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[195] Stündlich, augenblicklich erwarte ich Nachricht von Philipp – bei jedem Klopfen an der Thür, bei jedem Pferdetritt die Straße herauf, schlägt mein Herz hoch. Der Vater beruhigt mich, in seinen Worten liegt oft eine Deutung in eine lichte Ferne – ist's ein süßer Wahn der Vaterliebe?[195]

Noch sehe ich nur dunkle Wolken.

Er liest viel mit mir in der deutschen Bibel, die uns Luther geschenkt. Eine Gotteskraft des heiligsten Vertrauens stärkt mich. Die Leitung des Allmächtigen scheintmir gewisser, näher in den wohlbekannten Worten unserer Sprache. Lehre und Verheißung dringen inniger an mein Herz; wie in einem andern, geistigern Element, empfinde ich Alles klarer und höher.

Hat eine menschliche Rede höheres ausgesprochen, als die des Jüngers des Herrn, den er vor allen liebte; als der hohe Paulus, wenn er den göttlichen Sinn der Liebe erschließt?

Ich fühle mich der ganzen Natur inniger verwandt; kein Streit liegt in mir, und der Glaube an die Göttlichkeit dieser Worte, macht mich einträchtig mit Allen.

Da ist kein Ausschließen, kein Beschränken, kein angstvolles Zittern.

Wenn wir uns mit Wahrheit und Demuth nahen, dringt uns der Sinn der göttlichen Offenbarung entgegen, als ein frischer, reinigender[196] Quell, aus dem die ganze Menschheit Liebe und Versöhnung zu schöpfen vermag.

Alle menschlichen Formeln fallen ab von dem in Liebe befreiten Gemüth. Da ist nur Fülle und Klarheit. Der Geist spricht zum Geist. Meine Ueberzeugung folgt der des Vaters – O, wo wird sich Ottomar hinwenden?

Quelle:
Caroline von Wolzogen: Erzählungen. 2 Bände, Band 2, Stuttgart und Tübingen 1826, S. 195-197.
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