Drittes Kapitel.
Dokumente.

[261] Früher noch als unsere jungen Freunde das Ziel ihrer Wanderung erreichten, erschien Leberecht, Sloboda und der Maulwurffänger auf dem Zeiselhofe. Diese alte Besitzung der Familie Boberstein war jetzt verpachtet, sollte aber im nächsten Jahre einen andern Bewirthschafter erhalten, da der gegenwärtige Pachter zurücktreten wollte. Die Familie hatte es öffentlich bekannt machen lassen und einsichtsvolle Öconomen zur Besichtigung des Grundstücks aufgefordert. Dadurch war Jedermann Gelegenheit zu leichtem Zutritt gegeben, und der listige Maulwurffänger, der jeden Zufall zu seinem Gunsten zu nutzen verstand, hatte seinen Plan darauf gebaut.

Unter den drei hochbejahrten Männern war[262] die ganze Vergangenheit während der dreitägigen Reise nochmals übersichtlich zur Sprache gekommen. Dabei ergab sich, daß ungeachtet der völligen Umgestaltung aller Verhältnisse in einem Zeitraume von über vierzig Jahren doch ein allgemeiner Fortschritt zum Bessern von der Masse des Volkes nicht anerkannt ward. Ließen sich doch sogar laute Stimmen Unzufriedener hören, welche eine Wiederkehr und Wiederbelebung alter zerstörter und abgeschaffter Institutionen wünschten und für bei weitem ersprießlicher hielten. Leberecht gehörte zu diesen und leider vermochten seine Freunde ihn nicht immer durch haltbare Gründe zu widerleben und eines Bessern zu belehren.

In welcher Lage sich Leberecht befand, haben wir zu Anfang dieses Buches angedeutet. Diese Lage war niederdrückend und mußte einen Mann von Leberechts Fleiß und Redlichkeit mit Unwillen erfüllen. Als Leibeigener geboren, an Druck und Gehorsam gewöhnt und später durch unerwartetes Zusammentreffen günstiger Ereignisse unabhängig und frei geworden, hatte er in der Freiheit ein Glück höherer Art zu finden gedacht. Daß er sich schwer getäuscht, dies lähmte[263] seit Jahren seine Energie und machte ihn häufig wahrhaft unglücklich. Da seine Freunde nicht recht daran glauben wollten, suchte er sich durch eine offene Darlegung seiner Verhältnisse, die genau jene von tausend und abertausend ihm Gleichgestellter waren, zu überzeugen.

»Was versteht Ihr denn eigentlich unter Volksfreiheit und Volksselbstständigkeit,« sagte er, »worin Ihr ein Universalheilmittel aller nur denkbaren Übelstände erblickt? Ich begreife Euch nicht und muß mich deshalb gegen Euch erklären. Gott bewahre mich, daß ich das veraltete Schlechte, das Unnatürliche und Entehrende vertheidigen oder gar zurückwünschen sollte! Nur loben, billigen, preisen kann ich das Neue nicht, das menschenfreundliche Gesinnung als unreife Frucht an dessen Stelle gesetzt hat. Geht doch herum unter dem Volke, fragt den Weber, den Kleinbauer, den Tagelöhner, ob er zufrieden sei? und Alle werden mit trauriger Miene ein wehklagendes Nein antworten.«

»Weil sie den Augenblick nicht benutzen und Alles nach dem alten Schlendrian forttreiben,« unterbrach ihn der Maulwurffänger.

»Das ist die gewöhnliche Redensart Aller,[264] denen es an gründlicher Einsicht gebricht,« versetzte Leberecht. »Nein, nein, Freund Heinrich, nicht der Schlendrian, nicht Mangel an Scharfblick ist Schuld an diesem unter sich fressenden Volksunglück, sondern die ungleiche Belastung und die Unmöglichkeit bei einmal vorhandener Schuld je im Leben schuldenfrei zu werden! – Der Gerechtigkeitssinn einer aufgeklärten Zeit hat den Hörigen zum freien Bürger seines Geburtslandes gemacht. Gut, dies soll man loben. Aber warum, frag' ich, hat man ihm die persönliche Freiheit gegeben und doch die Kette an seinem Fuß gelassen, die ihn an freier Bewegung hindert, deren dumpfes Klirren ihn stündlich an seinen frühern Sclavenstand erinnert?«

»Was nennst Du Kette?« fragte der Maulwurffänger.

»Die Lasten, die man nicht von uns genommen hat,« entgegnete Leberecht. – »Ihr wißt, ich habe ein kleines Häuschen mit nur wenigem Ackerland. Es ernährt mich nicht in guten Jahren, es stürzt mich immer tiefer in Schulden, tritt Mißwachs ein. Ich würde es verkaufen, wäre es nicht schon über den eigentlichen Werth verschuldet. Um also nicht zum Bettler zu werden,[265] muß ich den Haus- und Ackerbesitzer fortspielen und unverhältnißmäßige Gaben an Staat, Herrschaft und Kirche zahlen. Ich muß, wie ehedem der leibeigene Bauer, dem Herrn frohnen, ich muß ihm die Wege ausbessern, muß ihm Hand und Spanndienste leisten oder – Geld dafür zahlen! Was bringt mir Geld? Der Verkauf von Naturalien, die ich erbaue. Was aber erbaue ich? Kaum so viel, als ich mit größter Noth zum spärlichen Durchkommen brauche! – Dennoch fordert man Geld von mir und ich muß es schaffen oder werde erst mit Execution, zuletzt mit unbarmherziger Pfändung bestraft. Lasse ich es so weit kommen, so mag ich mich nur nach einem Strick umsehen, denn verloren bin ich doch einmal! So ergreife ich denn das letzte Mittel, nehme ein kleines Capital zu hohen Zinsen auf, das ich nie zurückbezahlen kann, und entrichte meine ordentlichen und unordentlichen Steuern.«

»Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen, Alter,« sagte Sloboda. »Das sind die Leiden des freien Bauers ohne Vermögen! Sie schmerzen oft mehr als die Ruthe des Herrn! Es ist traurig, sehr traurig!«[266]

»Ich will nicht weiter von mir sprechen,« fuhr Leberecht fort, »ich will nur an einem Beispiele nachweisen, daß ich meine Klagen nicht aus der blauen Luft greife. Mein Nachbar schief über hat ein Häuschen mit Gartenland. Er ist Weber, verheirathet, Vater von drei Kindern, – und in ganz gleichen Verhältnissen sind an unserm Ort allein über hundert Familien, in zwanzig, dreißig Ortschaften zusammen einige Tausende, – und verdient bei größtem Fleiße, angenommen, daß keine Krankheit vorkommt und die Arbeit nie fehlt, im ganzen Jahre fünf und funfzig bis höchstens sechzig Thaler! Was ist davon sein Eigenthum? – Ich will es Euch sagen. Auf Haus und Gartenland, das ihm seinen Kartoffelbedarf bringt, lastet ein Kapital von vierhundert Thalern, das zu fünf Prozent Zinsen die Jahreseinnahme um zwanzig Thaler vermindert. Er muß außerdem an Grundsteuer dem Staate jährlich einen Thaler funfzehn Silbergroschen zahlen, Classensteuer, zwei Thaler, Grundzins an die Herrschaft, drei Thaler und drüber, Jagd- und Spinngeld funfzehn Groschen, Gemeindeabgaben gegen anderthalb Thaler; das Schulgeld[267] für seine Kinder beläuft sich auf vier Thaler und endlich kommen an Feuerassecuranz, an Abkauf der Handdienste auch noch gegen zwei Thaler zusammen, so daß ihm zur Ernährung seiner Familie, zur Instandhaltung seines Hauses und zur Bestreitung etwaiger nicht zu berechnender Ausgaben nicht mehr als zwanzig Thaler übrig bleiben.1 Ist solch ein Loos beneidenswerth, und ist derjenige, dem es gefallen, ein freier Mensch zu nennen, zu beneiden von dem Neger, der in heißen Ländern die Pflanzung seines Herrn bebaut und dafür sorglos seinen Reis essen kann?«

»Wenn das keine Ausnahmen sind, dann wehe uns! Wehe unsern geordneten Saaten! Wehe der Zukunft unseres Volkes!« sagte der Maulwurffänger.

»Du sprichst es aus. Wehe der Zukunft unseres Volkes, wenn gleichsam auf gesetzmäßigem Wege die Verarmung mit Riesenschritten um sich greifen darf! Weil es so ist – und es ist leider fast überall so – darum vermaledeie ich die uns gewordene Freiheit, die uns zur verabscheuungswürdigsten[268] Sclaverei verurtheilt, zur Sclaverei des freien Willens! Tausende möchten vor Ekel sich von sich selbst abwenden, aber sie dürfen nicht ihrer Weiber und Kinder wegen. Sie müssen das Joch der Sclaverei der Freiheit von einem Jahre zum andern fortschleppen, bis es sie erdrückt! Frei macht sie nur der Tod! Das aber ist ein namenloses Elend, ein Jammer, vor dessen Größe und Unendlichkeit man vor Entsetzen versteinert!«

»Um so entsetzlicher, als Niemand ihm steuern kann!« bemerkte Sloboda.

»Dann stehen wir am Vorabende des Weltunterganges,« fiel der Maulwurffänger ein. »Doch noch haben wir keinen Anlaß zu solcher Verzweiflung, die sich selbst und die Zukunft aufgibt. Noch sind Auswege vorhanden, auf denen das fortwuchernde Elend des Volkes verjagt werden kann. Der Staat muß sich des Volkes annehmen, muß ihm, dem darbenden, die Lasten abnehmen und sie auf die Schultern der Verzehrenden, der Reichen legen.«

»Träume, schöne, bunte ergetzliche Träume!« sagte Leberecht wehmüthig lächelnd. »Ich glaube an keine Träume!«[269]

»Du hast Recht, Freund, noch sind es Träume! Diese Träume aber werden Wahrheit werden, ist sich alles Volk erst der Mittel bewußt, die es der überhand nehmenden Verarmung entreißen können. Nur Massen bewirken etwas Großes in unsern Tagen, nur gemeinsamer Hilfeschrei wird beachtet. Darum trachte der Einzelne dahin, daß die Armen sich einigen und durch ihre Masse und Anhänglichkeit eine unzerreißbare Kette bilden! Mit geschlossenen Gliedern können sie den Reichen trotzen und durchsetzen, daß man ihre volle Freiheit anerkenne und sie menschlich behandle.«

Zweifelnd schüttelte Leberecht den Kopf, ohne das Gespräch weiter zu führen. Die nahen Gebäude des Zeiselhofes, die über die kahlen Felder emporstiegen, gaben seinen Gedanken eine andere Richtung. Sie bogen in einen flachen Hohlweg ein und sahen sich nach wenig Minuten dem offenstehenden Thorwege des Edelhofes gegenüber.

»Dort drüben,« sagte der Maulwurffänger, indem er mit der Hand nach dem Herrenhause deutete, »dort drüben begann vor mehr als vierzig Jahren das große Unglück, dessen Folgen uns[270] drei greise Männer an diesem verhängnißvollen Orte wieder zusammenführt. Möge Gott unsern Eingang segnen, wie er ihn damals segnete, als ich Dein liebliches Töchterlein den Händen Blauhuts entriß!«

»Amen! Amen!« versetzten Leberecht und Sloboda, indem sie ihre Hüte abnahmen und die Hände bittend falteten. –

Eine genaue Besichtigung des Zeifelhofes war leicht zu erlangen, da, wie bemerkt, ein neuer Pachter gesucht ward. Um nicht aufzufallen und Verdacht zu erwecken, gingen die drei Freunde alle Gebäude der Reihe nach durch, indem sie bei dem herumführenden Verwalter sich genau nach dem Ertrage des Rittergutes mit Sachkenntniß erkundigten. Das Herrenhaus betraten sie zuletzt. Es war nicht mehr in gutem Stand erhalten, denn seit der Catastrophe, welche Magnus auf längere Zeit ins Ausland trieb, hatte es keinen bleibenden Bewohner gehabt. Die späteren Pachter nahmen blos zeitweise davon Besitz, gefielen sich aber in der Verwalterwohnung besser, da sie ihren Neigungen und Bedürfnissen mehr entsprach.

Als sie die breite, ehemals mit kostbaren[271] erotischen Pflanzen reich geschmückte Treppe hinaufstiegen, flüsterte Leberecht dem Maulwurffänger leise zu:

»An der dritten Thür rechts lenke die Aufmerksamkeit unseres Begleiters ab und richte es so ein, daß ich ein paar Minuten allein im Zimmer bleiben kann.«

Mit schnellem Augenwink gab Heinrich seine Zustimmung zu erkennen.

»Hier sieht's nicht mehr sehr gräflich aus,« bemerkte Sloboda. »Zeit, Holzwurm und Motte haben arg gewirthschaftet. Man müßte alle Gemächer durchaus neu meubliren und herrichten lassen, wollte man sie mit Vergnügen bewohnen.«

»Es fehlte seither eben ein Herr,« sagte achselzuckend der Begleiter.

»Ah,« unterbrach ihn der Maulwurffänger, »da sind wir ja im Balconzimmer! Wie doch die alten Zeiten wieder lebendig werden! Wie oft bin ich in diesem Garten gelustwandelt! Wie viele tausend Maulwürfe habe ich auf jenen Feldern gefangen! Laßt mich doch nach so langen Jahren wieder einmal einen Blick auf all' die verwilderten Herrlichkeiten thun! Denn dem[272] Gärtner, scheint mir, haben der jetzige Herr Pachter und seine Vorgänger nicht viel zugewendet!«

»Von Herzen gern,« versetzte der sie herumführende Begleiter. »Beliebt es auf den Balcon zu treten? Die Herren folgen uns wohl nach?«

Heinrich nahm den Arm des Begleiters, zog ihn mit sich und verstrickte ihn in ein lebhaftes Gespräch. Leberecht und Sloboda blieben allein im Zimmer zurück. Es war dasselbe, in welchem Haideröschen den ersten Überfall ihres Gebieters so kräftig abwehrte. Noch war es ganz so meublirt, wie damals. Dieselben Tapeten, jetzt nur geschwärzt und mit Spinnengeweben überzogen, bedeckten noch immer die Wände.

»Hier ist es,« sagte Leberecht, indem er gegen einen verborgenen Knopf in der Tapete heftig drückte. Die Wand wich kreischend zurück und öffnete den Eingang zum anstoßenden Zimmer. Ein kaum handbreiter Raum, mit Getäfel verkleidet, schied beide Zimmer von einander. Dies Getäfel öffnete ein Druck nach innen, worauf mehrere Fächer sichtbar wurden, die offenbar[273] zur Aufbewahrung von Kostbarkeiten den ehemaligen Besitzern gedient hatten. Aus einem der Fächer, in denen jetzt nur Spinnen hausten, langte Leberecht ein ansehnliches Volumen sorgfältig eingepackter Schriften heraus, die mit dem wohlbekannten Wappenringe der Boberstein fünffach versiegelt waren. Sloboda sah ihn fragend an.

»Das sind die Documente?«

»Sie sind es.«

»Gott gebe, wohlerhalten!«

»Ja, das gebe Gott!«

Leberecht schob das Packet in die Brusttasche seines weiten Rockes, ließ das Getäfel wieder in seinen Falz, die verborgene Tapetenthür in ihre Fugen gleiten und folgte dem Maulwurffänger auf den Balcon. Dieser hielt den Begleiter noch fest mit Fragen, welche Adrian und seine Brüder betrafen, um dem Freunde möglichst viel Zeit zu ungestörtem Suchen zu verschaffen.

»Nun seid Ihr fertig mit Eurer Musterung?« sagte er jetzt kurz abbrechend. »Dann könnten wir allenfalls unsern Auftrag für erledigt betrachten; denn was mich betrifft, so erspare ich mir ein nochmaliges Beschauen dieser[274] Zimmer. Ich war ehedem darin wie zu Hause.«

Als er in den Blicken Leberechts gelesen hatte, daß er glücklich gewesen sei, übermannte den so gemessenen alten Mann eine unglaubliche Unruhe. Er mußte gewaltsam an sich halten, um den Begleiter nicht zu enttäuschen über den wahren Zweck ihres Besuches. Indeß wußte er doch ihren Aufenthalt möglichst abzukürzen. Noch vor Abend verließen die Greise den Zeiselhof und schlugen den Weg nach Königshain ein.

»Was soll jetzt geschehen?« fragte Sloboda, als er die belebten, von freudiger Erwartung strahlenden Züge seines alten Freundes gewahrte: »Gehen wir zu den Freunden in Deine Heimath?«

»Vor Gericht! Vor Gericht!« rief der Maulwurffänger. »Jetzt sind wir die Herren und sie die Knechte!«

Am nächsten Tage früh gegen eilf Uhr sahen mehre Bewohner der Stadt Görlitz drei Männer in weißen Haaren die gewundene Steintreppe am stattlichen Rathhause hinaufsteigen. Man wunderte sich über diese Alten in ihrer wunderlichen, nirgend mehr üblichen Tracht, und[275] als sie spät am Tage mit feierlicher Miene das Rathhaus wieder verließen, wollte man wissen, daß sie den Hochweisen ein höchst wichtiges Staatsgeheimniß, wo nicht gar eine Verschwörung entdeckt hätten.

1

Diese Angaben beruhen auf Thatsachen.

Quelle:
Ernst Willkomm: Weisse Sclaven oder die Leiden des Volkes. Theile 1–5, Leipzig 1845, S. 261-276.
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