Erstes Kapitel.
Eine Offenbarung.

[203] Vier Tage nach dem Besuche Sloboda's und Heinrichs auf dem ehemaligen Schlosse Boberstein begegnen wir den beiden Alten nebst Paul in dem gebirgigen Schlesien. Hier lebten in arbeitsamer Zurückgezogenheit alte Bekannte des Maulwurffängers. Seine rastlosen Wanderungen führten den originellen Mann zuweilen auch in diese fern gelegenen Gegenden, wo er dann nie vergaß, die alten Freunde zu begrüßen. Seit einigen Jahren war dies unterblieben, und da Landleute nur im äußersten Nothfalle zur Feder greifen, so wußte Heinrich nicht einmal, ob die fernen Freunde noch alle am Leben sein würden. Dennoch zog er eine beschwerliche Fußreise[203] von mehreren Tagen der unbequemen Schreiberei vor.

An waldigen Hügellehnen in der breiten und fruchtbaren Thalsenkung des Queis lag ein großes freundliches Kirchdorf. Hier besaß Leberecht, der ehemalige Großknecht auf dem Zeiselhofe, ein bescheidenes Häuschen mit geringem Ackerlande. Bei angestrengter Thätigkeit und großer Sparsamkeit konnte eine genügsame Familie von dem Ertrage dieses Ackers und fleißiger Handarbeit grade leben. Kleine Besitzungen dieser Art gibt es in Schlesien die Menge, da das Parcellirungsystem den großen Grundbesitz mannichfach zerstückelt hat. Man findet Dörfer, wo beinahe jedes Haus seinen eigenen Acker besitzt, welchen die Inhaber mittelst einer einzigen Kuh bebauen. Den flüchtig Reisenden kann der Anblick solcher Dörfer, wo alle Welt für sich selbst pflügt und ärndtet, den Eindruck von allgemein verbreiteter Wohlhabenheit machen, wer jedoch die Sachen genauer betrachtet und sich bei den so fleißig arbeitenden Leuten selbst erkundigt, erfährt zu nicht geringer Bestürzung, daß im Allgemeinen große Noth in solchen Ortschaften herrscht, und daß die meisten dieser kleinen[204] Grundbesitzer lieber den Besitz los zu sein wünschen. So sonderbar dies klingen mag, so erklärlich und folgerichtig ist es. Alle diese Leute müssen nämlich, um das wenige Ackerland, das ihnen Kartoffeln, etwas Korn und Klee trägt, bearbeiten zu können, Zugvieh halten, da aber der Ertrag selbst verhältnißmäßig nur gering ist, so bringt es Keiner zu mehr als einer einzigen Kuh. Diese zehrt fast die Hälfte allen Ertrages auf. Um den Acker nicht zu sehr auszusaugen, muß häufig die mangelnde Düngung für schweres Geld angekauft werden, und da man dies selten oder nie besitzt, so wird die Aufnahme eines Kapitals auf das Haus unabweisbare Nothwendigkeit. Gewöhnlich aber lastet auf jedem solchen kleinen Hause ein Kapital, so daß bei Verdoppelung desselben die Möglichkeit, je einmal ganz schuldenfrei zu werden, dem Besitzer für immer benommen ist. Nehmen wir noch dazu, daß ohne anderweiten Verdienst ein Familienvater von dem, was Feld und Wiesenplan ihm bringen, unmöglich leben kann und daß ihn die Bebauung des Ackers doch häufig an regelmäßigem anderweitigem Erwerbe verhindert, so wird es unsern Lesern einleuchten, daß[205] Grund- und Ackerbesitz unter solchen Umständen eher ein Unglück als ein Glück zu nennen ist.

Genau in dieser Lage befand sich Leberecht. Er hatte zwei Jahre nach der Katastrophe, die Boberstein in einen Schutthaufen verwandelte und dem im Auslande lebenden Magnus zur Freigebung seiner Leibeigenen Anlaß gab, die Haide verlassen, um in fruchtbareren Gefilden Arbeit und Nahrung zu suchen. Das grüne Schlesien mit seinem ehrlichen, derben, gutmüthigen Volke behagte ihm vorzugsweise, da er sich hier wie daheim befand. Er war sehr fleißig und sehr sparsam, und als er nach seinem Dafürhalten genug besaß, um Frau und Kind ernähren zu können, dachte er an's Heirathen. Nie hatte ihm ein Mädchen besser gefallen, als die hübsche Marie, die auf dem Zeiselhofe so oft seinetwegen hungrig vom Tische gehen mußte. Marie diente noch in der Haide, war ebenfalls sparsam und in jeder Hinsicht wirtschaftlich. Leberecht machte sich also auf, putzte sich recht stattlich heraus, kaufte ein paar silberne Ohrringe und besuchte das Mädchen. Umschweife machte er nicht, vielmehr sagte er grade heraus, was er wollte, bot Marie Herz und Hand an und[206] hatte die Freude, sechs Wochen später ein allerliebstes Weibchen sein nennen zu können. Von den Ersparnissen beider jungen Ehegatten ward ein eben feilgebotenes Haus nebst Ackerland gekauft, und seitdem bewirthschaftete Leberecht sein kleines Besitzthum redlich und unverdrossen.

Es wollte aber nicht vorwärts gehen. Freilich lag die Schuld nicht an ihm, sondern an der Unzulänglichkeit des Besitzes, der viel Zeit raubte und wenig eintrug, und dennoch konnte sich Leberecht nicht entschließen, Haus und Land zu veräußern, da er mit Leib und Seele Landmann war. Marie mußte auf einen Nebenerwerb denken. Dieser fand sich auch, indem sie, zwar etwas spät, die Weberei erlernte. Oft ward sie freilich in ihrer Thätigkeit gestört, denn ihre Ehe mit Leberecht war sehr fruchtbar. Zur Bekümmerniß beider Ältern blieb aber von allen Kindern blos ein einziger Sohn am Leben, der weil die Weberei damals grade in Schwung kam, sich derselben ebenfalls widmete.

Geraume Zeit verdiente er mehr als hinreichendes Geld, das er vorsichtig zusammenhielt, um die auf Haus und Feld der Eltern noch immer lastenden Schulden nach und nach damit[207] zu tilgen. Es gelang ihm auch beinahe, da trat eine Stockung in den Geschäften ein! Die Linnenweberei sank mehr und mehr, der Verdienst verminderte sich von Monat zu Monat, das Ersparte mußte angegriffen werden und das Haus blieb verschuldet, wie bisher. Um nur bestehen zu können, gab Eduard – so wollen wir den Sohn der hübschen Marie, das Ebenbild seiner Mutter, nennen – die Leinweberei ganz auf und warf sich, wie tausende und abertausende seiner Brüder, auf die leichtere und doch etwas besser bezahlte Baumwollenweberei.

So standen die Sachen in Leberechts kleinem Hauswesen bei dem Besuche, welchen Heinrich dem seit Jahren nicht mehr gesehenen Freunde zudachte. Die Veranlassung zu diesem Besuche werden wir sogleich mittheilen.

Die drei Wanderer erreichten den Ort gegen Abend und gingen zuerst ins Wirthshaus oder den Kretscham, um sich zu erfrischen und Erkundigungen einzuziehen. Diese fielen nach Wunsch aus. Leberecht war noch munter, wie vor Jahren, Marie fleißig wie immer, und der Sohn hatte den Ruf eines der tüchtigsten und accuratesten Weber. Heinrich besprach sich mit seinen[208] Begleitern und ging dann allein nach der Behausung des Freundes.

Schon von weitem vernahm er das taktmäßige Klappern zweier Webstühle, das ihm von dem Fleiße der Mutter und des Sohnes Zeugniß gab. Trotz der schnell hereinbrechenden Dämmerung fand er wirklich Beide in emsiger Thätigkeit. Erst bei seinem zutraulichen guten Abend hielten die Webeden an und blickten halb neugierig halb verwundert nach dem späten Besuche.

»Kennst Du mich nicht mehr, Marie?« sagte Heinrich, nahe an den Stuhl tretend, dessen Werfte vom letzten Schlag der Lade noch zitterte. »Freilich, die letzten drei Jahre haben mir hart zugesetzt! Ich sehe fast so weiß aus wie ein Stück gut gebleichte Leinwand.«

»Mein Gott, der Maulwurffänger!« rief Marie freudig aus, stand auf und reichte dem Alten die Hand. »Tausendmal willkommen, wackrer Freund! Nehmt Platz, nehmt Platz! Dort hinterm Ofen steht ein Polsterstuhl. Ich bitt' Euch, schiebt Euch den zu mir heran, denn – nichts für ungut, lieber Alter – ich muß noch ein halb Stündchen schaffen, sonst krieg' ich nicht[209] meinen Ziel. Und die Zeiten sind jetzt schlecht, man muß sich tüchtig rühren, will man sich ehrlich durchschlagen.«

Eduard reichte nun dem Freunde seiner Ältern ebenfalls die Hand zum Gruße und hieß ihn willkommen. Heinrich schüttelte sie derb und setzte sich dann zwischen beide Stühle, wo das Spulrad stand, auf's Treibebänkchen.

»Laß gut sein, Marie, ich kümmere mich schon! Ein Örtel, wie ich's brauchen kann, find' ich immer. Laßt nur den Schützen schnellen, was er laufen mag, ich will mir gleich 'was zu thun machen – Geht's auch langsam, so dreh' ich Euch doch noch ein paar Spulen ab, als hätt' ich erst gestern das Geschäft aufgegeben.«

Damit setzte der Maulwurffänger das Rad in Bewegung, steckte ein »Ledgen«1 auf die Spille und drehte schnurrend seine Spule, das Garn accurat auf dem Rohr vor- und rückwärts leitend. Marie lächelte, ließ den Schützen wieder klirren und arbeitete mit sammt dem Sohne,[210] bis das Tageslicht gänzlich erloschen war. In dieser Zeit konnte des heftigen Geräusches wegen das Gespräch natürlich nur in kurzen Pausen unterhalten werden. Als nun aber Marie den Webstuhl verließ, Feuer anschlug und die entzündete Lampe auf den Tisch stellte, ward die Unterhaltung lebhafter. Heinrich fragte nach Leberecht und wie es ihm gehe?

»Ich weiß nicht, wo er sich herumtreiben mag,« versetzte Marie. »Er hat heut die paar Körnchen Winterkorn gesät und nachher ist er fortgegangen, ohne zu sagen, wohin.«

»Es wäre mir schon lieb, wenn er bald wieder käme,« meinte der Maulwurffänger, »denn ich habe ihm heut gar Mancherlei zu erzählen. Auch alte Freunde habe ich mitgebracht, die er schwerlich noch kennt.«

»Ei wer könnte denn das sein!« sagte Marie und sah mit ihren freundlichen Augen den Maulwurffänger fragend an.

»Ja, das mußt Du errathen, Marie,« versetzte Heinrich mit verschmitztem Blinzeln – »Du hattest ja immer ein offenes Köpfchen, das die verfänglichsten Fragen zu beantworten wußte.«

Eduard hatte indessen draußen Holz gespalten,[211] um Feuer im Ofen anzuzünden. Er brachte jetzt die dünnen Scheite nebst einem halben Bündel Reissig herein und legte Beides vor den Ofen auf die rothen, reinlich gehaltenen Ziegel.

»Der Vater wird gleich kommen,« sagte er. »Er steht unten am Wasser und discurirt mit dem Nachbar. Ich glaube, sie wollen heut' Nacht noch ein paar Reußen stellen.«

»Heut' Nacht?« fiel der Maulwurffänger ein. »Das soll ihm schon vergehen, wenn er mir zuhören will und meine Reisegefährten sieht! Ja, ja, Marie, ich sage die reine Wahrheit! Nicht umsonst bin ich in meinen alten Tagen die zwölf Meilen weit gelaufen, es hat was zu bedeuten! Und wenn Du fein warten und hinterdrein schweigen kannst, so verheimliche ich Dir kein Wörtchen.«

Indem trat Leberecht ein, die Jacke über der Schulter und eine Rodehacke in der Hand.

»Guten Abend,« sagte er, ohne den Gast zu bemerken, der während seiner Abwesenheit angekommen war.

Frau und Sohn erwiederten den Gruß, der Maulwurffänger aber schlug ihn mit flacher[212] Hand auf die Schulter und sagte: »Alter, wollen wir zusammen noch einmal Sprenkel stellen? Es ist mehr dabei zu gewinnen, als beim Fischfange.«

Leberecht sah den Fremden ein paar Secunden ernsthaft an, dann schüttelte er ihm tüchtig die Hand und versetzte: »Weiß Gott, er ist's, der Schelm von Maulwurffänger! Nun grüß' Dich Gott, Bruderherz, und sei bedankt, daß Du wieder einmal an uns gedacht hast! Nichts Neues draußen im Flachlande? In der Haide?«

»Will ich meinen,« sagte der Maulwurffänger. »Just deswegen komme ich her, und wenn Du Willens bist, eine Liebe der andern werth zu halten, sollst Du genug erfahren, um ein paar Jahre lang keine Zeitung mehr in die Hände nehmen zu dürfen.«

»Das wäre! Was gibt's denn so Großes?«

»Leberecht,« versetzte Heinrich sehr ernst »wenn Deine Frau nichts dawider hat, und ich nehme das an, so würdest Du mir einen grausam großen Gefallen thun, wenn Du mich in die Schenke begleitetest. Dein Eduard kann auch mitkommen – wir werden ihn brauchen.[213] Kosten soll Dich's übrigens nichts. – Unterwegs erzähle ich Dir, was Du wissen mußt, um eine Neuigkeiten zu verstehen, in der Schenke aber wirst Du mir Gleiches mit Gleichem vergelten!«

»Du hast Dich so lange nicht blicken lassen,« erwiederte Leberecht nach kurzem Schweigen, »daß ich Deinen jetzigen Besuch nur etwas Ungewöhnlichem zuschreiben muß. Ich bin nun zwar auch nicht mehr der Mann von früher, den kein Ungemach lange anfechten konnte, allein für einen Freund habe ich doch noch immer Zeit und Ohr. Wir sind bereit, Dich zu begleiten.«

»Habe Dank für Dein freundliches Entgegenkommen,« sagte der Maulwurffänger, »es wird Dich nicht gereuen! Und Du, Marie, zerbrich Dir nicht unnützerweise den Kopf! Mit Leberechts Zurückkunft wirst Du so gescheid wie er selbst.«

Unverweilt brachen nun die drei Männer nach dem Kretscham auf. Es war eine gute Strecke Weges bis dahin, welche Heinrich durch Erzählung dessen verkürzte, was sich in den letzten fünf Wochen zugetragen hatte. So erfuhr denn Leberecht die wunderliche Auffindung der[214] Schenkung des Grafen Magnus an Haideröschen, die Rückkehr Sloboda's mit seinem Enkel aus Polen, ihren Besuch auf Boberstein und die beleidigenden und herabwürdigenden Drohungen, womit Adrian die beiden Greise abgewiesen hatte.

»Nicht wahr,« schloß der Maulwurffänger seinen Bericht, »das ist ein Bündel Neuigkeiten für den plauderhaftesten Landkrämer? Wenn Du darüber nicht wieder jung wirst, streiche ich Dich aus der Zahl der Lebendigen.«

»Ich bin erstaunt,« erwiederte Leberecht, »erstaunt, daß so etwas in unseren nüchternen Tagen möglich ist; noch mehr aber muß ich mich wundern, daß Du auf Deinen alten Füßen so weit hergelaufen kommst, um mir diese wunderliche Geschichte zu erzählen. Ich freue mich Deiner alten Anhänglichkeit, aber ich hätte Dir's auch nicht nachgetragen, wenn Du mich blos gelegentlich davon unterrichtet hättest.«

»Wirklich? Das höre ich nicht gern, Leberecht! Ich habe schon gesagt, daß ich Tausch gegen Tausch verlange, was in diesem Falle Erzählung gegen Erzählung bedeutet.«

»Noch begreife ich Dich nicht, Pink-Heinrich.[215] Sprich rund heraus: was soll's? Was begehrst Du zu hören?«

»Du kanntest den Voigt Ephraim vom Zeiselhofe,« erwiederte der Maulwurffänger, »Du warst sein Stellvertreter während seiner Krankheit, und daß er Dir auf dem Sterbelager Geständnisse eigenthümlicher Art gemacht hat, äußertest Du schon damals mit Entsetzen! In jenen unruhigen Tagen konnte Niemand daraus Nutzen schöpfen; jetzt aber müssen sie dem Enkel Sloboda's von größter Bedeutung sein. Darum, mein Freund, bist Du dringend gebeten, im Beisein des steinalten Wenden, seines Enkels und Deines Sohnes die Beichte des Sterbenden getreu zu wiederholen!«

Sie hatten den Kretscham erreicht, ein langes, nur einstöckiges Gebäude, ganz aus Holz aufgeführt. Eine Schmiede war damit verbunden, in welcher noch zwei riesige Gebirgssöhne auf sprühendes Eisen hämmerten. Aus den kleinen und niedrigen Fenstern der Wohnstube schimmerte Licht.

»Das ist ein Verlangen, welches, fürcht' ich, über meine Kräfte gehen wird,« gab Leberecht zur Antwort. »Bedenke, daß fast über[216] vierzig Jahre inzwischen abgelaufen sind und daß mein Leben nicht geeignet war, Thatsachen von so langer Zeit her treu im Gedächtniß zu halten.«

»Entschuldigungen werden nicht angenommen,« sagte der Maulwurffänger lachend. »Komm nur herein, sprich mit dem Alten und mit Paul, dem einzigen Nachkommen des frommen, lieblichen Haiderbschens, und Dein Gedächtniß wird sich von selbst erfrischen. Kannst Du uns keine Winke geben, wie wir sie brauchen, so muß ich den guten Alten mit sammt dem frischen Enkel wieder zurück nach Polen schicken, denn wir kommen dann nicht auf gegen die Grafen.«

Zögernd senkte Leberecht das Haupt. Die Runzeln auf seiner Stirn deuteten auf einen heftigen innern Kampf. Er holte einigemale tief Athem, dann legte er seine schwere Hand auf Heinrichs Schulter und sagte entschlossen: »Ich will mich besinnen.«

Sie traten in die große vom Ofenrauch geschwärzte Schenkstube, die zwei dünne Talglichter nur dämmernd erleuchteten. Blos zwei der täglichen, rothbraun angestrichenen Tische[217] waren mit Gästen besetzt, übrigens war das weite Zimmer leer. Zunächst dem Ofen trafen sie den Wenden mit seinem Enkel, beschäftigt, einen Abendimbiß einzunehmen. Sloboda erkannte Leberecht sogleich und auch dieser konnte nicht zweifeln, den Vater des unglücklichen Haideröschens vor sich zu sehen. Nach ländlicher Sitte, treuherzig und derb schüttelten sich die gealterten Männer zum herzlichen Gruße die Hände.

»Ulrich,« sagte Leberecht zum Wirth, nachdem er den Wenden durch Zutrinken des dargereichten Glases Bescheid gethan hatte, »wenn Ihr heut Abend keine Gäste im Cabinet erwartet, könntet Ihr uns dasselbe auf eine Stunde abtreten. Wir haben 'was Wichtiges unter einander zu besprechen.«

Zuvorkommend gestattete der Kretschamhalter diese Vergünstigung und alsbald saßen die fünf Freunde ungestört im engen Cabinet nebeneinander. Der Maulwurffänger ließ Speise und Trank auftragen und forderte Leberecht nochmals auf, seine Erzählung zu beginnen. Nach einigem Nachdenken machte dieser den staunenden Zuhörern folgende Mittheilungen.[218]

»Es ist Euch bekannt, daß der Voigt Ephraim wenige Tage vor der Einäscherung Bobersteins erkrankt war. Der Schreck über den furchtbaren Haidebrand, über die Erhebung der Leibeigenen und die Flucht des Grafen ins Ausland verschimmerten den Zustand des Kranken von Tage zu Tage. Er siechte langsam hin und ward zusehends elender. Wer ihn sah, konnte nicht mehr an seiner baldigen Auflösung zweifeln. Er selbst ahnte das Herannahen des Todes und verfiel in eine Unruhe und Herzensangst, die seine körperlichen Schmerzen zur unerträglichen Qual steigerten. Die Lage des Unglücklichen war in der That bedauernswürdig, da Graf Magnus die Verwaltung des Zeiselhofes ganz in seine Hände niedergelegt hatte und von ihm allein Rechenschaft forderte.«

»Obgleich ich dem Voigte nie sehr freundlich begegnet war, hatte er zu mir doch ein auffallendes Zutrauen. Freiwillig und in ziemlicher Ausdehnung trug er seine Macht auf mich über, so daß ich wider Willen statt seiner gebietender Voigt wurde. So ungern ich mich ihm unentbehrlich machte, so gewissenhaft erfüllte ich doch meine Pflicht, und weil ich wochenlang alle Geschäfte[219] des Voigtes verrichten mußte, schenkte mir Ephraim dafür eine fast brüderliche Zuneigung. Am Abend jedes Tages, wenn ich ihm Rechenschaft von meinem Thun ablegte, drückte er mir die Hand und häufig gesellten sich zu seinen Seufzern und Stöhnen sogar Thränen.«

»Dieser Zustand währte mehrere Wochen. Die entsetzlichen Ereignisse waren beinahe vergessen, die eine Zeit lang verlassenen Hütten der Unterthanen füllten sich wieder mit ihren heimkehrenden Bewohnern. Die wenigen, welche ganz auswanderten, verschollen, Niemand dachte mehr an sie, Niemand kümmerte sich mehr um das Vergangene. Die Leibeigenen wurden für frei erklärt und dadurch ihr Aufstand gewissermaßen gebilligt. Da nahte Ephraims Ende heran; der Sterbende begehrte mich noch einmal ganz allein zu sprechen. Ungern gewährte ich die Bitte, doch lehrte mich die Menschlichkeit den angeborenen Widerwillen besiegen, den ich stets gegen den hartherzigen Voigt empfunden hatte.«

Ephraim ließ seine gläsernen Blicke lange Zeit auf mir ruhen, als ich einsam neben seinem Sterbelager Platz genommen hatte. Er schien in meinen Zügen forschen zu wollen, ob ich das,[220] was er mir mittheilen wollte, auch als das Geheimniß eines Sterbenden betrachten werde. Nachdem er die Überzeugung davon gewonnen zu haben schien, sagte er röchelnd:

»Leberecht, ich will Dir ein Geheimniß beichten.«

»Mir?« unterbrach ich den Sterbenden. »Verschont mich damit, wenn Ihr mich lieb habt. Ich bin kein Pfarrer, ich möchte mich nicht damit vertragen können.«

»Doch, doch, Leberecht, Du mußt! – Sieh, ich leide namenlose Schmerzen – mein Gewissen foltert mich – ich kann nicht sterben, bevor ich bekannt –«

»Was, um Gottes Barmherzigkeit willen wollt Ihr bekennen!« rief ich entsetzt aus, denn, ich glaubte gewiß und wahrhaftig, der Unglückliche habe ein todeswürdiges Verbrechen begangen. »Kann ich Euch vergeben, wenn Ihr gesündigt gegen die Gebote des Herrn?«

»Ja, ja, Du kannst es,« röchelte der Voigt. »Setze Dich, beuge Dein Ohr zu meinem Munde – behalte wohl, was ich Dir sage – Ich werde ruhiger aus dem Leben scheiden!«

Der unglückliche Mann sprach so flehentlich,[221] seine Stimme, obwohl heiser und fieberhaft zitternd, klang doch so vertrauensvoll, und seine Zuversicht auf mich erschien mir so rührend, daß ich ihm die Hand ließ, die er krampfhaft ergriffen hatte, und seinen Willen that.

»Wie lebt Nathanael?« stotterte Ephraim.

»Nathanael?«

»Jan Slobodas unglücklicher Sohn! O wie, wie lebt er?«

»In stummer undurchdringlicher Geistesnacht.«

»O wohl ihm – wohl ihm!« stammelte der Voigt; »besser, nichts von sich wissen, als von zu vielen Erinnerungen in die finstere Zukunft hinübergejagt zu werden! Vergib mir, armer Betrogener! Fluche mir nicht, Nathanael!«

Schaudernd sah ich den Sterbenden in die gelben verzerrten Züge, suchte in den eingesunkenen wild flackernden Augen zu lesen. Ephraim raffte seine schwindenden Kräfte zusammen, erhob sich mit Gewalt aus den Kissen und schrie mir zu:

»Nathanael ist Vater – sein Sohn lebt!«

»Heiliger Gott,« unterbrach Sloboda den[222] Erzählenden. »Also doch! doch! O meine Ahnung!«

»Sein Sohn?« wiederholte ich, fuhr Leberecht fort.

»Nein, nein!« schrie der Sterbende, wie ein Rasender das vom Todesschweiß triefende Haupt gespenstisch gegen mich schüttelnd. »Nicht Nathanael's Sohn, der Sohn des Grafen – Er stockte.«

»Des Grafen?«

»Des Grafen – Magnus!« lallte der Sterbende. –

Ich stand wie vom Donner gerührt und starrte den Unglücklichen an, der matt röchelnd mit gebrochenen Augen in die Kissen zurückgesunken war. Meine Neugier wuchs; kaum vermochte ich den Augenblick zu erwarten, wo der Entkräftete sich zu weiterer Mittheilung gesammelt haben würde. Es vergingen fünf peinvolle Minuten. Dann schlug der Voigt seine Augen wieder auf und fuhr fort:

»Ich bestach die Hebamme – auf Magnus Befehl, das Kind der armen Leibeigenen für todt, für zerstückt auszugeben, was leicht war, da die Gebärende ihre Besinnung verlor. Der Graf[223] besorgte Unannehmlichkeiten, wenn das Kind bei der Mutter bleiben sollte, die er verführt hatte. Auf sein Geheiß entfernte ich es – brachte es zu Verwandten, wo es in größter Dürftigkeit erzogen ward. – Durch einen Zufall hörte die Mutter von dem ihr gespielten Betruge, wagte dem Grafen zu drohen und ihn bei seinem Vater verklagen zu wollen. – Dies geschah im Walde beim Holzfällen – Magnus tobte innerlich – beherrschte sich aber und gab mir durch Winke zu verstehen, was er wünschte. – Auch ich verstand ihn – der nächste Baum stürzte und erschlug die Frau Nathanaels!«

»Das ist entsetzlich!« sagte Sloboda.

»Mir schlugen die Zähne zusammen,« versetzte Leberecht, »bei diesen Bekenntnissen des Voigts, der sich wie ein Wurm auf seinem Lager krümmte und wiederholt durch wimmernde Schmerzenstöne seine Mittheilungen unterbrach.«

»Kümmert sich der Graf um das verstoßene Kind?« fragte ich instinktmäßig, um nur das Nöthigste dem Sterbenden zu entreißen, dessen Ende sichtlich herannahte.

»Er erhält seinen Sohn – nothdürftig,« stammelte der Voigt.[224]

»Und wo lebt der Unglückliche?«

»Ephraim nannte mir den Ort, den Namen seiner Pflegeältern, nahm mir aber zugleich auch das Versprechen ab, das Geheimniß Niemand mitzutheilen, da nach Slobodas Auswanderung und bei der Geistesverwirrung Nathanaels eine Aufdeckung des Frevels nutzlos sein müsse. Statt dessen übergab er mir die schriftlichen Documente über die Geburt des Knaben und beschwor mich, dieselben an einem Orte auf dem Zeiselhofe zu verbergen, wo sie unversehrt und unentdeckt sehr lange Zeit erhalten werden konnten. Auch jene Rolle, die ich am Vorabend des Haidebrandes Eurer Tochter durchaus aufdringen wollte, befand sich mit bei diesen Papieren. Ephraim drang heftig auf Vernichtung derselben. Ich versprach auch dies dem Sterbenden, und war in der That entschlossen, mein Versprechen zu halten, hätte ich nicht später, trotz alles Suchens, die geheimnißvolle Rolle vermißt. Ich mußte sie verloren haben, in irgend einem der weitläufigen Wirthschaftsgebäude des Zeiselhofes, was das spätere Auffinden derselben von Dir, Heinrich, erklärlich macht. Die Hand des Allmächtigen, die sie auf diese Weise dem Untergange entzog, ist auch in[225] diesem scheinbaren Zufalle ersichtlich, denn ohne jenes Verschwinden würde es gegenwärtig keine Schenkungsurkunde mehr geben.«

Hier ließ Leberecht in seinen Mittheilungen eine Pause eintreten. Fragend glitten seine betrübten Augen über die kaum athmenden Zuhörer.

»Endige,« sagte der Maulwurffänger.

»Ich bin zu Ende,« erwiederte Leberecht. »Der Voigt starb noch in derselben Stunde, und ich habe mein ihm gegebenes Versprechen gehalten bis auf den heutigen Tag. Ohne Dein dringendes Zureden, Heinrich, würde es mit mir ins Grab gestiegen sein.«

Sloboda starrte, in tiefe Gedanken versunken, vor sich hin. Paul und Eduard wagten nicht zu sprechen, da das vielverflochtene Gewirr längst begangener Verbrechen sie mit magischer Gewalt umstrickte.

Von Heinrich sanft angestoßen, ermunterte sich der Wende.

»Hast Du vernommen, Jan?« rief er dem Greise zu. »Und siehst Du jetzt ein, daß ich genügenden Grund hatte, Dich aus der Vergessenheit der polnischen Wildnisse zurückzurufen? Nicht umsonst hat uns Gott so lange das Leben gefristet.[226] Er will, daß wir, obschon spät, verjährte Frevel ans Licht ziehen und auf gerechtem Wege Vergeltung üben sollen an den Missethätern.«

»Armer unglücklicher Nathanael!« rief Sloboda, ein paar Thränen in seinen hellblauen Augen zerdrückend. »Der Himmel meinte es gut mit Dir, als er ewige Finsterniß in Deine Seele goß. Ruhe in Frieden und träume den Traum des Gerechten!«

»Freund Leberecht,« nahm jetzt der Maulwurffänger das Wort, »ich und diese guten braven Leute sind Dir absonderlich zu Dank verpflichtet für die gegebenen Ausschlüsse, zufriedengestellt bin ich aber noch immer nicht. Du wirst also aus purer Freundschaft noch einige Punkte erläutern und uns jetzt zuvörderst den Namen sagen, welchen der verstoßene Sohn des wüsten Grafen führt und wo er sich aufhält.«

»Ich weiß in der That nicht, ob ich dazu befugt bin,« erwiederte Leberecht.

»Für alle Folgen stehe ich ein.«

»Und wenn der in tiefster Niedrigkeit Erzogene seinen Ursprung erfährt, wird er nicht schäumen vor gerechter Wuth und nach Rache schreien?«[227]

»Er wird Gerechtigkeit wollen, und nach Gerechtigkeit streben wir. – Wir bitten Dich um den Namen des Grafensohnes.«

»Du kennst ihn schon.«

»Ich?«

»Du selbst. Seit Jahren sprachst Du bisweilen unbewußt mit ihm. Es ist der Feinspinner Martell in Adrians Fabrik auf Boberstein.«

»Martell, mein Gevatter?« fiel Eduard ein. »Martell, der unlängst vor Schmerz über die Verstümmelung seines jüngsten Sohnes beinahe den Verstand verloren hat und seitdem in stillem Ingrimm sich verzehrt? Martell, der mir das Garn liefert für meinen Webstuhl?«

»Derselbe Martell!«

»Wie ist das?« sagte Sloboda zerstreut. »Versteh' ich Euch recht, Leberecht? Der Sohn meiner erschlagenen Schwiegertochter ist ein Sprößling des Grafen Magnus und dient jetzt als Spinner in der Fabrik seines – seines Bruders?«

»Seines Bruders, des Grafen Adrian,« ergänzte kaltblütig der Maulwurffänger.

»Aber himmlischer Gott, das ist ja entsetzlich, unnatürlich!« rief Sloboda.[228]

»Es ist die bittre Frucht einer gottlosen Versündigung,« sagte Heinrich.

»Die Kinder, die armen, unschuldigen Kinder des verstoßenen Sohnes, jetzt die bettelnden, verachteten Sclaven des reichen herzlosen Oheims! – Wo soll das enden!«

»Vor den Schranken des Gerichts,« sprach der Maulwurffänger.

»Ihr seid erschüttert, alter Vater,« fiel Leberecht wieder ein. »Das stand zu erwarten. Nach Allem, was vorausgegangen, wünschte es wohl gar unser gemeinsamer Freund. Beruhigt Euch indeß wieder, damit wir, einmal auf so guter Fährte, jetzt auch rasch dem Feinde zu Leibe gehen und ihn sieghaft angreifen können. Ich bin der Eure mit Leib und Seele, denn ich hasse den selbstsüchtigen Grafen vom Grund des Herzens, weil er vielleicht mit mehr Bewußtsein und süßerem Behagen noch als sein Vater uns arme Freigelassenen wieder zu elenden Sclaven macht, die blindlings, willenlos seinem Wink gehorchen müssen, wenn sie nicht in namenloses Elend versinken sollen!«

Heinrich reichte dem neuen Bundesgenossen die Hand und schüttelte sie.[229]

»Du bist hiermit angeworben,« sagte er lächelnd, »und wollt Ihr noch einmal einem alten Schlaukopf Gehör schenken, so möchte ich Euch sogleich einen rasch entworfenen Plan mittheilen, der Herrn Adrian am Stein in die Enge treiben kann. – Nach meiner Meinung müssen wir den Feind von vorn und im Rücken zugleich angreifen, daß ihm zur Flucht oder Gegenwehr gar nicht viel Zeit übrig bleibt. Es geschieht ihm noch Ehre genug, wenn er sich auf Gnade oder Ungnade ergeben muß. Theilen wir uns demnach in die Rollen und handeln wir besonnen und ohne Verzug. – Ich und Leberecht, wir wandern morgenden Tages nach dem Zeiselhofe, um die Dokumente aufzusuchen, die noch unangetastet dort zu finden sein müssen. Mit diesen und der bewußten Schenkungsurkunde treten wir mit offner Klage gegen die Gebrüder Boberstein auf und der Prozeß nimmt seinen Gang. Während dies in der Stille von uns eingeleitet wird, geht Paul mit Eduard in die Haide, besucht Martell und theilt ihm mit, welche Gerüchte von dem hartherzigen Gebieter im Volke umgehen. Martell kann Alles von Euch erfahren, nur nicht, daß er selbst jener verstoßene Sohn des Grafen[230] Magnus ist. Bei seiner ungestümen Wildheit könnte eine solche Nachricht zu entsetzlichen Auftritten führen. Diese müssen wir um unsrer selbstwillen vermeiden. Ist es Euch gelungen, überall unter dem arbeitenden Volke diese Gerüchte möglichst in Umlauf zu setzen, so kehrt Ihr zurück in meine Heimath, wo wir uns treffen und das Nächste dann weiter besprechen wollen.«

Schweigend reichten die Freunde einander die Hände und legten dadurch das Gelöbniß ab, sich in Verfolgung ihrer Zwecke mit Rath und That ohne Wanken beizustehen.

Zu ungewöhnlich später Stunde verließ Leberecht mit seinem Sohne den Kretscham und ging durch das längst in tiefem Schlaf versunkene Dorf nach seinem kleinen, verschuldeten Häuschen zurück.

1

Eine leere Spule von Schilfrehr.

Quelle:
Ernst Willkomm: Weisse Sclaven oder die Leiden des Volkes. Theile 1–5, Leipzig 1845, S. 203-231.
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