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[97] Ich habe knieend die geliebten Züge Deiner Hand gelesen, meine Anna!

Mit Wahrheit erkannte meine ahnende Seele eine höheres Wesen in Dir. Dein großer Sinn schien mir über dem Leben zu stehen,[97] und deutet darüber hinaus. Ich folge ihm – im Dulden.

Was ich geworden wäre, wenn ich im lichten Sonnenschein Deines Herzens immerwährend geathmet hätte. – O, es steht im dämmernden Umriß vor mir, aber groß und herrlich, und mein Schmerz umfaßt das Bild, und in seinem Maaß fühle ich was ich verloren!

Aus den Trümmern zu retten, was wir vermögen – ist es nicht das ewige Loos der Menschheit?

Vergebens rufe ich mir die Worte der Weisheit in die Seele, die aufs Allgemeine gehen, und uns, uns selbst im Ganzen zu betrachten lehren. Ein tausendfältiges Leben war in meiner Brust, das sie jetzt im wilden Schmerz durchtobt. Diesen männlich verbergend, bezwingend all seine Laute, will ich leben, Deine zarte Seele nicht aufregen in den Stürmen meiner Leidenschaft. Gott ergeben wollen wir leiden, das ist der Entschluß meiner bessern Augenblicke, wo die bessere Seele im Streit siegt.[98]

Aber vernimm mit Aufmerksamkeit die Stimme Deines treuesten Freundes, Deines Bruders.

Bleibe in der heitern Region eines rein menschlichen Daseyns. Sey ein Weib in jedem Sinne des Worts, ein Symbol des Liebens, Tragens, Bildens. Nicht in finstrer Abgeschiedenheit von der Thätigkeit in menschlichen Verhältnissen, von den kleinen Freuden, die, wie die Natur in immer neuen Blumen die Erde, das menschliche Daseyn umschwärmen, wenn wir reinen Sinnes sie zu erfassen wissen. Ich dachte mir Dich als die Einzig Geliebte, als den ewig erfrischenden Quell des innern Lebens und Glücks, auch so gern als die Herrscherin in waltender Liebe und Güte, in dem Hause meiner Väter. Als die Mutter der guten Leute, die seit Jahrhunderten unserm Geschlecht angehören – als die Mutter – kaum wage ich die verlorne Seligkeit auszusprechen – meiner Kinder, die den Namen, angeborne Kraft und Tugend meines Stammes, in kräftigen Männern[99] und sittigen Weibern fortbilden würde im Strome der Zeiten. Dankbar würden die Enkel in Liebe und Ehrfurcht auf unsre Bilder schauen, wie wir auf die Bilder der Väter. Laß mich, theure Anna, Dein liebes Bild in dieser edlen Reihe sehen – nur einem Andern gönne es, neben diesem zu stehen. Vielleicht ein würdigeres, ein von mir herzlich geliebtes. Mein Bruder ist sanftrer Sinnesart als ich, obgleich eben so starkfühlend, steht mir in keiner Tugend nach, die Du aus dem eignen Reichthum Deines schönen Herzens mir liehest. Er war mir wie meine zweite Seele von Kindheit an, die in meiner Liebe erwuchs, und dem ich strebte ein würdiges Vorbild zu seyn im Jünglingsalter. – Gib ihm Deine Hand, dieß höchste Glück, worauf ich hoffen durfte. Fürchte nicht für mich. Der Entschluß ist geprüft, ich vermag es zu ertragen, Dich als sein Weib zu sehen, werde es vermögen mich seines Glücks zu erfreuen, in Dir den Segen meines Hauses zu erblicken.

Nach stürmischer Jugend werde ich wallfahrten[100] zu Eurem Glück, wie zu dem Bild eines Heiligen, der uns Frieden gibt, und in dessen Thaten und Opfern wir in stiller Betrachtung Kraft des Glaubens und der Liebe kräftiger in uns wachsen fühlen. Deine Hand wird als Schwester meine Augen zudrücken. Ja, ich vermochte es auszusprechen, ich will, ich wünsche es. Mit himmlischer Güte willst Du selbst mir eine Stimme über Dein Schicksal vergönnen.

Gewähre meinem Adelbert die Freude Deines Anschauens, eröffne ihm den Himmelsschatz Deines Herzens – um daß er hoffen dürfe es zu gewinnen. Beglücken wirst Du Alle. Die alte Mutter wird Dich segnen als einen Friede bringenden Engel, mit dem Leben und Freude ins öde Haus zurückkehrt. Die Deinen werden einwilligen, und Dich mit Lust wieder wandeln sehen auf dem freien grünenden Lebenspfad, entsagend der düstern Abgeschiedenheit. Brächtest Du ein Opfer, geliebteste Anna, so wird es, wie jedes es endlich ist, gekrönt seyn mit dem Segen des innern Friedens.[101]

Quelle:
Caroline von Wolzogen: Erzählungen. 2 Bände, Band 2, Stuttgart und Tübingen 1826, S. 97-102.
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