Drittes Kapitel

[424] An einem Dienstag saß Suwarin schon um acht Uhr allein in der Gaststube des Wirtshauses »Zum wohlfeilen Trunk« an seinem gewohnten Platz, das Haupt an die Mauer gelehnt. Kein einziger Bergmann hatte mehr die zwei Sous für einen Schoppen Bier; niemals hatten die Trinkhäuser so wenige Gäste. Frau Rasseneur saß verdrossen vor ihrem Schankpult, während Rasseneur, vor dem gußeisernen Kamin stehend, mit nachdenklicher Miene dem rötlichen Rauch der Kohle nachstarrte.

In der tiefen Stille der überheizten Stube waren plötzlich drei leise Schläge gegen die Fensterscheibe hörbar, die Suwarin veranlaßten, den Kopf zu wenden.[424] Er erhob sich, denn er hatte das Zeichen erkannt, dessen Etienne sich schon wiederholt bedient hatte, um ihn zu rufen, wenn er ihn von draußen sah. Doch ehe der Maschinist die Tür erreichte, hatte Rasseneur sie geöffnet; als er den Mann erkannte, der in der Helle des Fensters stand, sagte er:

»Hast du Furcht, daß ich dich verrate? ... Ihr könnt hier bequemer plaudern als auf der Straße.«

Etienne trat ein. Frau Rasseneur bot ihm höflich einen Schoppen an, doch er lehnte mit einer Handbewegung ab. Der Schankwirt fügte hinzu:

»Ich habe längst erraten, wo du dich verbirgst. Wenn ich ein Spion wäre, wie deine Freunde behaupten, hätte ich dir schon seit acht Tagen die Gendarmen schicken können.«

»Du hast es nicht nötig, dich zu verteidigen«, antwortete der junge Mann; »ich weiß, daß du niemals Verräterbrot gegessen hast ... Man kann verschiedene Ansichten haben und sich dennoch gegenseitig schätzen.«

Wieder trat Stille ein. Suwarin hatte sich auf seinen Sessel niedergelassen mit dem Rücken gegen die Wand und blickte dem Rauch seiner Zigarette nach; aber seine Finger zitterten vor Ungeduld; er fuhr damit über die Knie und suchte das warme Fell des Kaninchens Polen, das an diesem Abend nicht da war.

Etienne ließ sich auf der andern Seite des Tisches nieder und sagte endlich:

»Morgen wird in der Voreuxgrube die Arbeit aufgenommen. Der kleine Negrel ist mit den Belgiern eingetroffen.«

»Ja, sie sind nach Anbruch der Nacht ausgeladen worden«, murmelte Rasseneur, der neben ihm stand. »Wenn nur nicht wieder ein Gemetzel entsteht.«

Dann fuhr er mit lauterer Stimme fort:

»Ich will mit dir nicht wieder Streit beginnen, aber es nimmt ein schlimmes Ende, wenn ihr in eurer Hartnäckigkeit beharrt ... Eure Geschichte ist genau dieselbe wie die deiner Internationale. Ich habe vorgestern[425] Pluchart in Lille getroffen, wo ich zu tun hatte. Seine Maschine geht aus den Fugen, wie es scheint.«

Er führte Einzelheiten an. Der Bund hatte in einem Aufschwung seiner Propaganda, der die Bürgerklasse erzittern ließ, die Arbeiter der ganzen Welt erobert und ging jetzt in die Brüche, wurde mit jedem Tage mehr zerstört durch den innern Kampf eitler und ehrgeiziger Streber. Seitdem die Anarchisten in dem Bunde triumphierten und die Evolutionisten, die ursprünglich die Führung hatten, verdrängten, wackelte der ganze Bau; das ursprüngliche Ziel: die Reform des Lohnwesens, ging in dem Zwist der Parteien unter; die so künstlich und scharfsinnig errichteten Rahmen lösten sich im Haß gegen die Disziplin. Man konnte schon jetzt das klägliche Ende dieser Massenerhebungen voraussehen, die einen Augenblick gedroht hatten, die alte, verrottete Gesellschaft zu vernichten.

»Pluchart ist krank«, fuhr Rasseneur fort. »Zudem hat er keine Stimme mehr, und dennoch redet er; ja, er will sogar in Paris sprechen. Er hat mir dreimal wiederholt, daß unser Streik gescheitert ist.«

Etienne verharrte in düsterem Schweigen; er wollte seine Niedergeschlagenheit nicht eingestehen angesichts eines Mannes, der ihm vorausgesagt, daß auch ihn die Menge an dem Tage verhöhnen werde, an dem sie für eine Enttäuschung Rache nehmen wolle.

»Gewiß, der Streik ist gescheitert«, sagte er. »Ich weiß es so gut wie Pluchart. Aber das war vorauszusehen. Wir haben mit Widerwillen diesen Streik aufgenommen; wir haben nicht darauf gezählt, mit der Gesellschaft fertig zu werden ... Allein man betäubt sich, man hofft auf allerlei Dinge, und wenn dann die Geschichte schlecht ausgeht, vergißt man, daß man darauf gefaßt sein mußte; man jammert und hadert wie angesichts einer urplötzlichen Katastrophe.«

»Wenn du die Partie für verloren hältst, warum bringst du die Kameraden nicht zur Vernunft?« fragte Rasseneur.[426]

Der junge Mann schaute ihn scharf an.

»Lassen wir das; es ist genug ... Du hast deine Gedanken, ich habe die meinen. Ich bin bei dir eingetreten, um dir zu zeigen, daß ich dich dennoch achte. Aber ich glaube, daß, wenn wir in unserm Elend untergehen, unsere Gerippe der Sache des Volkes besser dienen als alle weise Politik ... Ach, wenn einer dieser Soldaten mir eine Kugel mitten ins Herz schösse, wie schön wäre es so zu enden!«

Seine Augen wurden naß, es war der Aufschrei des Überwundenen, der für immer sein Leid begraben wollte.

»Gut gesprochen!« erklärte Frau Rasseneur voll Verachtung gegen ihren Mann.

Suwarin blickte traumverloren in die Ferne, tastete mit seinen nervösen Händen umher und schien nichts gehört zu haben. Sein blondes, mädchenhaftes Gesicht mit der dünnen Nase und den spitzigen Zähnchen nahm einen wilden Ausdruck an in einer mystischen Träumerei, in der blutige Bilder vorüberzogen. Er hatte laut zu träumen begonnen und antwortete auf ein Wort Rasseneurs über die Internationale, das er inmitten der Unterredung aufgefangen hatte.

»Alle sind Feiglinge; nur einen Mann hat es gegeben, der aus ihrer Maschine das furchtbare Werkzeug der Zerstörung hätte machen können. Aber man müßte wollen; niemand will, und darum scheitert die Revolution wieder einmal.«

Er fuhr fort, über die Schwachsinnigkeit der Menschen zu klagen, während die anderen verwirrt dasaßen bei diesen Geständnissen eines Mondsüchtigen. In Rußland wollten die Dinge nicht vorwärts gehen; er war verzweifelt über die Nachrichten. Seine ehemaligen Kameraden wurden sämtlich zu Politikern; die berüchtigten Nihilisten, vor denen ganz Europa zitterte, Popensöhne, Kleinbürger, Kaufleute: sie erhoben sich nicht über den Gedanken der nationalen Befreiung, sie schienen an die Erlösung der Welt zu[427] glauben, wenn sie den Despoten getötet hätten; sobald er ihnen davon sprach, die alte Menschheit hinwegzumähen wie eine reife Frucht, sobald man nur das kindische Wort »Republik« aussprach, fühlte er sich unverstanden, deklassiert, unter die schiffbrüchigen Führer des revolutionären Kosmopolitismus eingereiht. In schmerzlicher Entsagung wiederholte er sein Lieblingswort:

»Lauter Dummheiten! ... Niemals werden sie mit ihren Dummheiten vom Fleck kommen!«

Dann dämpfte er die Stimme noch mehr und erzählte in bitteren Worten seinen ehemaligen Brüderlichkeitstraum. Er hatte auf seinen Rang und sein Vermögen nur deshalb verzichtet und war unter die Arbeiter gegangen, weil er gehofft hatte, endlich die Gesellschaft der gemeinsamen Arbeit begründet zu sehen. Lange Zeit hatte er seine Taschen geleert, um Münzen unter die Kinder der Arbeiterdörfer zu verteilen; er hatte den Bergleuten gegenüber brüderliche Zuneigung bekundet, ihr Mißtrauen belächelt und sie durch die ruhige Haltung eines pünktlichen, schweigsamen Arbeiters gewonnen. Allein die Verschmelzung wollte sich nicht vollziehen; er blieb ihnen ein Fremder mit seiner Verachtung aller Bande, in seiner Entschlossenheit, Mut zu bewahren fern von allem Ruhm und allen Genüssen. Er war seit dem Morgen besonders erbittert durch eine Nachricht, die in allen Blättern zu lesen war.

Seine Stimme änderte sich; seine Augen wurden heller und waren jetzt auf Etienne gerichtet, an den er sich wandte.

»Begreifst du die Hutmacher von Marseille, die das große Los von hunderttausend Franken gewonnen und sofort Renten gekauft haben mit der Erklärung, daß sie künftig müßig leben wollen? ... Ja, das ist so euer Gedanke, ihr französischen Arbeiter: einen Schatz ausgraben und ihn nachher allein verzehren in einem Winkel der Selbstsucht und des Müßigganges. Ihr[428] schreit gegen die Reichen, aber euch fehlt der Mut, den Armen das Geld zu geben, welches das Glück euch zukommen läßt ... Niemals seid ihr des Glückes würdig, solange ihr etwas besitzt, und solange euer Haß gegen die Bürger nur aus dem wütenden Bedürfnis kommt, euch an die Stelle dieser Spießbürger zu bringen.«

Rasseneur brach in Gelächter aus; der Gedanke, daß die zwei Hutmacher in Marseille auf das große Los hätten verzichten sollen, schien ihm verrückt. Doch Suwarin erbleichte; sein verstörtes Antlitz wurde furchtbar; in leidenschaftlichem Wutausbruch schrie er:

»Ihr alle werdet weggemäht, niedergeworfen, der Verwesung anheimgegeben. Es wird der erstehen, der dies Geschlecht von Feiglingen und Genußmenschen vernichtet. Seht ihr meine Hände? Wenn meine Hände es vermöchten, würden sie die Erde packen und sie schütteln, bis sie in Stücke zerfiele, damit ihr unter den Trümmern ersticktet.«

»Gut gesagt!« wiederholte Frau Rasseneur mit höflicher und überzeugter Miene.

Abermals trat Schweigen ein. Dann sprach Etienne wieder von den belgischen Arbeitern und fragte Suwarin nach den Verfügungen, die man im Voreuxschacht getroffen. Doch der Maschinist war wieder in Nachdenken versunken und antwortete kaum. Er wußte nur, daß Kartuschen an die Soldaten verteilt wurden, welche die Grube bewachten, und das nervöse Spiel seiner Finger auf seinen Knien steigerte sich, bis er sich endlich bewußt war, was ihm fehlte: das seidenweiche, beruhigende Fell des Hauskaninchens.

»Wo ist Polen?« fragte er.

Der Schankwirt blickte auf seine Frau und lachte wieder. Nach einem kurzen Zögern entschloß er sich zu antworten.

»Polen liegt warm«, sagte er.

Seitdem Johannes das Kaninchen halb zu Tode gehetzt, hatte es nur tote Junge geworfen. Um es nicht[429] nutzlos zu füttern, hatte man sich entschlossen, es zu schlachten und mit Kartoffeln zu braten.

»Jawohl, du hast heute abend einen Schenkel davon gegessen und dir die Finger danach geleckt.«

Suwarin hatte nicht sogleich begriffen; dann war er leichenblaß geworden, und Ekel zog ihm das Kinn zusammen, während zwei schwere Tränen ihm die Augen trübten.

Doch man hatte nicht Zeit, seine Erregtheit zu bemerken; die Tür wurde heftig aufgestoßen, und Chaval erschien, Katharina vor sich herschiebend. Nachdem er sich in allen Schenken von Montsou an Bier und Prahlereien berauscht, war er auf den Einfall gekommen, sich hierher zu begeben, um den Kameraden zu zeigen, daß er keine Furcht habe. Er trat ein und schrie seiner Geliebten zu:

»Du wirst einen Schoppen Bier trinken, sage ich dir! Und dem ersten, der mich schief ansieht, schlage ich den Schädel ein.«

Katharina erbleichte, als sie Etienne erblickte. Als auch Chaval seiner ansichtig wurde, verzog sich sein Gesicht zu einem boshaften Grinsen.

»Frau Rasseneur, zwei Schoppen! Wir trinken eins, weil die Arbeit wieder aufgenommen wird.«

Die Wirtin schenkte wortlos ein; ihr Bier war für jedermann da. Stille war eingetreten; weder der Schankwirt noch die beiden anderen hatten sich von ihrem Platz gerührt.

»Ich kenne Leute, die gesagt haben, daß ich ein Spion bin«, hub Chaval in anmaßendem Tone wieder an; »und ich erwarte, daß sie es mir ins Gesicht sagen, damit man sich endlich auseinandersetzt.«

Niemand antwortete; die Männer wandten den Kopf weg und schauten die Wände an.

»Es gibt Tagediebe, und es gibt Leute, die es nicht sind«, fuhr er mit lauter Stimme fort. »Ich habe nichts zu verheimlichen; ich habe Deneulins schmutzige Baracke verlassen und fahre morgen im Voreuxschachte[430] mit zwölf Belgiern ein, deren Führung man mir anvertraut hat, weil man mich achtet. Wenn dies jemand nicht recht ist, so soll er es sagen; wir werden darüber reden.«

Als seine Herausforderungen mit demselben verächtlichen Schweigen aufgenommen wurden, erboste er sich gegen Katharina.

»Wirst du trinken, Himmelsakrament! Stoßen wir an auf das Krepieren aller Saukerle, die nicht arbeiten wollen!«

Sie stieß an, aber ihre Hand zitterte, daß man das leise Klirren der beiden Gläser hörte. Chaval hatte eine Handvoll Silbermünzen aus der Tasche geholt, die er mit der Aufdringlichkeit eines Berauschten auf dem Tische ausbreitete, wobei er stammelte, man verdiene das Geld im Schweiße seines Angesichts, und die Müßiggänger könnten nicht zehn Sous aufweisen. Die Haltung der Kameraden erbitterte ihn, und er ging schließlich zu direkten Beleidigungen über.

»Des Nachts also kriechen die Maulwürfe hervor? Die Gendarmen scheinen zu schlafen, da man den Räubern begegnet!«

Etienne hatte sich entschlossen, aber sehr ruhig erhoben.

»Hör' einmal, du langweilst mich«, sagte er ... »Ja, du bist ein Spion; dein Geld stinkt nach Verrat, und es ekelt mich, deine Verräterhaut zu berühren. Gleichviel, ich bin bereit; schon lange hätte einer von uns beiden den andern töten sollen.«

Chaval ballte die Fäuste.

»Man muß dir vieles sagen, um dich zu erwärmen, verdammter Feigling«, brummte er ... »Mit dir allein will ich es aufnehmen; du sollst mir alle Schurkereien entgelten, die man mir zugefügt hat.«

Katharina trat mit bittenden Händen zwischen sie; aber sie brauchten sie nicht erst zurückzudrängen, sie wich selbst langsam, weil sie die Notwendigkeit des[431] Kampfes fühlte. In stummem Entsetzen stand sie regungslos an der Wand wie gelähmt, die weit offenen Augen auf die beiden Männer gerichtet, die im Begriffe waren, sich ihrethalben zu töten.

Frau Rasseneur begnügte sich, die Schoppen von dem Schanktisch wegzunehmen aus Furcht, daß sie zerbrochen werden könnten. Dann setzte sie sich wieder auf ihr Bänkchen, ohne Neugier zu zeigen. Rasseneur hingegen meinte, man könne nicht zugeben, daß zwei alte Kameraden sich gegenseitig erdrosselten, und wollte sich durchaus ins Mittel legen; Suwarin mußte ihn bei einer Schulter fassen und zum Tisch zurückführen, indem er sagte:

»Das geht dich nichts an ... Einer ist hier zuviel; der Stärkere muß am Leben bleiben.«

Ohne den Angriff abzuwarten, hatte Chaval seine geballten Fäuste in die Luft gestreckt. Er war der Größere und zielte nach dem Gesicht mit beiden Armen, die er wütend auf und nieder fahren ließ, als handhabe er zwei Säbel. Dabei redete er immerfort, spreizte sich vor den Zuschauern und ließ tolle Beschimpfungen los, die ihn noch mehr aufregten.

»Ha, verdammter Kerl, ich will deine Nase haben! Deine Nase will ich mir irgendwohin stecken! ... Gib deine Fratze her, daß ich einen Brei daraus mache! Wir werden dann sehen, ob die Mädchen dir noch nachrennen!«

Stumm, mit zusammengepreßten Zähnen stemmte Etienne seine kleine Gestalt fest auf, kämpfte regelrecht, Brust und Gesicht mit beiden Fäusten deckend; so spähte er nach den Blößen des Gegners und versetzte ihm furchtbare Stöße.

Anfänglich fügten sie einander wenig Schaden zu. Die geräuschvollen Angriffe des einen, die kühle, zuwartende Haltung des andern verlängerten den Kampf. Ein Stuhl wurde umgeworfen; die plumpen Schuhe zerstampften den weißen Sand, mit dem der Fußboden bestreut war. Aber allmählich kamen sie außer Atem;[432] man hörte sie röcheln, während ihre roten Gesichter anschwollen wie von der Gewalt eines innern Feuers, dessen Flammen durch die Höhlen der Augen brachen.

»Getroffen!« schrie Chaval. »Das sitzt auf deinem Gerippe!«

In der Tat hatte seine Faust, gleich einer schief niederfahrenden Keule die Schulter seines Gegners getroffen. Dieser unterdrückte ein schmerzliches Stöhnen; man hörte nur dumpfe Schläge auf Muskeln. Etienne erwiderte ihn mit einem mitten auf die Brust geführten Stoß, der den andern niedergestreckt hätte, wenn er sich nicht mit fortwährenden Sprüngen gerettet hätte. Indes traf ihn der Hieb in die linke Seite mit solcher Wucht, daß er wankte und ihm der Atem ausblieb. Er wurde von Wut übermannt, weil er seine Arme schlaff werden fühlte, und zielte mit dem Stiefelabsatz nach dem Bauch seines Gegners.

»Nimm das für deine Eingeweide!« röchelte er. »Sie sollen ins Freie!«

Etienne wich dem Stoß aus, entrüstet über die Verletzung der Regeln.

»Schweig, Vieh!« sagte er. »Und die Füße weg, sonst nehme ich einen Stuhl, um dich totzuschlagen!«

Jetzt nahm der Kampf eine ernstere Wendung. Rasseneur war empört und hätte sich abermals ins Mittel gelegt, hätte der strenge Blick seiner Frau ihn nicht zurückgehalten. Haben denn zwei Trinkgäste nicht das Recht, ihre Sache im Wirtshaus auszutragen? Er begnügte sich also, sich vor den Kamin hinzustellen, weil er fürchtete, daß sie ins Feuer stürzen könnten. Suwarin hatte sich mit seiner ruhigen Miene eine Zigarette gedreht, die er indes anzubrennen vergaß. Katharina stand noch immer unbeweglich an die Wand gelehnt; nur ihre Hände hatte sie unbewußt an ihrem Körper emporgehoben; und hier krümmten sie sich und rissen zuckend am Stoff des Kleides. Sie gab sich alle Mühe, nicht zu schreien, nicht einen der beiden dadurch zu töten, daß sie einen Ruf der Bevorzugung ausstieß;[433] im übrigen war sie so außer sich, daß sie nicht mehr wußte, wen sie vorziehen sollte.

Chaval war bald erschöpft; in Schweiß gebadet, schlug er auf gut Glück drein. Obgleich in Zorn geraten, fuhr Etienne fort, sich zu decken, und parierte fast alle Hiebe, deren einige ihn streiften. So wurde ihm ein Ohr gespalten, ein Stück Haut vom Halse weggerissen; es verursachte ihm einen so brennenden Schmerz, daß er einen Fluch ausstieß und einen seiner Geraden landete. Chaval sprang beiseite und schützte seine Brust, aber er hatte sich gebückt, und die Faust traf das Gesicht, zerschlug ihm die Nase und ein Auge. Ein Blutstrahl schoß hervor, das Auge schwoll an und wurde blau. Geblendet durch den roten Strom, betäubt durch die Erschütterung seines Schädels, fuchtelte der Erbärmliche mit den Armen blindlings in der Luft umher, als ein zweiter Stoß ihn mitten auf die Brust traf und ihm den Rest gab. Es folgte ein Krachen, und er sank in sich zusammen wie ein Sack Gips, der niedergeworfen wird.

Etienne wartete.

»Erhebe dich«, sagte er; »wenn du willst, können wir von neuem anfangen.«

Chaval antwortete nicht; er war eine Weile ganz betäubt, dann begann er sich zu regen und die Glieder zu recken. Mühselig raffte er sich auf, blieb einen Augenblick auf den Knien und kramte in seiner Tasche. Als er sich erhoben hatte, stürzte er sich mit wildem Geheul abermals auf seinen Gegner.

Doch Katharina hatte alles gesehen, und unwillkürlich entfuhr ihr ein lauter Schrei; sie selbst war darüber erstaunt wie über das Geständnis einer Bevorzugung, die ihr bisher unbewußt war.

»Gib acht! Er hat ein Messer!«

Etienne hatte knapp Zeit, den ersten Stoß mit dem Arm aufzufangen. Der Wollstoff seiner Jacke wurde von der dicken Klinge durchschnitten, von einer jener Klingen, die durch einen kupfernen Ring an ein[434] Heft von Buchsbaumholz befestigt sind. Schon hatte er Chaval am Handknöchel gepackt, und es entspann sich ein furchtbarer Kampf, denn er wußte, daß er verloren sei, wenn er losließ; der andere suchte seine Hand frei zu machen, um zuzustoßen. Die Waffe senkte sich nach und nach; die Glieder ermatteten; zweimal schon hatte Etienne den kalten Stahl an seiner Haut gefühlt und mußte eine äußerste Anstrengung machen; er preßte den Handknöchel mit solcher Gewalt, daß das Messer der offenen Hand entfiel. Beide hatten sich zu Boden geworfen; er war es, der das Messer ergriff und es jetzt gegen den andern zückte. Er kniete auf Chaval und drohte ihm das Messer in den Hals zu stoßen.

»Verdammter Verräter!« rief er. »Du mußt sterben!«

Eine grauenhafte Stimme erhob sich in ihm und betäubte ihn. Es pochte in seinem Schädel gleich Hammerschlägen; es war eine plötzliche Mordgier, das Bedürfnis, Blut zu sehen. Noch niemals hatte der Anfall ihn so gepackt. Und doch war er nicht berauscht. Er kämpfte gegen das Erbübel mit verzweifeltem Beben. Schließlich überwand er sich und warf das Messer hinter sich, wobei er mit rauher Stimme murmelte:

»Steh auf und geh!«

Jetzt eilte Rasseneur herbei, aber ohne sich in die Nähe zu wagen, aus Furcht, einen Hieb zu bekommen. Er wollte nicht, daß man sich in seinem Hause abschlachtete, und geriet in einen solchen Zorn, daß seine Frau, die jetzt vor dem Schankpulte stand, ihm zurief, daß er immer zu früh schreie. Suwarin, dem das Messer beinahe in die Beine gefahren war, entschloß sich endlich, seine Zigarette anzubrennen. Katharina schaute noch immer; sie war verwirrt gegenüber den zwei Männern, die beide lebten.

»Geh!« wiederholte Etienne. »Geh, oder ich mache dir den Garaus!«

Chaval erhob sich und wischte mit dem Handrücken das Blut weg, das noch immer reichlich aus seiner Nase floß; mit blutbeschmierter Kinnlade und mit blau geschlagenem[435] Auge wankte er hinaus, wütend über seine Niederlage. Katharina folgte ihm mechanisch. Doch da richtete er sich auf, und sein Haß brach in unflätige Schimpfreden aus.

»Nein, nein!« rief er. »Wenn du ihn haben willst, bleibe bei ihm, schmutziges Vieh! Setze keinen Fuß mehr in meine Stube, wenn deine Haut dir lieb ist!«

Er schlug die Tür heftig zu. Tiefe Stille herrschte in der warmen Stube, wo man nur das leise Knistern der Kohle hörte. Auf dem Boden lagen der umgestürzte Sessel und die Blutstropfen.

Quelle:
Zola, Emile: Germinal. Berlin [1927], S. 424-436.
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