Jakobskindle

[38] Als wir mittags im »Lamm« eintrafen, empfing uns meine Mutter mit der Nachricht, unser Hausgerät sei auf dem Tübinger Bahnhof eingetroffen. Vollends atmete sie auf, als Vater über die Erfolge des Vormittags berichtete. Meine Mutter war fast ohne weiteres entschlossen, die Lustnauer Wohnung zu mieten. Ich sollte sie nach dem Essen hinführen, während Vater die Besorgungen auf dem Güterbahnhof zu verrichten hatte. In guter Stimmung setzten wir uns zu Tische. Die Kellnerin hatte in der gemütlichen Gaststube gedeckt. Zu lebhaft war's nebenan im Speisesaal; an langer Tafel schwadronierten da Studenten, die grünseidne Mützen hatten. Tafelgerät klapperte, man witzelte und lachte, und immer von neuem erscholl es: »Prosit!« »Gestatte mir!« »Ich komme nach.« – »Frankonen nennt der Wirt diese Studenten,« bemerkte die Mutter, »es muß eine wohlhabende Verbindung sein.« Und der Vater meinte: »Ja, diese Jugend läßt Gott einen guten Mann sein und fragt: Was kostet die Welt?«

Es war noch heiß, als die Mutter mit mir nach Lustnau wandelte. Die schmucken Häuser der Wilhelmstraße und die Universitätsgebäude beschwichtigten einigermaßen ihre Abneigung gegen Tübingen. Auch die schattige Allee gefiel ihr, aber den landschaftlichen Reizen, auf die ich hinwies, widmete sie nur flüchtiges Hinblicken. Ein schiefes Gesicht zog sie, als vor den[39] Lustnauer Bauernhäusern die Misthaufen erschienen. »Ach du lieber Gott! Der Geruch! Und die Fliegen!« Beruhigt wurde sie, als Kuttlers Häuschen mit dem Rosengarten erschien und dann die Wohnung einen leidlichen Eindruck machte. Fräulein Kuttler benahm sich gefällig, führte uns in die Laube und gab der Mutter Auskunft über Angelegenheiten des Haushalts.

Nicht lange, so erschien mein Vater. Einigermaßen erschöpft, jedoch in guter Stimmung. Der Möbelwagen, so berichtete er, werde in einer Stunde eintreffen, das Mobiliar habe er auf dem Güterbahnhof gesehen, es sei heil geblieben.

Jetzt lernten wir Frau Kuttler kennen. Eine angenehme, blonde Frau. Hainlins Jugendfreundin Rosel brachte Brotschnitten und einen Steinkrug mit Gläsern. Als sie die Platte auf den Laubentisch gesetzt hatte, machte sie einen schüchternen Knicks, und Frau Kuttler stellte vor: »Deescht also Rosel Funk, die Tochter von meim erschte Ma, Gott hab ihn sälik! Jetzt aber müsse die Herrschafte ebbes veschpere! Onsern Moscht versuche – ond's Luschtnauer Baurebrot, gelt?« Rosel füllte die Gläser und bot an. Ihre Stimme hatte einen weichen, tiefen Klang, hold war der warme Ausdruck der goldig-braunen Augen. Apfelmost hatten wir noch nie getrunken. Den Vater erfrischte das Getränk, ich fand es sauer, doch in Verbindung mit dem trocknen nüchternen Brote schmackhaft; übrigens kam ich allem Schwäbischen willig entgegen.

Peitschenknall und Hühruf. Ich eilte durch den Garten zur Straße. Vor dem Hause stand der Möbelwagen, und ich erkannte die alten Heimgenossen: den großen Kleiderschrank, den Mahagonitisch, das Sofa, dessen Seidenbezug unter einer Linnenhülle hervorlugte. Meiner Mutter fiel ein Stein vom Herzen, als sich die Sachen unbeschädigt erwiesen. Beim Abladen half ich mit Feuereifer. Aber als mich die Mutter mit[40] einem Spiegel auf der steilen Treppe sah, untersagte sie mir solche Betätigung.

Ich ging wieder zur Laube und fand einen Knaben mit dem übriggebliebenen Most beschäftigt. Da er Fräulein Kuttler ähnlich sah, fragte ich: »Ist Herr Kuttler dein Vater?« Er nickte, wir streiften einander mit Blicken. Er war in meinem Alter, klein und zierlich, ein Krauskopf, mit einem Zug von Wildheit im hübschen Gesichte. »Du gehst auch ins Gymnasium?« fragte ich. – »Freili! In die fünfte Klass.« – »Famos! Dann gehen wir zusammen.«

»Wie heißt du mit Vornamen?« fragte ich weiter. – »Enzio!« Ich musterte ihn von neuem: »Das klingt romantisch! Hieß nicht wer im Mittelalter so?« – Er suchte seine Gestalt zu recken: »Könik Enzio, der Hohenstaufe. In der Alb drüben ischt die Stammburg. Die Staufe sind die beschte Kaiser gwä. Aber dem Enzio hänt die Italiener den Kopf abgschlage, die Ssaukerle miserable! Mei Mueter sälik hat e Gedichtle gwußt: Könik Enzios Tod – das fangt ahn: ›O Könik, schöner Könik mit deinem goldnen Haar‹. Drum hat sie mi Enzio gheiße.« – »Du hast aber dunkles Haar.« – »Von meim Vatter! Mei Mueter ischt blond gwä – ond i han als Milchkindle goldige Häärle ghätt. Zu de Germane ghöre mir Schwabe. Drum, wenn i Student bin, geh i zu dene Schwabe! Suevia sei's Panier! Schwarz-weiß-rot – kneipe tun's beim Müller.« – »Was willst du studieren?« – Er stutzte und schien unsicher, antwortete aber stolz: »Staatskarriär!«

Unvermittelt kam nun sein Vorschlag: »Ganget mer fechte!« – »Fechten?« fragte ich verdutzt, hielt es aber für angebracht, selbstbewußt fortzufahren: »Natürlich! Fechten wir!« Er eilte ins Haus und brachte ein paar Ledermappen, wie sie Studenten für ihre Hefte haben. Wir begaben uns nach einem entlegenen[41] Teil des Gartens. Den Rasen beschatteten breitwipflige Apfelbäume. Dran hingen Aepfel, daß die Aeste mit Stangen gestützt werden mußten. Ein Schuppen war da, für leere Kisten und Tonnen. »Deescht onser Paukbode! Da hoscht dei Schlägerle!« Er gab mir eine der Mappen in Form einer Rolle. Die andere Rolle nahm er wie einen Säbel in die Faust, hob den Arm zur Fechtstellung und tat etliche Lufthiebe.

»Erst mußt du mir zeigen, wie ihr in Tübingen fechtet,« bemerkte ich etwas kleinlaut. »In Magdeburg hatten wir diese Waffe nicht.« – »Mr hänt dees von dene Schtudente glernt,« erwiderte er stolz. »I han schon richtige Mensure ghätt. Komm daher! Dei Fechtmeischter bin i.« Und er machte mir vor, wie man mit dem Rapier auslegt, um dem Gegner eine Hochquart zu versetzen oder eine Terz. Ich ahmte alles nach, und bald traute ich mir zu, einen Waffengang mit Enzio zu bestehen. Wie die Wilden hieben wir aufeinander los, und bald knallte ein Durchzieher auf meine Backe. – Allmählich begriff ich, worauf es ankommt – ich erfand sogar einen Kniff: Wie zur Quart ausholend, kehrte ich die Waffe blitzartig zu einer Terz, und jedesmal erhielt Enzio einen schallenden Hieb. Er behauptete zwar, dees seien »Ssauhieb«, war aber außerstande, mich zu überzeugen, daß meine Finte inkommentmäßig sei. Ihm an Armlänge überlegen, brachte ich seinem dunklen Krauskopfe immerfort Hochterzen bei. Fuchsteufelswild warf er seine Waffe weg.

»Derf mer mitmache?« sagte eine tiefe Stimme. Es war ein stattlicher Knabe, sonnenverbrannten Gesichtes. Freundlich blitzten die wasserblauen Augen. Vom blonden Kopfe nahm er die grüne Schülermütze, warf sie auf den Rasen und bückte sich nach Enzios Waffe. Ich hielt es für passend, dem Ankömmling Bescheid zu tun, und rasch waren wir zwei Kampfhähne. Hier[42] hatte ich den Meister gefunden und erhielt Schmiß auf Schmiß, bis ich meine Waffe streckte. Der Schüler hieß Schmidt und wohnte in Lustnau. Er war uns eine Klasse voraus, bereits konfirmiert.

Sich in die Brust werfend, fragte Enzio, ob ich rauche. Was ich verneinen konnte, seit mir Onkels Tabakspfeife, die ich neugierig versucht hatte, übel bekommen war. »Aber i,« sagte Enzio. »Gänget mer zom Tempel! I hol den Schlüssel.« Was er mit dem Tempel meinte, verstand ich nicht. Schmidt erklärte, es sei eine Scheune, von Enzios Vater werde sie benutzt zum »Stondehalte«. Es stellte sich heraus, das Stundenhalten sei eine Andacht der Separatistengemeinde, unter Führung unseres Hauswirts Kuttler. – Den Schlüssel des sogenannten Tempels hatte Enzio geholt und führte uns durch eine Lücke des Gartenzauns zum »Tempel«, zu jener Scheune. Der spärlich erhellte Raum sah aus, als solle hier Puppenkomödie sein. Bänke für ein Schock Leute, eine Bühne mit Vorhang. Dahinter verschwand Enzio – ich fragte Schmidt, was es denn nun gebe. »Blödsinn!« raunte er; »aber mer derf's net laut sage. Wirscht glei sehe! Grad tut dr Enzio den Spiegel richte. So Theater ghört zom Gootesdinnscht der Separatischte.«

Indem scholl ein Glöckchen, der Vorhang ging nach beiden Seiten voneinander, und, von Oberlicht bestrahlt, war etwas auf dunklem Grunde wie ein lebendes Bild, aus Puppen zusammengestellt. »Der da im roten Rock,« erklärte Schmidt – »deescht der Erzvatter Jakob – er schläft – und rings ischt all's Wüschte ond Felsen.« Ich nickte, mir gefiel das abenteuerliche Bild – und nun wurde mir auch klar, daß die goldene Strickleiter mit weißgekleideten Flügelengeln die Himmelsleiter vorstellt, die Jakob im Traume sieht. Ich erfuhr noch, die grelle Beleuchtung von oben werde durch einen Spiegel bewirkt, der[43] den Strahl der abendlichen Sonne nach unten werfe. Seinen Eindruck auf mich verfehlte dieser Tempel nicht – Puppentheater und Zaubervorstellung gehörten ja zu meinen kindlichen Schwärmereien. Nicht gerade feierlich war das gottesdienstliche Möbel, das ich schließlich noch kennen lernte: eine Truhe, die vor dem Vorhang stand, bedeckt mit einer schäbigen Samtdecke. »Dees ischt die Bundeslad,« sagte Enzio, tat die Decke weg und öffnete die Bundeslade. Drin war eine Likörflasche, leider schon leer, wie Enzio feststellte. Aber aus einem Zigarrenkistchen nahm er sich einen Glimmstengel, biß kunstgerecht die Spitze ab und strich ein Schwefelhölzchen an seinem Hosenboden an.


*


Für den folgenden Tag, einen Sonntag, war vom Kandidaten meine erste Nachhilfestunde angesetzt, und gleich nach dem Frühstück brach ich auf. Enzio begleitete mich und hatte seine Lateinbücher mit. Unter den Bäumen der Lustnauer Allee begegneten uns Landleute im Sonntagsstaat. Die Mädchen hatten Mieder aus schwarzem Samt, dazu weiße Hemdärmel, die Burschen kurze Jacke, rote Weste, Kniehosen, auf dem Kopf ein Lederkäpple. Ein paar grauhaarige Männer trugen den weit ausladenden Dreispitz des alten Schwabentums und einen blauen Rock mit langen Schößen. »Die gehn zur Kirch, wohl gar zur Hochzeit oder Kindtauf.« Diese Bemerkung Enzios veranlaßte mich, zu fragen: »Wie kommt es, daß Herr Hainlin während der Kirchzeit Nachhilfe erteilt? Wir halten ihn doch von der Kirche ab!« Abweisend erwiderte Enzio: »Aus der Kirch macht der sich nicks! Mei Vatter hät gsait, der sollt eigentlich Heidlin heißen – e richtiger Heid sei der, wo net emol an Jakob ond Esau glaube tut. Pfarrer derf so euner net sei'.« – »Und hat doch Theologie studiert – wie?« – »Ja, im Stift ischt 'r gwä. Aber aus ischt dees – die[44] Freistell ischt er los. Sein Onkel in Pfrondorf tut ihm jetzt zahle, waas 'r braucht. Ond efreier Bursch hat's besser als wie in dr Stift-Kloschterei, der elendigen. Au i tät's net aushalte bei dene langweilige Repetente, beileib net!«

Wir waren in der Stadt angekommen. An der Stiftskirche, die für die Kirchgänger offen stand, bewunderte ich die Fenster mit den gemeißelten Gestalten. Da war der Drachentöter Sankt Georg, Schutzpatron dieses Gotteshauses. Auch der heilige Martin, wie er einem Bettler die Hälfte seines Mantels reicht. Und da war ein aufs Rad geflochtener Mann. »Das Wahrzeiche von Tübinge,« sagte Enzio. Schräg gegenüber dem Geburtshause Uhlands war ein altes Gebäude, das neben der Haustür ein blankes Messingschild mit dem Namen »Schneckle« hatte. »Georg Hainlin, cand. phil.« stand auf dem beigehefteten Kärtchen. Dunkle Treppen stiegen wir empor und klopften an.

Im sonnigen Zimmer saß der Kandidat am Schreibtisch und begrüßte uns munter. »Zunäkscht beschaut euch, wien i da wohn!« Ueber Hainlins Bett hingen die Bilder seiner Eltern. Auf dem Tisch lag eine Flöte, parademäßig standen Bücher im Glasschrank. Wir gingen auf die Veranda und hatten einen Augenschmaus: Gärten, an denen der Neckar vorbeirauschte – jenseits prachtvolle Alleen – über die Platanenwipfel lugt als blauer Streifen die Rauhe Alb.

Ins Zimmer zurückgekehrt, setzten wir uns um den Tisch, und das Arbeiten ging los. »Sag mir, Enzio, wie weit euch der Naso gebracht hat.« Enzio gab Bescheid, legte Bücher und Hefte vor, und Lücken meines Lateins wurden festgestellt. Hainlin verstand die grammatischen Regeln nicht bloß gut zu erklären, sondern diesen für Knaben langweiligen Stoff sogar fesselnd zu gestalten. Setzte zum Beispiel auseinander, »nunquam« könne in »ne unquam« aufgelöst werden. Kam dann[45] auf das deutsche Wort »niemals« zu sprechen; es laute ursprünglich »nie jemals« – wie »niemand« aus »nie jemand« entstanden sei, was »nie je e Mann« bedeute. Hatte ich bisher Grammatik für eine verschmitzte Erfindung der Schulmeister gehalten, in boshafter Laune ausgetüftelt, um dem Schüler Fallen zu stellen, so begann ich unter Hainlins Führung zu ahnen, es sei jede Sprache ein lebendiges Gewächs, das seine Formen folgerichtig aus Geist und Volksgemüt hervortreibt.

Im Fluge war uns die Zeit vergangen, und weitere Arbeit wäre mir nicht unwillkommen gewesen, hätte nicht Hainlin jetzt ein Kapitel zur Verhandlung gebracht, auf das ich mich besonders gespitzt hatte. Nach dem Familienbuch fragte er, und aus dem Ranzen holte ich den Band in Leder mit Goldschnitt. Vom Vater, der in der Frühe nach Junker Jakob geforscht hatte, waren die betreffenden Buchstellen mit Zeichen versehen. Aus der Stammtafel derer von Kotze und aus den Regesten ging hervor, daß Hans von Kotze, Erbherr von Groß- und Klein-Germersleben, Lüttgen-Oschersleben, Halle usw., diese Güter seinem Sohne gleichen Namens hinterließ, und daß dessen ältester männlicher Sprosse, der edle und veste Junker, als Studiosus zu Tübingen seliglich im HERRN entschlafen und daselbsten in der Pfarrkirchen Sankt Georgen ehrlich zur Erden bestattet worden. Die Leichenpredigt, gehalten durch Johannem Georgium Sigwarten, der H. Schrift Doktorn, Professorn, Pfarrherrn und Superattendenten zu Tübingen, sei getruckt zu Tübingen in der Cellischen Truckerei. Ihr angehängt sei ein lateinisch Poem, so vom Junker zur Vermählung seiner Schwester Ursula gedichtet worden. »Das muß ich haben!« sagte Hainlin eifrig. »Diese Druckschrift wird sich wohl in der Universitäts-Bibliothek finden. Auf nun, Pennäler! Zur Kirch! Da zeig i euch den Graabstein.« Und wir gingen.[46]

Auf der Südseite der Kirche waren etliche Steinplatten mit Inschriften in die Mauer eingelassen. Vor solch einem Denkmal blieb Hainlin stehen. Darauf war das Kotze-Wappen. Ich kannte es gut. Auf dem Sofakissen der Großmutter war's ja in bunter Stickerei. Ein bärtiger, langlockiger Mann, angetan mit dem kuttenähnlichen Staatsrock. Auf dem gekrönten Ritterhelm kauert ein Hund. Die Mitte des Denkmals bildet die lebensgroße Figur des Junkers. Zu seiner wuchtigen Tracht, dem breiten Federhut, den ausladenden Pluderhosen und dem drohenden Stoßdegen stimmte nicht das bartlos zarte, wehmütig träumerische Gesicht. »Wie kommt es, daß er in der Kirchengruft liegt, nicht draußen in der Erde?« fragte ich. – »Er war Student im Collegium Illustre. Diese Gründung Herzog Ludwiks, wo junger Adel des In- und Auslandes Rechts- und Staatswissenschaft studierte, wurde auch Fürstenschule genannt, weil daselbst manch junger Fürst seine gelehrte Ausbildung erhielt. Ein paar dieser Standespersonen sind in der Gruft zu Sankt Georgen beigesetzt.« – »Mein Gott, ja!« seufzte ich und glaubte einen Anhauch von Moder zu spüren. Während hier oben die Sommersonne drei frische Menschenkinder umlohte, lag der Junker, sechzehnjährig verstorben, bereits ein Vierteljahrtausend in der kaltfinstern Gruft, und vor lauter Vornehmheit durfte sein verdorrter Leib nicht einmal Gras und Blume werden. – In der Kirche war die Orgel verklungen, nun stimmte die Gemeinde an: »Wer nur den lieben Gott läßt walten.« Nach gleicher Melodie hatte ich zu Magdeburg am Grabe eines Sextaners im Schülerchor gesungen:


»Das Grab ist da – oft bei der Wiegen.

Wie manches Kind sieht kaum die Welt,

So muß es schon im Sarge liegen ...«


*
[47]

Im Lustnauer »Ochsen« hatten wir zu Mittag gespeist, dann brachte uns die Ochsenwirtin den Kaffee in die Laube. »Also beim Kuttler wohne Sie? Ond wie gefallt's Ihne da?« – »Wir sind eben erst eingezogen,« antwortete meine Mutter. – »Ha no, die Wohnung ischt sauber.« – »Und die Leute gefällig. Herrn Kuttler allerdings kennen wir noch nicht.« – »Grad ischt er da vorbei,« sagte die Wirtin. »Verreist war er – hält aber nachmittags Stond.«

»So eine Art Betstunde, wie? Ist also sehr fromm?« – »Ha, wie mer's nimmt,« entgegnete die Wirtin kühl. – »Hoffentlich ist es kein überspanntes Getue – kein Lippendienst,« sagte mein Vater. – »Lippedinnscht!« nickte sie bedeutsam. – »Sie meinen?«

»Ha, nicks mein i! Die Frau ischt herzensgut – ond die Rosel e arg liebs Dingle. Wenn bloß der Kuttler begreife tät, daß die zwei besser imstand send, ihm zum Himmelreich z' verhelfe, als die Engel auf seiner Theaderleiter.« – »Er weiß die Seinen also nicht zu schätzen?« – »Er ischt halt e Reutlinger! So sagt mer in Tübinge von eme Hitzkopf ond Grobian. Zudem tun die Pharisäer ond Sadduzäer niemols aussterbe. Aber i will nicks gsagt han. Onsereim goht's Rübele noh übers Brühele. Beehre ons die Herrschafte öfters! Guete Nachmiddaag!« Sie knickste und ging. Die Mutter sah den Vater bedeutsam an. Er meinte: »Na ja! Wir werden selber sehn – in solch einem Nest gibt's viel Geschwätz.«

Weiteres über die Sekte der Jakobskindle erfuhr ich ein paar Stunden später. Ich verzehrte den Abendimbiß, vergnügt, wieder am trauten Familientische zu sitzen, als Enzio im Garten den zwischen uns verabredeten Pfiff tat. Ich schlüpfte hinunter; Enzio sagte: »Glei geht's los! Im Tempel hänt die Jakobskindle Gootesdinnscht!« – »Jakobskindle? Nennen sich so die[48] Anhänger eurer Gemeinde.« – »Ha freili! Dem Vater Jakob tun sie folge.« – »Und gehst du jetzt auch hinein?« – »Noi! Erscht nach der Konfirmatio derf i nei. Aber komm du! losne wolle mer.«

Neugierig folgte ich, bei der Scheune lagerten wir uns auf Ackerklee. »Ist das dein Vater, Enzio, der da predigt? Aber er ist doch kein richtiger Pastor, wie?« – »Bei dene Jakobskindle tut predige, wen der Geischt treibt. Meischtens ischt dees mei Vatter.« – »Hat er denn einen Talar?«- »Pfaffe hänt mir koine.«

»Ist euer Glaube sehr verbreitet in Württemberg?« – »Mir send die allererschte Gemein in ganz Europa. Aber drübe gibt's meh.« – »Wo drüben?« – »In Amerika! Da ischt mei Vatter viele Johr gwä – ond hat sich erfülle lasse vom Jakobsgeischt. Wie er na zurückkomme ischt, hat er in Luschtnau den Tempel eigricht.«

Jetzt ging der Gesang in der Scheune los. Männer-und Weiberstimmen plärrten einen schleppenden Choral. Den Text las ich in Enzios Gesangbuche nach:


»Wo im Lande der Zibeben

Milch und Honigbäche gehn,

Durfte Vater Jakob leben,

Blieb jedoch allhie nicht stehn,

Sondern sprach: in Gottes Heim

Fleußt der wahre Honigseim.


Suchend zog er weit und weiter,

Schlief des Nachts auf rauhem Stein.

Und er sah im Traum die Leiter

Mit beschwingten Engelein,

Winkend schwebten sie empor,

Und da war des Himmels Tor.
[49]

Ach und ich? Wo bleibt mein Rater?

Immer geht's durch Wüstensand.

Jakob, frommer Völkervater,

Nimm dein Kindlein bei der Hand!

Hier sei Bethel! Auf, mein Herz!

Stuf' um Stufe himmelwärts!


Nur wer solchem Heimweh trauet,

Hat den besten Feiertag,

Hat den Tempel, der sich bauet

Ohne lauten Hammerschlag.

Fragst du, wie der Tempel heißt?

Menschenherz voll Jakobsgeist.«


Obwohl bäurisch gesungen, hatte dies Lied etwas Rührendes. Besonders weil ich den Flüchtling in der Wüste, der im Traume den Himmel offen sah, in Verbindung brachte mit Vaters Idee vom Glasberg: Es hat jeder seine Sehnsucht, die ihn auf eigne Weise lockt. Die Himmelsleiter war Jakobs Glasberg.

Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 38-50.
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