Drittes Kapitel

[344] Schon mit Tagesanbruch war eine fiebernde Bewegung durch die Arbeiterdörfer gegangen, jene Bewegung, die jetzt auf allen Wegen in der ganzen Landschaft immer mehr anschwoll. Allein der verabredete Aufbruch konnte nicht stattfinden; es verbreitete sich die Nachricht, daß Dragoner und Gendarmen durch die Ebene zögen. Man erzählte, sie seien während der Nacht aus Douai angekommen; man beschuldigte Rasseneur, die Kameraden verraten zu haben, indem er Herrn Hennebeau von ihren Absichten verständigte; eine Schlepperin versicherte, sie habe gesehen, wie ein Diener die Depesche zum Telegraphenamt trug. Die Arbeiter ballten drohend die Fäuste und lauerten beim fahlen Lichte der Morgendämmerung hinter ihren Fensterläden, ob die Soldaten kämen.

Gegen halb acht Uhr – die Sonne ging eben auf – kam ein anderes Gerücht in Umlauf, das die Ungeduldigen beruhigte. Es handle sich bloß um einen militärischen Übungsmarsch, wie ihn seit dem Ausbruch des Streiks der Kommandierende General auf Wunsch des Präfekten von Lilie wiederholt vornehmen ließ. Die Streikenden verabscheuten diesen Beamten, dem sie vorwarfen, sie durch das Versprechen einer versöhnenden[344] Vermittlung getäuscht zu haben, die sich darauf beschränke, daß er alle acht Tage die Truppen durch Montsou marschieren lasse, um die Arbeiter in Schach zu halten. Wenn die Dragoner und Gendarmen, nachdem sie in hellem Trab über die hartgefrorenen Straßen der Dörfer geritten waren, wieder ruhig den Weg nach Marchiennes einschlugen, lachten die Arbeiter über diesen einfältigen Präfekten mit seinen Soldaten, die Reißaus nahmen, wenn die Dinge sich einmal hitziger gestalteten. Bis neun Uhr hielten sie an sich, blieben ruhig vor ihren Häusern auf dem Straßenpflaster stehen und blickten den letzten Gendarmen nach. Die Bürger von Montsou schliefen noch in ihren großen Betten. Frau Hennebeau verließ zu Wagen das Direktionsgebäude; Herr Hennebeau saß ohne Zweifel bei der Arbeit, denn das Haus lag still und geschlossen wie ausgestorben da. Keine der Gruben war militärisch bewacht; es war der verhängnisvolle Mangel an Vorsicht in der Stunde der Gefahr, die natürliche Dummheit bei Katastrophen; alles Fehler, die eine Regierung begehen kann, wenn es gilt, Tatsachen mit Klugheit zu erfassen. Es schlug neun Uhr, als die Bergleute endlich den Weg nach Vandame einschlugen, um sich zu dem Stelldichein zu begeben, das man am vorhergehenden Tage im Walde beschlossen hatte.

Etienne begriff sogleich, daß er in Jean-Bart kaum die dreitausend Kameraden beisammen haben werde, auf die er zählte. Viele glaubten, die Kundgebung sei verschoben worden, und das schlimmste war, daß zwei oder drei Züge, die schon unterwegs waren, die gute Sache zu gefährden drohten, wenn er sich nicht an ihre Spitze stellte. Nahe an hundert Mann, die vor der Morgendämmerung aufgebrochen, mußten unter die Buchen des Waldes flüchten, um die andern zu erwarten. Suwarin, den der junge Mann zu Rate zog, zuckte nur mit den Achseln: zehn entschlossene Burschen taugen mehr als eine ganze Menge, meinte er. Er vertiefte sich wieder in das Buch, das aufgeschlagen[345] vor ihm lag; er wollte nicht mittun. Alles drohe wieder in Gefühlsausbrüchen zu zerflattern, während es so einfach gewesen wäre, Montsou in Brand zu stecken. Als Etienne das Haus verließ, bemerkte er Rasseneur, der ganz blaß am eisernen Ofen saß, während sein Weib, das in dem ewigen schwarzen Kleid noch länger schien, in scharfen, wenn auch höflichen Worten auf ihn einsprach.

Maheu war der Ansicht, man müsse Wort halten. Eine solche Verabredung sei heilig. Allein die Nacht hatte das Fieber aller besänftigt; er fürchtete jetzt ein Unglück und erklärte, man habe die Pflicht, sich am Ort der Versammlung einzufinden, um die Kameraden in ihrem guten Recht zu unterstützen. Frau Maheu nickte zustimmend. Etienne wiederholte selbstgefällig, man müsse revolutionär vorgehen, ohne jemandes Leben anzutasten. Vor dem Aufbruch wies er seinen Brotanteil zurück, den man ihm gestern samt einer Flasche Wacholderbranntwein gegeben hatte; aber er trank drei Gläschen nacheinander: das sei gegen die Kälte, meinte er. Er nahm sogar in der Feldflasche einen Schnapsvorrat mit. Alzire sollte die Kinder bewachen. Der alte Bonnemort blieb zu Bett; er war am gestrigen Tage zuviel herumgelaufen, und darum taten ihm die Beine weh.

Aus Vorsicht gingen nicht alle zusammen. Johannes war schon längst verschwunden. Maheu und sein Weib eilten auf Seitenwegen in die Richtung von Montsou, während Etienne seinen Weg nach dem Walde nahm, um dort die Kameraden zu treffen. Unterwegs holte er eine Schar Weiber ein, unter denen er die Brulé und die Levaque erkannte; sie aßen Kastanien, welche die Mouquette gebracht hatte, und verschlangen auch die Schalen der Frucht, »damit das Zeug besser im Magen halte«. Im Walde fand Etienne niemand; die Kameraden waren schon in Jean-Bart. Da begann er zu laufen und traf gerade in dem Augenblick ein, als Levaque mit etwa hundert Leuten in den Werkhof eindrang.[346] Von allen Seiten kamen Grubenarbeiter; Maheu und sein Weib auf der Heerstraße, die Weiber querfeldein, alle in regellosen Haufen ohne Führer, ohne Waffen, strömend wie Wasser, das die Hänge hinabläuft. Etienne bemerkte Johannes, der einen Brückensteg erklommen hatte und sich dort festsetzte, als sei er im Theater. Er beschleunigte seinen Lauf und betrat mit den ersten den Werkhof. Es waren erst etwa dreihundert Leute da.

Eine Stockung trat ein, als Deneulin oben auf der Treppe erschien, die zum Aufnahmesaal führte.

»Was wollt ihr?« fragte er mit lauter Stimme.

Nachdem er die Kalesche hatte verschwinden sehen, aus der seine Töchter ihm noch zugelächelt hatten, war er – von einer unbestimmten Unruhe ergriffen – nach der Grube zurückgekehrt. Er fand jedoch alles in Ordnung; die Leute waren eingefahren; die Förderung war im Gange. Er beruhigte sich wieder und plauderte eben mit dem Oberaufseher, als man ihm meldete, daß die Streikenden nahten. Er eilte zu einem Fenster des Sichtungsschuppens und empfand angesichts dieser wachsenden Menge, die den Werkhof überflutete, sogleich ein Gefühl der Ohnmacht. Wie sollte er diese auf allen Seiten offenen Gebäude verteidigen? Er hätte kaum zwanzig seiner Arbeiter um sich scharen können. Er war verloren.

»Was wollt ihr?« wiederholte er, bleich vor verhaltener Wut, in letzter Anstrengung, dem Unglück mutig die Stirn zu bieten.

In der Menge entstand ein Drängen und Gemurre. Schließlich trat Etienne vor und sagte:

»Mein Herr, wir sind nicht gekommen, um Ihnen ein Leid zuzufügen. Allein die Arbeit muß überall eingestellt werden.«

Deneulin nannte ihn rundheraus einen Schwachkopf.

»Glauben Sie mir Gutes zu tun, wenn Sie die Arbeit bei mir hindern? Das ist geradeso, als wenn Sie dicht hinter mir eine Flinte abschössen ... Ja, meine Leute[347] sind in der Grube und werden nicht ausfahren – oder ihr müßtet vorher mich selbst umbringen.«

Diese rauhen Worte verursachten Geschrei. Maheu mußte Levaque zurückhalten, der in drohender Haltung hervorstürzte, während Etienne noch immer unterhandelte und Deneulin von der Gesetzmäßigkeit ihres revolutionären Vorgehens zu überzeugen suchte. Allein dieser antwortete mit dem Recht auf Arbeit. Er lehnte es übrigens ab, sich über diese Dummheiten zu äußern; er wollte Herr sein im eigenen Hause. Er machte sich nur Vorwürfe darüber, daß er nicht vier Gendarmen hätte, um dieses ganze Lumpenpack hinwegzufegen.

»Ja, das ist mein Fehler; ich verdiene, was mir geschieht. Kerlen eures Schlages gegenüber gibt es nur eins: die Gewalt. Die Regierung bildet sich ein, euch durch Zugeständnisse zu gewinnen. Ihr werdet sie aber einfach zu Boden werfen, wenn sie euch Waffen geliefert hat.«

Etienne bebte vor Wut, hielt aber noch an sich.

»Herr,« sagte er mit gedämpfter Stimme, »ich bitte Sie, den Befehl zu geben, daß Ihre Arbeiter heraufgeholt werden; ich kann sonst für meine Kameraden nicht einstehen. Sie können dadurch einem Unglück vorbeugen.«

»Nein, lassen Sie mich in Frieden! Ich kenne Sie gar nicht! Sie gehören nicht zu meiner Grube, Sie haben mit mir nicht zu unterhandeln ... Nur Räuber durchstreifen so das Land, um Häuser zu plündern.«

Lautes Geschrei übertönte jetzt seine Stimme; besonders die Weiber beschimpften ihn. Er aber fuhr fort, ihnen Trotz zu bieten, und fühlte eine Erleichterung in dem Freimut, womit er sein Herz ausschüttete. Da das Verderben sicher war, fand er es feige, sich auf nutzlose Plattheiten zu verlegen. Doch ihre Zahl nahm immer noch zu; nahezu fünfhundert Leute drängten jetzt zur Tür, und er war in Gefahr niedergetreten zu werden, als sein Oberaufseher ihn heftig zurückriß.[348]

»Um des Himmels willen, Herr! ... Das gibt Blutvergießen. Wozu ist es gut, Menschen für nichts und wieder nichts töten zu lassen?«

Er wehrte sich noch; er protestierte mit einem letzten Schrei, den er der Menge zuschleuderte.

»Banditen, ihr werdet sehen, wenn wir erst wieder die Stärkeren sind!«

Man führte ihn hinweg; ein Ansturm hatte die ersten der Schar auf die Treppe gedrängt, deren Geländer verbogen wurde. Die Weiber stießen am meisten, schrien und trieben die Männer an. Die Tür gab nach; sie war ohne Schloß, bloß durch einen Schieber verriegelt. Doch die Treppe war zu schmal; die Menge stand eng zusammengedrängt, und es hätte lange gewährt, bis sie eingedrungen, wenn die Nachhut nicht auf den Einfall gekommen wäre, durch die anderen Öffnungen einzudringen. In weniger als fünf Minuten gehörte ihnen die ganze Grube; sie überfluteten die drei Stockwerke unter wütendem Schreien, fortgerissen von dem Taumel des Sieges über diesen Besitzer, der sich ihnen widersetzt hatte.

Maheu, der als einer der ersten vorgedrungen war, sagte entsetzt zu Etienne:

»Sie sollen ihn nicht töten!«

Dieser lief schon herbei; als er begriffen, daß Deneulin sich in der Aufseherstube verrammelt hatte, antwortete er:

»Was denn? Wäre es unsere Schuld? So ein Tollkopf!«

Indes war auch er von Besorgnis erfüllt und noch zu ruhig, um der Zornesaufwallung nachzugeben. Er litt auch in seinem Stolz als Anführer, sobald er sah, wie die Bande sich seiner Autorität entzog und außer Rand und Band geriet weit über das Maß der kühlen Vollstreckung des Volkswillens hinaus, wie er sie sich gedacht hatte. Vergebens forderte er Kaltblütigkeit; vergebens schrie er, man dürfe nicht durch Handlungen unnützer Zerstörung den Feinden recht geben.[349]

»Zu den Heizkesseln!« heulte die Brulé. »Laßt uns die Feuer auslöschen!«

Levaque, der eine Feile gefunden hatte, schwang diese wie einen Dolch und übertönte den Tumult mit einem furchtbaren Schrei:

»Wir durchschneiden die Kabel! Wir durchschneiden die Kabel!«

Bald wiederholten alle diesen Ruf; bloß Etienne und Maheu fuhren fort zu widersprechen; sie verloren den Kopf und schrien in den Tumult hinein, ohne sich Gehör zu verschaffen. Endlich konnte Etienne sich vernehmlich machen:

»Aber es sind Leute in der Grube, Kameraden!«

Der Lärm verstärkte sich noch; auf allen Seiten wurde geschrien:

»Um so schlimmer! Sie hätten nicht einfahren sollen! Es geschieht ihnen recht, den Verrätern! ... Ja, ja, sie sollen dort bleiben! ... Übrigens sind ja die Leitern da!«

Als der Gedanke an die Leitern sie noch hartnäckiger gemacht hatte, begriff Etienne, daß er nachgeben müsse. In der Furcht vor einem noch größeren Unglück eilte er zur Maschine; er wollte die Schalen heraufkommen lassen, damit die durchgesägten Kabel nicht auf sie niederfielen und sie mit ihrem Gewicht zerschmetterten. Der Maschinist war verschwunden, ebenso wie die wenigen oben beschäftigten Arbeiter. Etienne bemächtigte sich des Kolbens und handhabte ihn, während Levaque und zwei andere das gußeiserne Gebälk erklommen, das die Räder trug. Kaum waren die Schalen verankert, als man das Kreischen der Feile hörte, die das stählerne Kabel durchsägte. Tiefe Stille trat ein; das Geräusch der Feile schien die ganze Grube zu füllen; alle hoben den Kopf, schauten und hörten, von großer Bewegung ergriffen. Maheu, der in der ersten Reihe stand, wurde von grausamer Freude erfüllt, als ob die Zähne der Feile sie alle von dem Unglück befreiten.[350]

Die Brulé war inzwischen über die Treppe der Baracke verschwunden und schrie unablässig:

»Löscht die Feuer aus! Zu den Kesseln! Zu den Kesseln!«

Eine Schar von Weibern folgte ihr. Frau Maheu eilte hinzu, um sie zu hindern, alles zu zerstören, gleichwie ihr Mann die Kameraden hatte zur Vernunft bringen wollen. Sie war die Besonnenste unter allen; man könne sein Recht fordern, ohne Schaden zu stiften, meinte sie. Als sie das Heizhaus betrat, hatten die Weiber schon die zwei Heizer verjagt; die Brulé hockte mit einer großen Schaufel vor einem der Öfen und leerte ihn, die weißglühenden Kohlen auf die Ziegel des Vorplatzes schleudernd, wo sie mit schwarzem Rauche weiterbrannten. Es waren zehn Öfen für die fünf Dampfkessel da. Alle Weiber stürzten sich mit wilder Wut auf das Zerstörungswerk; die Levaque schwang ihre Schaufel mit beiden Händen, die Mouquette schürzte ihren Rock auf, damit er nicht Feuer fange; sie standen blutrot im Widerschein des Brandes, schweißtriefend, mit wirrem Haar, wie beim Hexensabbat. Der Kohlenhaufen ward höher und höher; die Decke des weiten Raumes barst unter der furchtbaren Hitze.

»Genug!« rief die Maheu. »Die Bude geht in Flammen auf!«

»Um so besser!« antwortete die Brulé. »Es ist dann wenigstens ganze Arbeit ... Donner Gottes! Ich sagte ihnen, daß ich sie den Tod meines Mannes entgelten lassen will!«

In diesem Augenblick hörte man die schrille Stimme Johannes'.

»Aufgepaßt! Ich lösche die Feuer aus!«

Er war als einer der ersten eingedrungen und durch die Menge gehumpelt, entzückt über diesen Wirrwarr und überall suchend, was er Böses verüben könne; er kam auf den Gedanken, die Ventile zu öffnen, um den Dampf ausströmen zu lassen. Die fünf Kessel leerten[351] sich mit sturmartigem Brausen und Zischen, daß einem die Ohren gellten. Alles war in Dampf gehüllt, die Kohle verblaßte, die Weiber schienen nur noch Schatten mit verschwommenen Bewegungen. Der Knabe allein war sichtbar; er hatte die Galerie erstiegen, und man bemerkte ihn hinter den weißen Dampfwolken, wie er – das breite Maul bis zu den Ohren gespalten – vergnügt grinste, weil es ihm gelungen, diesen Orkan zu entfesseln.

Es dauerte nahezu eine Viertelstunde. Man hatte einige Kübel Wasser auf die Kohlenhaufen geschüttet, um sie vollends auszulöschen; damit war die Feuersgefahr beseitigt. Aber die Wut der Menge war nicht gedämpft, vielmehr neu aufgestachelt. Mit Hämmern bewaffnete Männer stiegen hinunter, die Weiber ergriffen Eisenstangen, und man sprach davon, die Maschinen zu zerschlagen, die Grube vollends zu zerstören.

Etienne, den man benachrichtigt hatte, eilte mit Maheu herbei. Fortgerissen von diesem glühenden Rachefieber, war auch er berauscht. Er kämpfte indes, er beschwor sie ruhig zu sein, da nunmehr die durchschnittenen Kabel, die ausgelöschten Feuer, die leeren Dampfkessel die Fortsetzung der Arbeit unmöglich machten. Man hörte wieder nicht auf ihn und war im Begriff ihn zu überschreien, als draußen vor einer kleinen Tür, wo der Leiternschacht mündete, ein großer Tumult entstand.

»Nieder mit den Verrätern! ... Die schändlichen Feiglinge! ... Nieder mit ihnen! ...«

Die ersten Arbeiter stiegen aus der Grube. Sie standen blinzelnd da, geblendet von der Tageshelle. Dann zogen sie ab, suchten die Straße zu erreichen und zu entkommen.

»Nieder mit den Feiglingen! Nieder mit den falschen Brüdern!«

Die ganze Schar der Ausständigen war herbeigeeilt. In weniger als fünf Minuten war nicht ein Mann mehr in den Gebäuden; die Fünfhundert von Montsou stellten sich in zwei Reihen auf und zwangen die Arbeiter[352] von Vandame, diese Verräter, die eingefahren waren, zwischen ihnen durchzuziehen. Bei jedem neuen Arbeiter, der mit zerfetzten Kleidern und geschwärztem Gesicht bei der Pforte des Schlotes erschien, erneuerten sich die Schmährufe, und grausame Scherze empfingen ihn. Es drohte ein Hagel von Faustschlägen, während der Zug der armen Teufel fortdauerte, die zitternd die Beschimpfungen ruhig ertrugen und nach den erwarteten Hieben froh waren, wenn sie die Grube endlich hinter sich hatten und laufen konnten.

»Ei, zum Teufel! Wie viele sind denn da drinnen?« fragte Etienne.

Er war erstaunt, noch immer Leute hervorkommen zu sehen, und es ärgerte ihn, daß es sich nicht um einige Arbeiter handelte, die durch den Hunger genötigt und durch die Aufseher eingeschüchtert eingefahren waren. Man hatte ihn also im Walde belegen: die ganze Belegschaft von Jean-Bart war eingefahren. Doch als er Chaval auf der Schwelle erblickte, stürzte er mit einem Schrei hinzu.

»Donner Gottes über dich! Zu diesem Stelldichein also hast du uns gerufen?«

Verwünschungen wurden laut, man drängte sich heran, um sich auf den Verräter zu werfen. Wie: er hatte gestern mit ihnen geschworen, und jetzt fand man ihn mit den andern in der Grube! Wollte er sich über sie lustig machen?

»Faßt ihn! In den Schacht mit ihm!«

Chaval war schreckensbleich geworden und stammelte irgendwelche Erklärungen. Allein Etienne schnitt ihm das Wort ab; er war außer sich, von Wut ergriffen.

»Du wolltest mittun, du wirst mittun ... Vorwärts, marsch, Halunke!«

Doch ein anderer Schrei übertönte seine Stimme. Katharina war zum Vorschein gekommen, geblendet von der hellen Sonne, betroffen, mitten unter diese Wilden geraten zu sein. Ihre Beine waren wie zerschlagen, nachdem sie die hundertzwei Leitern erstiegen[353] hatte, und ihre Handflächen bluteten. Sie wollte sich einen Augenblick verschnaufen, als die Maheu, sie erblickend, mit erhobener Hand auf sie losstürzte.

»Du auch, Dirne? ... Wenn deine Mutter Hungers stirbt, verrätst du sie wegen dieses Lumpen?«

Maheu hielt den Arm zurück und verhinderte so den Backenstreich. Aber er schüttelte seine Tochter und machte ihr – dem Beispiele seines Weibes folgend – wütende Vorwürfe wegen ihres Betragens. Beide hatten den Kopf verloren und schrien stärker als die Kameraden.

Der Anblick Katharinas hatte Etienne vollends erbittert.

»Vorwärts! Zu den anderen Gruben! Und du kommst mit uns, schmutziges Schwein!«

Chaval hatte knapp Zeit, seine Holzschuhe aus der Baracke zu holen und eine Wolljacke über seine frierenden Schultern zu werfen. Alle zerrten ihn fort und zwangen ihn, in ihrer Mitte zu laufen. Auch Katharina – die völlig den Kopf verloren hatte – zog eilig ihre Holzschuhe an, knöpfte die alte Männerjacke zu, die sie seit dem Eintritt der Kälte trug, und lief hinter ihrem Freund her; sie wollte ihn nicht verlassen; denn sie war überzeugt, daß man ihn umbringen wolle.

In zwei Minuten leerte sich Jean-Bart. Johannes, der ein Horn gefunden hatte, blies aus Leibeskräften hinein und entlockte ihm rauhe Töne, als gelte es eine Ochsenherde zu sammeln. Die Weiber, die Brulé, die Levaque, die Mouquette, rafften ihre Röcke, um besser laufen zu können, während Levaque eine Hacke schwang wie ein Tambourmajor seinen Stab. Andere Kameraden stießen zur Bande, die jetzt an tausend Köpfe zählte und sich, ohne jede Ordnung, wie ein aus den Ufern getretener Strom über die Straße ergoß. Der Weg, der aus dem Werk hinausführte, war zu schmal; die Pfahlhecken wurden niedergebrochen.

»Zu den Gruben! Nieder mit den Verrätern! Keine Arbeit mehr!«[354]

Jean-Bart versank plötzlich in tiefe Stille. Kein Mensch, kein Laut. Deneulin verließ das Aufseherzimmer und machte sich allein – jede Begleitung abwehrend – an die Untersuchung der Grube. Er war bleich, sehr ruhig. Zuerst blieb er vor dem Aufzugsschachte stehen, hob die Augen und betrachtete die durchschnittenen Kabel; die Enden des stählernen Seiles hingen herab; der Biß der Feile hatte eine frische Wunde zurückgelassen, die aus dem Schwarz der Schmierfette hervorschimmerte. Dann ging er zur Maschine hinauf, betrachtete die Kurbelstange, die unbeweglich war wie das Gelenk eines von der Lähmung getroffenen kolossalen Gliedes, betastete das schon erkaltete Metall, wobei er zusammenschauerte, als habe er einen Toten berührt. Dann stieg er zu den Kesseln hinab, ging langsam an den erloschenen Öfen vorbei, die weit gähnend und mit Wasser übergossen dastanden, stieß mit dem Fuß an die Röhren, die einen hohlen Klang gaben. Es war zu Ende; sein Ruin war eine ausgemachte Sache. Selbst wenn er die Kabel ausbessern, die Feuer wieder anzünden ließ: wo würde er Arbeiter finden? Noch zwei Wochen Streik, und er war bankrott. In dieser Gewißheit seines Unglücks empfand er keinen Haß mehr gegen die Räuber von Montsou; er fühlte die Mitschuld aller, den allgemeinen, hundertjährigen Fehler. Es waren Tiere, ohne Zweifel; aber Tiere, die nicht lesen konnten und Hungers starben.

Quelle:
Zola, Emile: Germinal. Berlin [1927], S. 344-355.
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