Viertes Kapitel

[355] Unter dem fahlen Winterhimmel zog der Trupp durch die in das weiße Winterkleid gehüllte flache Ebene und ergoß sich von der Straße über die Rübenfelder.

Bei dem »Ochsengabel« genannten Feld nahm Etienne die Führung in die Hand. Er gab Weisungen aus und ordnete den Zug. Johannes galoppierte voran und entlockte[355] dem Horn greuliche Klänge. In den ersten Reihen marschierten die Weiber, einige mit Stöcken bewaffnet, die Maheu mit wildflammenden Augen, welche die verheißene Stadt der Gerechtigkeit zu suchen schienen; die Brulé, die Levaque, die Mouquette schritten tüchtig aus unter ihren Lumpen gleich Soldaten, die in den Krieg ziehen. Wenn es zu einem Zusammenstoß komme, werde man ja sehen, ob die Gendarmen es wagten, auf Weiber einzuhauen. Ihnen folgten die Männer, mit Eisenstangen bewaffnet, von der Hacke Levaques überragt, deren Schneide in der Sonne glänzte. In der Mitte marschierte Etienne, der Chaval nicht aus den Augen ließ und ihn zwang, vor ihm zu gehen, während hinter ihm Maheu schritt, mit düsterer Miene von Zeit zu Zeit auf seine Tochter Katharina blickend, die einzige Weibsperson unter den Männern, die in ihrer Hartnäckigkeit neben ihrem Liebsten blieb, damit ihm kein Leid geschehe.

Nun erscholl ein neuer Schrei:

»Brot! Brot! Brot!«

Es war Mittag; der Hunger der sechs Streikwochen erwachte in den leeren Bäuchen, noch vermehrt durch diesen Lauf über Stock und Stein. Die wenigen Brotrinden vom Morgen und die Kastanien der Mouquette waren längst verdaut; die Magen schrien, und diese Qual verstärkte noch die Wut gegen die Verräter.

»Zu den Gruben! Keine Arbeit mehr! Brot! Brot!«

Etienne, der am Morgen im Dorfe abgelehnt hatte, seinen Teil zu essen, hatte ein unerträgliches Gefühl des Reißens in der Brust. Er beklagte sich nicht, aber er griff von Zeit zu Zeit mechanisch nach seiner Feldflasche und nahm einen Schluck Wacholderbranntwein; er fror so arg, daß er es für nötig hielt, um sein Vorhaben zu Ende zu führen. Seine Wangen erhitzten sich; eine Flamme loderte in seinen Augen. Indes bewahrte er seine Besonnenheit, er wollte unnütze Zerstörungen vermeiden.[356]

Als man die nach Joiselle führende Straße erreichte, zog ein Häuer von Vandame, der sich der Bande angeschlossen hatte, aus Rache gegen seinen Herrn die Kameraden nach rechts und heulte:

»Nach Gaston-Marie! Man muß die Pumpe stillegen! Jean-Bart muß ersäuft werden!«

Schon machte die Menge kehrt trotz der Zureden Etiennes, der sie bat, das Leerpumpen der Grube nicht zu hindern. Wozu sollte man die Galerien zerstören? Dieser Gedanke empörte sein Arbeitergewissen trotz seiner augenblicklichen Erbitterung. Auch Maheu fand es ungerecht, an einer Maschine Vergeltung zu üben. Doch der Häuer stieß seinen Racheschrei weiter aus, und Etienne mußte ihn überschreien.

»Nach Mirou!« rief er. »Dort gibt es noch Verräter in den Gruben!«

Mit einer Handbewegung hatte er die Bande auf den Weg nach links zurückgetrieben, während Johannes sich wieder an die Spitze stellte und stärker in das Horn blies. Es entstand ein großes Durcheinander. Gaston-Marie war zunächst gerettet.

Die vier Kilometer, die sie von Mirou trennten, wurden im Laufschritt, mit dem man die schier endlose Fläche durchmaß, in einer halben Stunde zurückgelegt. Der Kanal durchschnitt die Ebene wie ein langes Band von Eis. Nur die kahlen Bäume an den Ufern des Kanals, durch den Frost in riesige Kandelaber verwandelt, unterbrachen die Eintönigkeit der Ebene, die sich am fernen Horizont verlor wie in einem Meere. Montsou und Marchiennes lagen hinter einer Erdfalte verborgen.

Sie kamen eben bei der Grube an, als sie einen Aufseher auf einem Brückensteg des Sichtungsschuppens bemerkten, der dort Aufstellung genommen hatte, um sie zu empfangen. Alle kannten den Vater Quandieu sehr wohl, den ältesten der Aufseher von Montsou, einen Greis, ganz weiß an Haut und Haaren, wohl[357] gegen siebzig Jahre alt, ein wahres Wunder von Gesundheit unter den Bergleuten.

»Was wollt ihr hier, Tagediebe?« schrie er.

Die Bande blieb stehen. Man hatte es nicht mehr mit einem Herrn, sondern mit einem Kameraden zu tun; angesichts dieses alten Arbeiters hielt eine gewisse Achtung sie zurück.

»Es sind Arbeiter in der Grube«, sagte Etienne. »Laß sie heraufholen.«

»Jawohl, es sind Arbeiter in der Grube«, entgegnete der Vater Quandieu; »es sind wohl an die sechs Dutzend unten: die übrigen hatten Angst vor euch Bösewichtern. Doch ich sage euch: kein einziger wird ausfahren, oder ihr bekommt es mit mir zu tun!«

Es erklangen Rufe aus der Menge; die Männer drängten, die Weiber gingen vor. Der Aufseher verließ rasch den Brückensteg und verrammelte das Tor.

Maheu suchte zu vermitteln.

»Höre, Alter, das ist unser Recht. Wie können wir erreichen, daß der Streik allgemein wird, wenn wir die Kameraden nicht zwingen, zu uns zu halten?«

Der Alte blieb einen Augenblick stumm. Seine Unwissenheit in Sachen der Internationale war augenscheinlich groß. Endlich antwortete er:

»Es ist euer Recht, ich leugne es nicht. Aber ich kenne nichts als meinen Auftrag ... Ich bin hier allein. Die Leute haben bis drei Uhr in der Grube zu bleiben, und sie bleiben bis drei Uhr dort.«

Die letzten Worte gingen in lauten Beschimpfungen unter. Man bedrohte ihn mit Fäusten; die Weiber schrien ihm in die Ohren; ihr warmer Hauch streifte sein Gesicht. Aber er blieb standhaft, das Haupt erhoben, mit seinem Geißbart und seinen Haaren weiß wie Schnee; der Mut verlieh seiner Stimme eine solche Kraft, daß sie den Tumult beherrschte und deutlich zu vernehmen war.

»Bei Gott, ihr kommt nicht hinein! ... So wahr die Sonne uns bescheint, ich will lieber verrecken als an[358] die Kabel rühren lassen! ... Drängt nicht weiter vor, oder ich stürze mich vor euren Augen in den Schacht.«

Ein Zittern fuhr durch die Menge, und sie wich zurück. Der Alte fuhr fort:

»Wer ist ein solcher Saukerl, das nicht zu verstehen? ... Ich bin nur ein Arbeiter wie ihr. Man hat mir befohlen, die Grube zu behüten, und ich behüte sie.«

Die Kameraden betrachteten ihn bewegt; was er sagte, fand Widerhall in ihnen: es war der soldatische Gehorsam, die Brüderlichkeit, die Gelassenheit in der Gefahr. Er glaubte, sie schwankten noch, und wiederholte:

»Ich springe vor euch in den Schacht!«

Es ging wie ein gewaltiger Stoß durch die Schar. Alle hatten den Rücken gewandt, und der Lauf begann wieder auf der geraden Straße, die sich zwischen den Feldern ins Unendliche dehnte.

»Zum Magdalenenschacht! Nach Crèvecoeur! Keine Arbeit mehr! Brot! Brot!«

Doch während des Laufes war in der Mitte ein Gedränge entstanden. Chaval hatte die Verwirrung benützen wollen, um zu entkommen. Etienne hatte ihn beim Arm gefaßt und drohte ihm die Knochen im Leibe zu zerschlagen, wenn er an Verrat denke. Der andere wehrte sich und widersprach wütend:

»Warum all das? Ist man nicht mehr frei? ... Ich friere seit einer Stunde; ich muß mich waschen. Laß mich frei!«

Er litt in der Tat durch die Kohle, die der Schweiß an seinen Leib geklebt hatte, und seine gestrickte Wolljacke schützte ihn nur wenig gegen die Kälte.

»Vorwärts, oder du wirst von uns gewaschen!« antwortete Etienne. »Warum hast du die Blutrünstigsten zu überbieten gesucht?«

Man lief immer noch auf der Straße fort. Etienne wandte sich nach Katharina um, die tapfer aushielt. Er war trostlos, sie in seiner Nähe zu wissen, so elend und fröstelnd in ihrer abgetragenen Männerjacke und[359] ihrem schmutzbedeckten Beinkleid. Sie mußte todmüde sein, aber sie lief mit.

»Du kannst gehen«, sagte er endlich.

Katharina schien nicht zu hören. Als ihre Blicke die Etiennes kreuzten, flammte ein Vorwurf in ihren Augen auf. Sie blieb nicht zurück. Warum wollte er, daß sie ihren Mann verlasse? Chaval war nicht gut zu ihr, gewiß; er prügelte sie sogar manchmal. Aber er war ihr Mann, und sie war wütend, daß mehr als tausend Menschen sich gegen einen kehrten. Sie hätte ihn verteidigen mögen, nicht aus Liebe, aber aus Stolz.

»Geh fort!« wiederholte Maheu heftig.

Dieser Befehl ihres Vaters ließ sie einen Augenblick ihren Lauf verlangsamen. Sie zitterte. Tränen quollen aus ihren Augen. Dann kam sie – trotz ihrer Furcht – doch wieder zurück, nahm ihren früheren Platz wieder ein und lief mit. Fortan kümmerte man sich nicht um sie.

Die Bande überschritt die Straße nach Joiselle, folgte einen Augenblick jener nach Cron und stieg dann gegen Cougny hinan. In dieser Richtung sah man Fabrikschlote am Horizont; Holzschuppen, Werkstätten aus Ziegeln erbaut, mit breiten, staubigen Fenstern, reihten sich zu beiden Seiten der Straße aneinander. Man kam an den niedrigen Häusern zweier Arbeiterdörfer vorbei, des Dorfes der Hundertachtzig und des Dorfes der Sechsundsiebzig. Auf den Ruf des Hornes, auf das Geschrei der Bande kamen Familien heraus, Männer, Weiber, Kinder, liefen mit und schlossen sich dem Zuge der Kameraden an. Als die Bande vor der Magdalenengrube ankam, zählte sie wohl gegen fünfzehnhundert Köpfe. Die Straße fiel hier sanft ab; die tosende Flut der Streikenden mußte die Runde um den Abbauhügel machen, ehe sie den Grubenhof überfluten konnte.

In diesem Augenblick war es erst zwei Uhr. Allein die Aufseher, von dem Herannahen der Streikenden verständigt, hatten die Ausfahrt beschleunigt. Als die Bande eintraf, war der Aufstieg beendigt, die letzten[360] zwanzig Leute verließen die Schale. Sie liefen davon, man verfolgte sie mit Steinwürfen. Zwei wurden geprügelt, ein anderer ließ einen Rockärmel in den Händen seiner Verfolger. Diese Jagd auf Menschen rettete das Material, man berührte weder die Kabel noch die Kessel. Die Flut entfernte sich schon und wälzte sich nach der nächsten Grube.

Die Grube Crèvecoeur war kaum fünfhundert Meter von der Magdalenengrube entfernt. Auch hier kam die Bande gerade zur Ausfahrt an. Eine Schlepperin wurde abgefangen und von den Weibern gepeitscht. Die jungen Schlepper erhielten Maulschellen; einzelne Häuer bekamen während des Laufens Rippenstöße und Faustschläge auf die Nase. Inmitten dieser Grausamkeiten, in diesem Bedürfnis nach Rache, dessen Tollheit alle Köpfe verdrehte, dauerte das Schreien an, forderte man den Tod der Verräter; es war der Haß der schlechtbezahlten Arbeit, das Geheul der Hungerleider. Man begann die Kabel zu durchschneiden, allein die Feile griff nicht an; es dauerte zu lange, man stürmte weiter, immer weiter. Bei den Kesseln wurde ein Ventil zerschlagen; das Wasser, das in vollen Kübeln in die Öfen geschleudert wurde, brachte die gußeisernen Roste zum Bersten.

Als man wieder im Freien war, sprach man davon, nach Sankt-Thomas zu marschieren. In dieser Grube herrschte gute Manneszucht; sie war vom Streik unberührt; mehr als siebenhundert Mann mußten eingefahren sein. Darüber war die Bande erbittert; man war entschlossen, die Leute mit Knüttelhieben zu empfangen in Schlachtordnung, um zu sehen, wer Sieger bleiben würde. Allein es ging das Gerücht, daß in Sankt-Thomas Gendarmen seien – die Gendarmen, über die man sich am Morgen lustig gemacht hatte. Woher wußte man es? Niemand vermochte es zu sagen. Gleichviel, sie bekamen Angst und entschieden sich für Feutry-Cantel. Der Taumel riß sie wieder fort: mit dem lauten Geklapper ihrer Holzschuhe stürmten sie in hellen Haufen[361] auf der Landstraße dahin. Nach Feutry-Cantel! Nach Feutry-Cantel! Dort gab es wohl an die vierhundert Feiglinge: Das wird Spaß geben! Von hier etwa drei Kilometer entfernt lag die Grube hinter einer Erdfalte verborgen nahe beim Scarpefluß. Schon stieg man die Anhöhe der Gipsbrüche jenseits der Straße nach Beaugnies hinan, als eine Stimme – man wußte nicht, wessen Stimme – ausrief, die Gendarmen seien vielleicht in Feutry-Cantel. Von einem Ende des Zuges bis zum andern wiederholte man, die Gendarmen seien in Feutry-Cantel. Ein Zögern verlangsamte den Marsch; der Schreck ergriff die Leute allmählich in der totenstillen Gegend, die sie seit Stunden durchstreiften. Warum waren sie noch nicht auf Militär gestoßen? Die Straflosigkeit ihres Treibens verwirrte sie, sie fühlten die Vergeltung kommen.

Eine neue Losung – man wußte nicht, woher sie kam – trieb die Bande plötzlich nach einer andern Grube.

»Nach der Siegesgrube! Nach der Siegesgrube!«

Gab es denn keine Dragoner und Gendarmen auf der Siegesgrube? Man wußte es nicht. Alle schienen beruhigt. Sie machten kehrt, stiegen nach Beaumont hinab und gingen querfeldein, um die Straße nach Joiselle rascher zu erreichen. Das Geleise der Eisenbahn verlegte ihnen den Weg; sie zogen hinüber, nachdem sie die Schranken umgeworfen hatten. Sie näherten sich Montsou; das leicht gewellte Land senkte sich, Rübenfelder dehnten sich aus bis zu den schwarzen Häusern von Marchiennes.

Es galt jetzt einen Marsch von gut fünf Kilometer. Sie wurden von einer solchen Wut fortgetrieben, daß sie die tödliche Müdigkeit, ihre völlig erschöpften, fast gebrochenen Beine nicht fühlten. Der Zug wurde immer länger, verstärkt durch die Kameraden, die man unterwegs in allen Arbeiterdörfern an sich zog. Als sie auf der Magachebrücke den Kanal überschritten hatten und vor der Siegesgrube erschienen, zählten sie wohl zweitausend[362] Köpfe. Aber drei Uhr war vorüber, die Leute waren ausgefahren, kein Mann war mehr in der Grube. Ihre Enttäuschung machte sich in leeren Drohungen Luft; sie mußten sich begnügen, die eben ankommenden Erdarbeiter mit Ziegelsteinen zu bewerfen. In regellose Rotten sich auflösend, ergriff die Bande Besitz von dem Werk. In ihrer Wut darüber, daß es keine Gesichter zu ohrfeigen gab, fielen sie über die Sachen her. Der Jahre hindurch erduldete Hunger hatte eine tolle Gier nach Zerstörung in ihnen gezüchtet.

Etienne bemerkte hinter einem Schuppen einige Arbeiter, die einen Kohlenkarren beladen wollten.

»Wollt ihr euch von hinnen trollen!« rief er ihnen zu. »Nicht ein Stück Kohle kommt hinaus!«

Auf seinen Befehl eilten etwa hundert Ausständige herbei; die Arbeiter hatten knapp Zeit, sich zu entfernen. Einige Männer spannten die Pferde aus, die – in die Flanken gestochen – wild davonrannten. Andere stürzten den Karren um und zerbrachen die Deichsel.

Levaque fiel mit seiner Hacke über die Gestelle her, um die Brückenstege zu vernichten. Doch sie widerstanden seiner Zerstörungswut, und so kam er auf den Gedanken, die Schienen aufzureißen, das Geleise von dem einen Ende des Werkhofes bis zum andern zu zerstören. Bald warf sich die ganze Bande auf diese Arbeit. Mit einer Eisenstange bewaffnet, deren er sich wie eines Hebels bediente, riß Maheu die gußeisernen Laschen los. Inzwischen führte die Brulé die Weiber in die Lampenkammer; mit ihren Stöcken richteten sie eine greuliche Verwüstung an; bald lagen sämtliche Lampen in Scherben am Boden. Auch die Maheu hatte alle Besonnenheit verloren und schlug ebenso wütend drein wie die Levaque. Sie wateten ordentlich im Öl; die Mouquette wischte ihre Hände in ihren Röcken ab und lachte, weil sie so schmutzig war. Johannes machte sich den Spaß, den Inhalt einer Lampe in ihren Nacken zu leeren.[363]

Allein alle diese Verwüstungen befriedigten sie nicht. Sie schrien noch lauter, und der Lärm wurde von dem unaufhörlichen Ruf übertönt:

»Brot! Brot! Brot!«

In der Siegesgrube war ein ehemaliger Aufseher, der eine Kantine hielt. Er war ohne Zweifel entflohen, denn sein Laden war verlassen. Als die Weiber zurückkehrten und die Männer das Geleise zerstört hatten, erstürmten sie die Kantine. Man fand kein Brot; es war nichts anderes da als zwei Stück rohes Fleisch und ein Sack Kartoffeln. Allein während der Plünderung entdeckte man etwa fünfzig Flaschen Wacholderbranntwein, die verschwanden wie ein Tropfen Wasser im Sande.

Etienne konnte seine leere Feldflasche neu füllen. Ein schlimmer Rausch, der Rausch der Hungernden, hatte allmählich seine Augen entzündet, und er fletschte die Zähne zwischen den fahlen Lippen. Plötzlich bemerkte er, daß Chaval inmitten des Tumultes entflohen war. Er fluchte und sandte einige Leute nach dem Flüchtigen; man fand ihn mit Katharina hinter den Holzstößen versteckt.

»Ha, Saukerl! Du fürchtest, daß man hinter deine Schliche kommt?« schrie Etienne. »Im Walde warst du es selbst, der den Streik der Maschinisten forderte, damit die Pumpen stillstehen, und jetzt nimmst du Reißaus ... Gut, wir kehren nach Gaston-Marie zurück; du sollst die Pumpe zerschlagen. Jawohl, Verräter, du sollst sie zerschlagen!«

Er war betrunken; er selbst jagte seine Leute gegen diese Pumpe, die er einige Stunden früher gerettet hatte.

»Nach Gaston-Marie! Nach Gaston-Marie!«

Alle riefen Beifall und eilten herbei, während Chaval, den man bei den Schultern gefaßt hatte und heftig vorwärts trieb, noch immer verlangte, daß man ihm gestatte, sich zu waschen.

»So geh doch deiner Wege!« rief Maheu Katharina zu, die ebenfalls wieder mitlief.[364]

Doch jetzt wich sie nicht einmal zurück; sie sah ihren Vater flammend an und setzte ihren Lauf fort.

Wieder durcheilte die Bande die flache Ebene. Sie flutete zurück auf den langen, geraden Straßen über die weitgestreckten Felder. Es war vier Uhr; die am Horizont niedergehende Sonne warf auf den festgefrorenen Boden die langen Schatten dieser Bande, die unter wütenden Gebärden dahinstürmte.

Man umging Montsou, erreichte weiter oben die Straße nach Joiselle und zog unter den Mauern der Piolaine vorbei. Die Grégoire waren eben fortgegangen, weil sie einen Besuch bei dem Notar zu machen hatten, ehe sie zu den Hennebeau essen gingen, wo sie Cäcilie finden sollten. Die Besitzung schien zu schlafen mit ihrer verödeten Lindenallee und ihrem winterlich kahlen Gemüse- und Obstgarten. Nichts regte sich in dem Hause, dessen geschlossene Fenster von der inneren Wärme feucht waren; in der tiefen Stille ahnte man Gemütlichkeit und Wohlergehen, man spürte die Behaglichkeit der guten Betten und der guten Tafel, des geregelten Glückes, in dem das Leben der Besitzer dahinfloß.

Die Bande warf – ohne stehenzubleiben – finstere Blicke über die schützenden Mauern, die von Glasscherben starrten. Von neuem begann der Ruf:

»Brot! Brot! Brot!«

Nur die Hunde antworteten mit wütendem Gebell, ein paar große dänische Hunde mit rotem Haar, die sich aufrichteten und das Maul aufrissen. Im Hause selbst war niemand anwesend als die zwei Mägde, die Köchin Melanie und das Stubenmädchen Honorine, die auf den furchtbaren Schrei herbeigeeilt waren, sich zitternd hinter den Vorhängen eines der geschlossenen Fenster verbargen und mit schreckensbleichen Gesichtern diese Wilden vorüberziehen sahen. Sie sanken in die Knie und hielten sich schon für tot, als sie einen Stein gegen das Haus fliegen hörten, der die Scheibe eines benachbarten Fensters zerschlug. Es war nur ein[365] Spaß Johannes'; er hatte sich aus einem Stück Seil eine Schleuder gemacht und den Grégoire damit im Vorübergehen einen guten Tag gesagt. Jetzt stieß er wieder in sein Horn, und die Bande verlor sich in der Ferne mit dem dröhnenden Ruf:

»Brot! Brot! Brot!«

Man kam nach Gaston-Marie in noch größerer Zahl; es waren jetzt über zweitausendfünfhundert Tobsüchtige, die alles zerbrachen, alles hinwegfegten mit der Macht eines reißenden Stromes. Gendarmen waren eine Stunde früher da gewesen und waren, durch Bauern irregeführt, in der Richtung nach Sankt-Thomas weitergezogen, ohne in der Eile die Vorsicht zu üben, zur Bewachung der Grube einen Posten von einigen Mann zurückzulassen. In weniger als einer Viertelstunde waren die Feuer gelöscht, die Kessel geleert, die Gebäude verwüstet. Doch besonders auf die Pumpe hatte man es abgesehen. Es genügte nicht, daß sie mit dem letzten Atemzuge des Dampfes stehenblieb; man stürzte sich auf sie wie auf eine lebende Person, die man töten wollte.

»Du hast den ersten Streich zu führen«, wiederholte Etienne, indem er Chaval einen Hammer in die Hand drückte. »Vorwärts! Du hast geschworen wie die anderen.«

Chaval wich zitternd zurück; in dem Gedränge fiel der Hammer nieder, während die Kameraden – ohne länger zu warten – die Pumpe mit Eisenstangen, mit Ziegeln bearbeiteten, mit allem, was ihnen in die Hände fiel. Einige zerbrachen sogar ihre Stöcke an der Maschine. Die Schrauben sprangen ab, die stählernen und kupfernen Bestandteile kamen aus den Fugen wie ausgerissene menschliche Glieder. Ein mit einer Spitzhacke geführter wuchtiger Hieb zertrümmerte den gußeisernen Körper der Maschine, und das Wasser floß heraus mit einem Gurgeln, das dem letzten Röcheln eines Sterbenden glich.[366]

Dies war das Ende; die Bande war jetzt wieder draußen, toll hinter Etienne her drängend, der Chaval noch immer nicht loslassen wollte.

»Tod dem Verräter! In den Schacht mit ihm!«

Der Erbärmliche war leichenfahl und stammelte – mit dem blöden Eigensinn einer fixen Idee – immer wieder sein Verlangen, sich zu waschen.

»Wart', da ist der Zuber, wenn du nichts anderes willst«, sagte die Levaque.

Es war eine Lache da, ein Abfluß des Pumpwassers. Eine dicke, weiße Eiskruste lag darüber. Man drängte ihn hin, zerbrach die Eisdecke und zwang ihn, seinen Kopf in das eiskalte Wasser zu stecken.

»Tauche doch unter!« schrie die Brulé. »Zum Teufel, tauche doch unter, wenn du kein Vollbad nehmen willst! ... Und jetzt sauf einmal; ja, ja, sauf wie das Vieh, mit dem Maul in der Tränke!«

Er mußte trinken, auf allen vieren liegend. Darob erhob sich grausames Lachen in der Menge. Ein Weib zog ihn bei den Ohren, ein anderes warf ihm eine Handvoll Schmutz ins Gesicht, den sie von der Straße aufgelesen hatte. Seine alte Trikotjacke hing jetzt in Fetzen von seinem Leibe. Stieren Auges stolperte er dahin und versuchte von Zeit zu Zeit zu entfliehen.

Maheu hatte ihn gestoßen; auch Frau Maheu gehörte zu jenen, die wütend über ihn hergefallen waren; sie befriedigten ihren alten Groll gegen diesen Menschen; selbst die Mouquette, die sonst die gute Freundin ihrer ehemaligen Liebhaber blieb, war wütend auf ihn, nannte ihn einen Taugenichts.

Etienne hieß sie schweigen.

»Genug! Es ist nicht nötig, daß sich alle einmengen ... Wenn du willst, machen wir die Sache miteinander ab.«

Seine Fäuste schlossen sich; seine Augen leuchteten in mörderischem Feuer; der Rausch verwandelte sich bei ihm in Mordlust.[367]

»Bist du bereit? Einer von uns beiden muß auf dem Platze bleiben ... Gebt ihm ein Messer; ich habe das meine.«

Katharina schaute ihn an; sie war erschöpft, entsetzt.

Sie erinnerte sich seiner Vertraulichkeiten, seiner Mordgier, wenn er getrunken hatte; nach dem dritten Glase war er vergiftet; es war die traurige, scheußliche Erbschaft seiner trunksüchtigen Eltern. Plötzlich stürzte sie sich auf ihn und ohrfeigte ihn mit beiden Händen, wobei sie mit vor Entrüstung heiserer Stimme schrie:

»Feigling! Feigling! Feigling! ... Ist's noch nicht genug der Scheußlichkeiten? Willst du ihn, der sich kaum mehr auf den Beinen hält, auch noch töten?«

Sie wandte sich an ihre Eltern und an alle anderen.

»Ihr seid Feiglinge! Feiglinge! ... Tötet doch mich mit ihm zugleich! Ich springe euch ins Gesicht, wenn ihr ihn anrührt! Feiglinge!«

Sie hatte sich vor ihren Mann hingestellt und verteidigte ihn, der Schläge und ihres Jammerlebens vergessend, gehoben in dem Gedanken, daß sie ihm gehörte, da er sie in seinen Besitz genommen hatte, und daß es eine Schande für sie sei, wenn er so gedemütigt wurde.

Etienne war unter den Streichen des Mädchens bleich geworden. In der ersten Aufwallung wollte er sie niederstrecken. Nachdem er sich das Gesicht getrocknet hatte wie einer, der nach seinem Rausch nüchtern wird, sagte er zu Chaval inmitten der tiefen Stille:

»Sie hat recht, es ist genug ... Mach, daß du fortkommst!«

Chaval lief sogleich davon und Katharina hinter ihm drein. Die Menge blickte ihnen betroffen nach und sah sie hinter einer Krümmung des Weges verschwinden. Nur Frau Maheu murmelte:

»Sie haben unrecht; man hätte ihn da behalten sollen; er wird sicherlich irgendeinen Verrat üben.«[368]

Doch die Bande hatte sich wieder in Marsch gesetzt. Es war nahezu fünf Uhr. Die tief am Saume des Horizontes stehende blutrote Sonne tauchte die ungeheure Ebene in Feuerglut. Ein fahrender Krämer, der vorüberkam, teilte ihnen mit, daß die Dragoner in der Richtung gegen Crèvecoeur weitergeritten seien. Da machten sie kehrt, und die Weisung lief durch die Reihen.

»Nach Montsou! Zur Direktion! ... Brot! Brot! Brot!«

Quelle:
Zola, Emile: Germinal. Berlin [1927], S. 355-369.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Germinal
Germinal
Germinal (insel taschenbuch)
Germinal - Buch mit MP3-CD (Lire en français facile - Adultes)
Germinal: Roman (Fischer Klassik)
Germinal

Buchempfehlung

Platen, August von

Gedichte. Ausgabe 1834

Gedichte. Ausgabe 1834

Die letzte zu Lebzeiten des Autors, der 1835 starb, erschienene Lyriksammlung.

242 Seiten, 12.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon