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[99] Über rußbestaubten Dächerwogen,
Straßendunst und dumpfem Werkgetose,
Über all dem bang beladnen Volke
Schwebt die Wolke
Blendend weiß/ wie eine Riesenwasserrose
Über schwarzem Moderkolke.
Und hernieder blickt die Reine
In den düstern Hof, wo zwischen Mauern,
Ungeliebt vom Sonnenscheine,
Ein gebeugtes Weib die Jugend muß vertrauern
Bei der Nadel fieberhaftem Rasseln.
Blasses Weib, erhebe dein Gesicht
Zu der Wolke hehrem Licht!
Und ihr Werkelmänner arbeitsheiß,
Laßt das Hämmern, laßt des Schwungrads Treiben!
Tretet an die trüben Werkstattscheiben,
Trocknet von der Stirn den Schweiß,
Andachtsvoll den Blick erhoben
Zu der weißen Wolke droben!
Alle, die durch graue Gassen
Grübelnd hasten und einander hassen
Um ein karges, hartes Brot/[100]
Die um armen Leibes Not
In das Morgen schaun mit Bangen/
Die gebrochen und verlassen
Hüsteln mit gehöhlten Wangen/
Die den Tod verzweifelnd suchen,
Oder hinter Eisenstangen
Schmachtend fluchen/
All die Fensteraugen jener langen
Häuserzeilen sollen aufwärts schauen
Zur verklärten Wolke.
Ruhevoll im wasserblauen
Himmel schwimmt das selige Eiland,
Blendend weiß
Wie ein Alpenberg mit keuschem Eis;
In den Tälern Hyazinthenfelder,
An den Hängen Apfelblütenwälder;
Alabasterne Paläste
Schimmern durch die rosa Äste;
Und auf sanften Taubenschwingen
Schwebt ein Klang wie Kindersingen.
Doch wo weilen sie, die auf den Himmelsthronen
Frei wie Götter wohnen?
Dort an weißer Hügel Rändern
Stehen sie in wallenden Gewändern[101]
Engeln gleich. Und sieh, die Einen
Hüllen ihr Gesicht und weinen,
Andre schauen starr und trauernd
Oft zusammenschauernd,
Wie entsetzt, hernieder
Auf der Weltstadt wüste Riesenglieder,
Die in Staub und Sünde angstvoll keucht.
Und in liebendem Erbarmen
Möchten sie die Stadt umarmen:
»Arme trübe Schwester, hebe
Deinen Blick zu uns und schwebe
Sehnsuchtsvoll empor/
Wie ein frisch erblühter Silberfalter
Sonnetrunken aufwärts fliegt,
Während grau und leer sein alter
Puppenschrein im Staube liegt.«
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