59

[209] Fest, wie ich im Glauben und Hoffen, fand ich die geliebte Mutter wieder. Wie süß ist mir das Gefühl ihrer Freude an mir, mich dem Leben wiedergegeben zu sehen, ihr wiedergegeben in ungetrenntem Zusammenseyn.

Jede kleine Freude, die wir zusammen genießen, jede kleine Sorge, die ich ihr erleichtere, alles nehmen wir an als ein Geschenk der waltenden Vaterhand aus den Wolken, die uns so wunderbar leitete.

Auch Ottomars Mutter habe ich gesehn. Das Lächeln der theilnehmenden Freude über einer zerrissenen Brust, hat etwas Heiliges.

O! sie kennt Ottomars Liebe, denn sie drückte mich an ihr Herz wie eine Tochter. Wie gern ruht mein Auge auf ihren Zügen, die viel Aehnlichkeit mit den seinen haben. Sie ermüdet nicht in hundert wiederholten Fragen nach allen kleinen Umständen meiner Errettung durch Ottomar, meines Zusammenlebens mit ihm, und im zärtlichsten Dank für meine Sorgfalt in[209] seiner Pflege. Sie führte uns auf ihr Landhaus, wo man eine weite Gegend überschaut.

Die Kuppel des Doms, wo ich so Schreckliches litt, deren Anblick mich aus dem Kloster so wundersam tröstete, auch diese habe ich wiedergesehen. Geröthet, wie damals, im Schimmer der ewigerfreuenden Sonne, leuchtete sie mir entgegen – milder, lieblicher, denn auch ein Strahl der Hoffnung glüht in meinem Innern. Bertha, wie es auch werden mag, ich bin still, denn ein überirdischer Trost bleibt mir im Gefühl seiner Liebe, der seligen Tage mit ihm, deren Erinnerung mir nichts entreißen kann. Was auch sein Herz wählen mag – von ihm kommt mein Geschick – und er kann nur das Edelste wählen!

Ich mußte mit der Mutter zum Grabe ihres Sohnes wallfahrten. Laß uns nun beten, mein Kind, für den, der mir noch bleibt, sagte sie, und wir knieten nieder auf den Stufen des Altars der kleinen Kapelle, die den Todten geweiht ist. Wie inbrünstig ich betete, fühlst[210] Du, meine Bertha; mir wurde ein tröstender Glaube der Erhörung.

Auch für Deinen Vater will ich mit Dir beten, sagte die Gute – O möchten wir hinfort nur eine Familie ausmachen, sagte sie, als wir die Kapelle verließen! Wir werden es in treuer Freundschaft! sagte ich, indem ich ihre Hand küßte. Ich werde sie ehren und trösten, wie ich vermag; trägt nicht Ottomar ihre Züge?

Jede Nachricht vom Heer theilen wir uns mit. Nach allen Umständen müssen die Tage der Entscheidung jetzt nahe seyn.

Quelle:
Caroline von Wolzogen: Erzählungen. 2 Bände, Band 2, Stuttgart und Tübingen 1826, S. 209-211.
Lizenz:
Kategorien: