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[80] Welche Stürme habe ich überstanden, welchen Lockungen mein Gemüth verschlossen! Ottomars Oheim, der Bischof, besuchte uns auf dem Landhause ohnweit der Stadt, wo wir seit einigen[80] Wochen wohnen. Zitternd nahte ich mich ihm. Er war ja auch unter denen, die Ottomar von mir rissen, aber er war der Führer seiner Jugend, umfing ihn mit inniger Liebe, das mußte mich versöhnen. Seine würdige Gestalt, das klare geistvolle Auge, erweckte ein sonderbares Vertrauen in mir. Er hat eine Aehnlichkeit mit Ottomar, und ich sagte mir, so wird auch er im Alter aussehen!

Der Ton seiner Stimme dringt sanft ins Gemüth, er ist rein und verkündet Wohlwollen, wie die Natur vom milden Licht umflossen, im Hauche des Abendwindes am Maitag.

Er zog mich ins Fenster, und gab mir einen Brief Ottomars. Nun schien er mir fürwahr ein Bote des Himmels. »Wundert Euch nicht, holdes Fräulein, daß Ihr diese Zeilen aus meiner Hand empfangt. Nicht ungefühlig ist mein Herz den Schmerzen des Lebens, die die Nothwendigkeit zu ertragen gebietet. Gern suche ich sie zu mildern. Die Liebe meines Neffen ist nicht die der gemeinen[81] Art, die sich durch Entfernung und Abgeschlossenheit wie ein Eindruck der Sinne vermindert. Nein, sie ist von der höhern und reinern Natur, die sich zu läutern vermag als ein Ausspruch des bessern Wesens, und endlich zu einem Lichtblick in die Ewigkeit wird. Antwortet ihm aus Eurem zarten Herzen, allein frei, nur vor dem Auge der ewigen Wahrheit redend – es wird Ottomar trösten!«

Als er hinweg war, las ich folgende Zeilen, die ich Dir, meine Bertha, in Abschrift sende – das Original, seine Schriftzüge ruhen an meinem Herz, durchdringen sein innigstes Leben.

Quelle:
Caroline von Wolzogen: Erzählungen. 2 Bände, Band 2, Stuttgart und Tübingen 1826, S. 80-82.
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