26

[111] Mit herzlicher Liebe hat mich die edle Frau aufgenommen; ja sie versteht es, ein wundes Herz zu pflegen.

Schwer waren die letzten Tage mit den Meinen. Des Vaters Abreise war entschieden; er selbst wünschte mich zuvor in meinen Ruheplatz einzuführen. Das letzte Abendessen, die letzte Nacht neben den Eltern – O! wie fiel bei jeder kleinen Gewohnheit, jeder kleine Dienst, den ich ihnen leistete – es ist zum letztenmal! – auf mein Herz.

Morgen sucht Dich unser Auge vergebens, sagte mir jeder Blick, und in dem schmerzlichen Lächeln, in dem sie schonend mir ihre Trauer verbergen wollten, lag tausendfältiger Schmerz[111] für mich. Wir wissen nicht wohin es mit uns führt, wenn die Leidenschaft mit eisernem Arm uns ergreift. Ich will suchen mich zu fassen, zu halten im Leben, daß ihre Herzen nicht auch über der Leiche des Kindes brechen.

Alle Gespräche, die nicht in den Kreis des nothwendigen Thuns und Wirkens gehören, sind verbannt, aber ich fühle, daß das mütterliche Auge der guten Aebtissin, die Tiefen meines Herzens durchforscht. Mein Geschäft ist die Aufsicht und der Unterricht der jungen Mädchen, die viele Familien der Gegend diesen frommen Frauen anvertrauen. Diese Thätigkeit nimmt den Verstand wie das Gemüth in Anspruch, deshalb bestimme ich ihn meiner Anna, sagte die treffliche Frau. Die Kinder lieben mich, lauschen auf meine Winke, kein Wort geht bei ihnen verloren; sie hat recht, mich in diesem Geschäft zur sorgfältigsten Wachsamkeit über mich selbst zu ermuntern. Wie mancher Aufschluß über unser Daseyn, kommt, im Gang des Unterrichts, in den Fragen der Kleinen, zur[112] Sprache. Sanftmuth und Ergebung wird mir zur unabläßlichen Pflicht. Ich werde meinen süßen Träumen entzogen, die mich nur in später Nacht in meiner Zelle labend umschweben. Ein Traumleben ist ja nur das Leben der Erde, so nannten es die weisesten Menschen.

An seiner Seite wäre es ja auch nur das gewesen – hingeflossen in den großen Strom der allverschlingenden Zeit – und doch, Bertha, übermannt mich oft die unendliche Sehnsucht, die gleichsam mein Herz aus der Brust reißt. Die Mutter ist ruhiger. Sie hat Bekanntschaft mit Ottomars Mutter gemacht. Die guten Seelen betrauern gemeinsam das Schicksal ihrer Kinder, aber ihrer Tugenden sollen sie sich erfreuen – das verleihe uns die ewige Liebe.

Nie schaue ich am Morgen nach der Kuppel des Doms, ohne zu fühlen, daß mir eine neue Kraft aufgeht. Er betet für mich.[113]

Quelle:
Caroline von Wolzogen: Erzählungen. 2 Bände, Band 2, Stuttgart und Tübingen 1826, S. 111-114.
Lizenz:
Kategorien: