Einst

[21] Wie liegt die Welt in Regenfloren

So leichenhaft verloren!

Der Himmel grau und greise,

Die Erde runzlig greise;

Und beide weinen leise.

Vergilbter Rasen, Moderlaub,

Der Bäume schwärzliches Geäst –

So trüb verschwommen,

Gleich gramgetränkten Grübelein.

Mein Haupt ist öde wie im Herbst ein Nest,

Und auf dem Herzen preßt

Mir kalt und schwer ein Leichenstein. – –


Einst lieg ich steif und hager

Auf dem Totenlager:

All meine Weisheit ist alsdann

Ein Büschel Silberhaar,

Und all mein Lied

Ein reglos bleiches Lippenpaar;

All meine Liebe

Ein kaltes, starres Herz,

Und all mein Werk

Zwei schwere Hände auf dem starren Herzen

Fern stirbt der Straßenlärm, stumm schaun die düstern Wände

Auf meinen greisen Schatz,

Der leise schluchzt – in seine welken Hände.

Dann – kommt der Leichenmann,

Packt alles in den Sarg:[22]

Haare, Lippen, Herz und Hände,

Und preßt den Deckel fest mit knirschenden Schrauben.

Nun mag ich träumen

Im Finstern, Stillen, Kühlen ...


Und ich träume:

Ich bin ein zarter Keim

Und grabe heimlich feine Wurzeln,

Stemme mich rüstig wider die Krume

Und recke neugiervoll mein Köpfchen...


Da blendet und umspült mich

Entzückend goldnes Licht,

So lau, so weich!

Horch, wie jauchzend zwitschern

Die behenden Vöglein!

Mit ihren süßen Kehlen

Hüpft mein Kinderherz.

Und sieh, auf Zweigen sitzen

Viel kleine runde Knospen.

Ich nicke ihnen lächelnd zu;

Sie nicken wieder

Und wollen mit mir spielen.

Und wie wir spielen in warmer Sonne,

Da wachsen den lieben Kleinen

Lauter Flügelchen weiß und rosa,

Und zwischen Zweigen und Blättchen schweben sie,

Duftige Engelchenschwärme.

Quelle:
Bruno Wille: Einsiedler und Genosse. Berlin 1894, S. 21-23.
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