Sturm und Fels

[84] In öder Nacht am Meeresstrand

Ein Fels gen Himmel dunkelt.

Er starrt ins lockende Wunderland,

Wo ein Stern, sein Engel, ihm funkelt.


Da kommt der Sturm dahergebraust,

Begrüßt von murmelnder Welle,

Und packt den Felsen mit rüttelnder Faust:

»Wach auf, verträumter Geselle!


Hast lange genug emporgeschaut

Mit ungetröstetem Harme.

Nun reiße vom Himmel die spröde Braut

In deine trotzigen Arme!


Schau her, wie man mit Bräuten tut,

Das tolle Sehnen zu stillen!

Hoiho, mein Lieb, du salzige Flut!

Ich pfeife, sei mir zu Willen!«


Und er stürzt der See an die wogende Brust

Und hält sie tanzend umfangen;

Sie windet die Glieder in jauchzender Lust

Wie rasende Riesenschlangen.
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Die Wirbelnde schlägt ihr nasses Gewand

An den Felsen mit frechem Spotte,

Und ach, der Stern, sein Engel, entschwand

Vor der wüsten Wolkenrotte.


Nun spüre, mein Fels, vom Taumel umtost,

Wie ein frommes Lied dich durchschauert:

»Halt aus! Es keimt ein heimlicher Trost,

Wo Treue in Trennung trauert.


Der heiligen Keuschheit bleibe geweiht

Die Liebe zur himmlischen Ferne!

Dann tragen dich Schwingen der Ewigkeit

Zum angebeteten Sterne.«

Quelle:
Bruno Wille: Der heilige Hain. Jena 1908, S. 84-86.
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