38. Anna an Bertha

[145] So still auch meine Tage hinfließen, in liebevoller Thätigkeit für die Kinder, die mir immermehr[145] ins Herz wachsen, so vermag ichs nicht, die Gewalt dieser Erscheinung, die so mächtig in mein Leben griff, zu besiegen. Sie dringt hervor aus dem tiefsten Schatten meiner Seele, und an ihrer Gluth versiegt mein Leben.

Ich habe ihn gesehen – ich täusche mich nicht. Sein Auge suchte mich hinter den Gittern des Chors an einem Fest, wo die Kirche voll Menschen war: es war derselbe Blick, der mir das Herz entriß. Sinnlos fiel ich in die Arme der Mutter – und als ich aus der Ohnmacht erwachte, war die Kirche leer. Noch als ich nach meiner Zelle zurück wankte, umgab mich schauerlich die Seligkeit seiner Gegenwart. Ihn zu schonen, durfte ich nicht reden, mir keine Frage erlauben, und Alles in mir selbst verarbeiten. Zweifeln und Hoffen – ach, auf was dürfte ich hoffen? Muß ich ihm nicht die Stille wünschen, die mir fehlt?

Immer nah ist uns das Andenken derer, die wir lieben, aber dürfen wir nicht annehmen, es sind unsrer Sehnsucht Momente des überirdischen[146] Trostes gewährt, in denen die Gedanken der Getrennten sich in geistiger Gemeinschaft finden außer den Banden der sinnlichen Welt?

Noch eines Abends im Klostergarten hatte ich ein unaussprechliches Gefühl seiner Nähe. Mir war es, als schwebte seine Gestalt mir aus der Luft entgegen, so daß mir der Athem entging, und ich mich auf eine Bank setzen mußte. Ich kämpfte dagegen, hielt mich zusammen im Gespräch mit meiner Emma, die mich bald verlassen wird – aber immer lichter wurde die Erscheinung, und schien mir endlich aus dem Abendstern entgegen zu kommen.

Es ist wohl recht thöricht, Dir dieß Alles zu sagen – ich will ja nur auf ein Wiedersehen jenseits hoffen, und dennoch nehme ich solch tröstende Momente mit Dank an. – Ists der Engel der Liebe, der mir sie sendet? Hat nicht alles Gute seinen schützenden Engel?[147]

Quelle:
Caroline von Wolzogen: Erzählungen. 2 Bände, Band 2, Stuttgart und Tübingen 1826, S. 145-148.
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