihre selbstvergessene Güte, die ich einst so vielfach erfahren.
Sie wissen, daß ich seit acht Jahren verheiratet bin. Meine liebe Frau, immer von zarter Gesundheit, ist seit einem halben Jahre ganz bettlägerig; meine Kinder sind ohne Mutter, mein Haus ohne Aufsicht, meine Frau ohne rechte Pflege. Wir haben es vielfach mit bezahlter Hilfe versucht, es geht nicht; und, liebe Luise, ich muß ganz offen gegen Sie sein, es ist auch fast unmöglich für unsre Verhältnisse. Da wage ich denn die Frage an Sie: Könnten, wollten Sie uns in dieser äußersten Not beistehen? Ich frage nicht, ob Sie vergeben haben, aber ich frage, ob Sie so weit vergessen können. O Luise! Leidenszeiten, wie ich sie schon durchlebt, sind strenge Richter vergangener Tage! Doch, ich will hier nichts als meine Bitte aussprechen, meine Frage wiederholen: Können, wollen Sie uns beistehen?
Ich will vom künftigen Sonntag an jeden Abend auf der Post zu K. nachsehen, ob Sie nicht da sind: ich kann nicht erwarten, daß Sie kommen, ich wage kaum, es zu hoffen, aber – ich glaube es.
In inniger Hochachtung
August Lehner.
[133]
»Und du willst gehen?« fragte heftig der Bruder. »Zu dem, der dich um deine Jugend und dein Lebensglück gebracht, und dem du jetzt gut genug bist zur Krankenwärterin und Haushälterin?« – »Ich will gehen zu denen, die meiner bedürfen,« sagte Luise sanft; »du weißt ja, wie ich über das Vergangene denke; und wenn er mir je Leides getan hat, soll ich Gott nicht danken, der mir vergönnt, ihm Liebes zu tun?« Luise blieb fest, trotz dem Widerspruch des Bruders und den Bedenken der Schwägerin, die sie kopfschüttelnd ziehen lassen mußten, mit dem Schlußurteil: »Man kann auch gar zu gut sein.«
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