Fünftes Kapitel

[449] Alle Zugänge der Grube waren geschlossen; sechzig Soldaten – Gewehr bei Fuß – besetzten die Tür, die zum Aufnahmesaal führte über eine schmale Treppe, auf die das Aufseherzimmer sich öffnete. Der Hauptmann hatte sie in zwei Reihen an der Ziegelwand des Gebäudes aufgestellt, damit man sie nicht von hinten angreifen könne.

Die Bergleute hielten sich anfänglich fern. Es waren ihrer höchstens dreißig, und sie besprachen sich in heftigen und verworrenen Worten.

Die Maheu, die zuerst angekommen war, ungekämmt, mit einem in aller Hast über den Kopf geworfenen Tuch, die schlafende Estelle im Arme, wiederholte mit fieberhafter Stimme:

»Niemand hinein und niemand heraus! Wir müssen sie da drinnen fassen!«

Ihr Mann stimmte zu. Da kam Mouquet von Réquillart her. Man wollte ihn hindern hineinzugehen; allein er wehrte sich und sagte, daß seine Pferde ihr Futter haben müßten und sich wenig um die Revolution kümmerten. Überdies liege unten ein totes Pferd, und man warte nur auf ihn, um es hinaufzuschaffen. Etienne befreite den alten Stallwärter aus den Händen der Bergleute, und die Soldaten ließen Mouquet hinein. Eine Viertelstunde später – die Schar der Ausständigen war inzwischen immer größer geworden und hatte eine drohende Haltung angenommen – öffnete sich ein breites Tor im Erdgeschoß, und es erschienen Männer, die das tote Tier auf einem Karren herausführten, eine trübselige Last. Sie luden das Tier ab und ließen es mitten in den Pfützen von geschmolzenem Schnee liegen. Die Szene rief eine solche Bewegung hervor, daß man die Arbeiter nicht hinderte, zurückzukehren und das Tor wieder zu verrammeln. Alle hatten das Tier an seinem Kopf erkannt, der jetzt steif nach der Seite hing.[450]

»Es ist Trompete! Es ist Trompete!« ging es flüsternd durch die Menge.

Es war in der Tat Trompete. Das Pferd hatte sich an das Leben in der Grube nicht gewöhnen können. Es war stets verdrossen, unlustig bei der Arbeit, gleichsam von der Sehnsucht nach dem Licht gequält. Es war vergebens, daß Bataille – der Grubenälteste – sich freundschaftlich an Trompete rieb und ihm den Hals beleckte, um etwas von seiner Ergebung dem Kameraden einzuflößen. Diese Liebkosungen vermehrten nur seine Trauer; seine Haare zitterten bei den Vertraulichkeiten des Schicksalsgenossen, der in der Finsternis alt geworden. Sooft die beiden Tiere einander begegneten, schienen sie sich ihr Leid zu klagen, das alte, weil es soweit gekommen, sich gar nicht mehr zu erinnern, das junge, weil es nicht vergessen konnte. Im Stalle waren sie Raufennachbarn und lebten mit gesenkten Köpfen dahin, sich einander in die Nüstern blasend, in einem fortwährenden Austausch ihres Traumes vom Licht, von grünen Matten, von weißen Straßen, von goldiger Sonnenhelle am unendlichen Horizont. Als Trompete, mit Schweiß bedeckt, auf seiner Streu im Todeskampfe lag, beroch ihn der Kamerad in trübseliger Stimmung mit kurzem Schnuppern, das einem Schluchzen glich. Als er merkte, daß der andere sich nicht mehr rührte, wieherte er entsetzt auf und zerriß die Halfterleine.

Mouquet hatte übrigens schon seit acht Tagen den Oberaufseher von der Sache benachrichtigt. Doch in diesem Augenblick kümmerte man sich wenig um ein krankes Pferd. Die Herren sahen ungern einen Pferdewechsel; jetzt mußte man sich aber doch entschließen, das tote Pferd hinaufzuschaffen. Am vorhergegangenen Tage hatte der Stallwärter, von zwei Arbeitern unterstützt, eine Stunde damit zugebracht, Trompete in dem Stricknetz festzubinden. Dann wurde Bataille vorgespannt, um das Tier bis zum Aufzugsschacht zu schaffen. Er folgte mit trüben Augen den Vorbereitungen zur Hinaufbeförderung, wie der Körper oberhalb der Senkgrube[451] auf Rollen geschoben und dann das Netz unter der Schale befestigt wurde. Endlich gaben die Verlader das Zeichen; Bataille hob den Kopf, um mit anzusehen, wie der Kamerad auffuhr, zuerst langsam, dann plötzlich in der Finsternis verschwindend, für immer dem schwarzen Loch entrinnend. Er blieb eine Weile mit ausgestrecktem Hals dastehen; sein Tiergedächtnis erinnerte sich vielleicht der irdischen Dinge. Seine Beine begannen zu zittern; die frische Luft, die von den fernen Gefilden kam, erstickte ihn, und er war wie berauscht, als er plump und schwerfällig nach dem Stall zurückkehrte.

Im Werkhof standen die Bergleute in ernster Stimmung vor Trompetes Leiche. Ein Weib sagte halblaut:

»Wieder einer hineingegangen! Niemand hindert die Leute einzufahren!«

Doch vom Dorf her kam eine neue Schar, und Levaque, der, gefolgt von seinem Weibe und von Bouteloup, an der Spitze marschierte, schrie:

»Tod den Belgiern! Keine Fremden bei uns! Tod! Tod!«

Alle stürzten hinzu; Etienne mußte ihnen Einhalt gebieten. Er hatte sich dem Hauptmann genähert, einem hochgewachsenen, schmächtigen jungen Mann von kaum achtundzwanzig Jahren, mit verzweifeltem, aber entschlossenem Gesicht. Er erklärte ihm die Dinge, suchte ihn zu gewinnen und beobachtete die Wirkung seiner Worte. Wozu ein unnützes Gemetzel? Waren denn die Bergleute nicht in ihrem Recht? Alle Menschen seien Brüder, und man müsse sich vertragen. Bei dem Worte »Republik« machte der Offizier eine nervöse Handbewegung. Er bewahrte seine militärische Schroffheit und sagte plötzlich:

»Platz da! Zwingen Sie mich nicht, meine Pflicht zu tun!«

Dreimal wiederholte Etienne seinen Versuch. Hinter ihm murrten die Kameraden. Es ging das Gerücht, daß Herr Hennebeau in der Grube sei, und man sprach[452] davon, ihn mit dem Kopf voraus hinabzuschicken, um zu sehen, ob er selbst Kohlen brechen könne. Aber das Gerücht war falsch; nur Negrel und Dansaert waren da, die einen Augenblick an einem Fenster des Aufnahmesaales sichtbar waren. Der Oberaufseher stand hinten, während der Ingenieur mutig seine Äuglein über die Menge schweifen ließ, lächelnd in spöttischer Geringschätzung für Menschen und Dinge. Als sich in der Menge ein Gejohle gegen sie erhob, verschwanden sie vom Fenster, und man sah an ihrer Stelle nur noch das weiße Gesicht Suwarins. Er hatte eben Dienst; er hatte seit Beginn des Streiks seine Maschine keinen Tag verlassen, sprach sehr wenig, versank immer mehr in eine fixe Idee, die aus seinen blassen Augen zu funkeln schien.

»Platz da!« wiederholte der Hauptmann laut. »Ich will nichts hören; ich habe den Befehl, die Grube zu bewachen, und ich werde sie bewachen ... Drängt nicht auf meine Leute ein, sonst werde ich euch zurückzujagen wissen.«

Trotz der Festigkeit seiner Stimme war er bleich und immer unruhiger angesichts der fortwährend anwachsenden Menge der Bergleute. Zu Mittag sollte er abgelöst werden: doch weil er fürchtete, sich bis dahin nicht halten zu können, hatte er soeben einen Jungen nach Montsou gesandt, um Verstärkung zu verlangen.

Lautes Geschrei antwortete ihm.

»Tod den Fremden! Tod den Belgiern! Wir wollen Herren im eigenen Hause sein!«

Etienne wich trostlos zurück. Es war aus; es blieb nichts anderes übrig, als sich zu schlagen und zu sterben. Er hielt die Kameraden nicht länger zurück; die Menge drängte bis zu den Truppen heran. Es waren ihrer fast vierhundert; die Nachbardörfer leerten sich; die Leute kamen im Eilschritt herbei. Alle stießen den nämlichen Schrei aus. Maheu und Levaque sagten wütend zu den Soldaten:

»Geht weg! Wir haben nichts gegen euch! Geht weg!«[453]

»Es geht euch nichts an!« fügte die Maheu hinzu. »Laßt uns unsere Angelegenheiten selber austragen.«

Die Levaque – hinter ihr – schrie noch heftiger:

»Müssen wir euch erst überrennen, um hineinzukommen? Man bittet euch, den Platz zu räumen!«

Man hörte sogar die dünne Stimme Lydias, die sich mit Bebert in das dichteste Gewühl gedrängt hatte, in schrillem Tone sagen:

»Diese Wurstsoldaten!«

Katharina stand einige Schritte abseits und schaute und hörte, erschüttert von den neuen Tumulten, in die ihr Mißgeschick sie hineingeschleudert hatte. Litt sie nicht ohnehin schon zuviel? Was hatte sie denn verbrochen, daß das Unglück sie nicht zur Ruhe kommen ließ? Noch gestern hatte sie nichts von den Wutausbrüchen des Streiks begriffen; sie dachte, wenn man Maulschellen erhalten habe, sei es unnötig, andere zu suchen; jetzt aber schwoll ihr Herz in Haß; sie erinnerte sich dessen, was Etienne ehemals bei den Abendzusammenkünften erzählte, suchte zu verstehen, was er jetzt den Soldaten sagte. Er nannte sie seine Kameraden; er erinnerte sie, daß auch sie aus dem Volke seien und daher zum Volke halten müßten, um es gegen die Ausbeuter zu schützen.

Doch in der Menge entstand jetzt ein heftiges Drängen und Stoßen, und ein altes Weib stürzte vor. Es war die Brulé, furchtbar abgemagert, Hals und Arme entblößt, sie war in so toller Hast herbeigelaufen, daß die grauen Haarbüschel ihr in die Augen fielen.

»Donner Gottes, ich bin auch dabei!« stammelte sie atemlos. »Dieser Verräter Pierron hielt mich im Keller eingeschlossen.«

Unverzüglich fiel sie über die bewaffnete Macht her, Verwünschungen ausstoßend.

»Ihr Halunken! Das leckt den Vorgesetzten die Stiefel und hat nur Mut gegen die armen Leute!«

Die anderen schlossen sich ihr an und schrien wüste Beschimpfungen. Einige riefen: »Hoch die Soldaten![454] In den Schacht mit dem Offizier!« Aber bald hörte man nur einen Ruf: »Nieder mit den roten Hosen!« Die Soldaten, die unempfindlich, mit unbeweglichem Antlitz die Aufforderungen zur Brüderlichkeit, die freundschaftlichen Werbungsversuche anhörten, bewahrten denselben starren Gleichmut unter diesem Hagel von Schimpfwörtern. Der Hauptmann, der hinter ihnen stand, hatte seinen Degen gezogen. Als die Menge immer näher herandrängte, kommandierte er: »Fällt das Bajonett!« Die Soldaten gehorchten, und eine Doppelreihe von Stahlspitzen starrte den Leibern der Streikenden entgegen.

»Ha, die Halunken!« heulte die Brulé zurückweichend.

Doch sogleich kehrten alle um in Todesverachtung. Weiber stürzten herbei; die Maheu und die Levaque riefen:

»Tötet uns! Tötet uns doch! Wir wollen unser Recht!«

Auf die Gefahr hin, sich die Hände zu zerschneiden, hatte Levaque ein Bündel Bajonette ergriffen, die er schüttelte und an sich zog, um sie loszureißen; er verbog sie mit der Kraft der Wut, während Bouteloup, den es verdroß, dem Kameraden gefolgt zu sein, abseits stand und ruhig zusah, was der andere trieb.

»Vorwärts, wenn ihr Mut habt!« rief Maheu. »Vorwärts, laßt sehen!«

Er öffnete seine Jacke, riß sein Hemd auseinander, breitete seine nackte Brust aus, sein behaartes, von der Kohle gerötetes Fleisch. Er drängte sich gegen die Stahlspitzen und zwang sie zurückzuweichen. Eine der Spitzen war ihm in die Brust gedrungen; er war wie rasend und machte Anstrengungen, sie noch tiefer eindringen zu lassen.

»Feiglinge, ihr wagt es nicht ... Hinter uns stehen noch zehntausend! ... Ihr könnt uns töten, es kommen zehntausend andere.«

Die Lage der Soldaten wurde kritisch, denn sie hatten den strengen Befehl, sich ihrer Waffen nur im äußersten Falle zu bedienen. Aber wie wollte man diese Wütenden[455] hindern, sich selber aufzuspießen? Der Zwischenraum wurde immer kleiner; die Soldaten waren jetzt an die Mauer gedrängt und konnten nicht weiter zurückweichen. Die kleine Truppe, eine Handvoll Menschen, hielt sich standhaft angesichts der immer mehr anwachsenden Menge und führte kaltblütig die knappen Befehle des Hauptmanns aus. Dieser stand mit hellen Augen und zusammengekniffenen Lippen da und hatte nur die eine Furcht, daß die Soldaten, durch die Beschimpfungen gereizt, die Geduld verlieren könnten. Ein junger Sergeant, ein langer, hagerer Mensch, begann in beunruhigender Weise um sich zu blicken. Neben ihm stand ein alter Knasterbart, dessen Haut in zwanzig Feldzügen gegerbt war; er erbleichte, als er sein Bajonett sich wie einen Strohhalm biegen sah. Ein anderer, ohne Zweifel ein Rekrut, der noch nach der Feldarbeit roch, ward rot, wenn er sich einen Halunken nennen hörte. Die heftigen Reden nahmen kein Ende, die emporgereckten Fäuste, die Beschimpfungen und Drohungen, die sie gleich Backenstreichen trafen.

Ein Zusammenstoß schien unvermeidlich, als man hinter der Truppe den Aufseher Richomme mit seinem weißen Kopfe auftauchen sah. Er war in großer Aufregung und schrie:

»Donner Gottes! Solche Dummheiten darf man nicht zulassen!«

Er warf sich zwischen die Bajonette und die Bergleute.

»Kameraden, hört mich! Ihr wißt, daß ich ein alter Arbeiter bin und nie aufgehört habe, einer der eurigen zu sein. Beim Himmel, ich verspreche euch, daß, wenn man ungerecht gegen euch sein sollte, ich es sein werde, der den Herren die Wahrheit sagt ... Aber jetzt ist's zuviel! Es führt zu nichts, diesen braven Soldaten Beschimpfungen zuzuschreien und sich den Leib durchlöchern zu lassen.«

Die Menge hörte ihn an und geriet ins Schwanken. Zum Unglück erschien oben wieder das scharfe Gesicht[456] des kleinen Negrel. Er fürchtete ohne Zweifel, man könne ihn beschuldigen, einen Aufseher zu senden, anstatt sich selber unter die Leute zu wagen, und versuchte zu reden. Doch seine Stimme verlor sich in einem so furchtbaren Lärm, daß er abermals das Fenster verlassen mußte, was er mit einem Achselzucken tat. Nun bat Richomme sie vergebens, sich zu entfernen; man wies ihn zurück, man verdächtigte ihn. Doch er war eigensinnig und blieb.

»Donner Gottes!« rief er. »Man zerschlage mir den Schädel; aber ich verlasse euch nicht, solange ihr so dumm seid!«

Etienne, den er bat, er möge ihm helfen, sie zur Vernunft zu bringen, machte eine Gebärde, die besagte, daß er machtlos sei. Es war zu spät; ihre Anzahl stieg jetzt auf mehr als fünfhundert. Es waren nicht bloß Wütende, welche herbeigeeilt waren, um die Belgier zu vertreiben; es waren auch Neugierige da, Spaßvögel, die sich ergötzten. In geringer Entfernung standen mitten in einer Gruppe Zacharias und Philomene und schauten zu wie im Theater, so ruhig, daß sie ihre beiden Kinder mitgebracht hatten. Eine neue Schar kam aus Réquillart, darunter Mouquet und die Mouquette; der erstere ging sogleich zu seinem Freunde Zacharias und schlug ihm lustig auf die Schulter, während die Mouquette in die vorderste Reihe der ärgsten Schreier vordrang.

Der Hauptmann wandte sich indes jeden Augenblick nach der Straße von Montsou. Die verlangte Verstärkung blieb aus; seine sechzig Mann konnten nicht länger standhalten. Endlich kam er auf den Einfall, auf die Menge in anderer Weise einzuwirken, und befahl, daß vor ihren Augen die Gewehre geladen würden. Die Soldaten vollzogen den Befehl; allein die Erregung nahm noch zu; die Prahlereien und Spöttereien wurden immer ärger.

»Schau, die Tagediebe! Sie ziehen zum Scheibenschießen aus!« spotteten die Weiber, die Brulé, die Levaque und die andern.[457]

Die Maheu, an der Brust den kleinen Körper Estelles, die erwacht war und weinte, kam so nahe heran, daß der Sergeant sie fragte, was sie mit dem armen Wurm da wolle.

»Was hat's dich zu kümmern?« antwortete sie. »Schieße auf das Kind, wenn du es wagst!«

Die Männer schüttelten verächtlich den Kopf; kein einziger glaubte, daß man auf sie schießen werde.

»Sie haben keine Kugeln in den Patronen«, sagte Levaque.

»Sind wir Kosaken?« schrie Maheu. »Man schießt doch nicht auf Franzosen, Donner Gottes über euch!«

Andere wiederholten, daß man das Blei nicht fürchte, wenn man den Krimkrieg mitgemacht habe. Alle fuhren fort, sich den Gewehren entgegenzuwerfen. Eine Salve würde in diesem Augenblick die ganze Menge weggefegt haben. In der ersten Reihe gebärdete die Mouquette sich wie toll.

Um die Aufregung seiner Leute zu beschwichtigen, entschloß der Hauptmann sich endlich, Verhaftungen vorzunehmen. Die Mouquette entkam mit einem Satz, indem sie sich den Kameraden zwischen die Beine warf. Drei Bergleute, Levaque und zwei andere, wurden aus der Gruppe der ärgsten Schreier geholt und im Aufseherzimmer einer Wache übergeben. Negrel und Dansaert schrien von oben dem Hauptmann zu, sich in das Gebäude zurückzuziehen und sich mit ihnen einzuschließen. Doch er lehnte ab, denn er fühlte, daß dies Gebäude, das Türen ohne Schlösser hatte, von der Menge im Sturm genommen und er mit seinen Leuten den Schimpf erleben würde, entwaffnet zu werden. Seine kleine Truppe begann ungeduldig zu murren; man konnte doch nicht vor diesem jämmerlichen Volk in Holzschuhen die Flucht ergreifen. Die sechzig Mann mit ihren geladenen Gewehren nahmen wieder an der Wand Aufstellung und fällten das Bajonett.[458]

Zuerst wich die Menge zurück, und Schweigen trat ein. Die Streikenden waren eine Weile verblüfft über die Verhaftungen. Dann erhob sich ein Geschrei, man forderte die augenblickliche Freigebung der Gefangenen. Einzelne Stimmen riefen, die Gefangenen würden drinnen erwürgt. Ohne Verabredung, von dem nämlichen Rachebedürfnis fortgerissen, rannten sie zu den benachbarten Ziegelhaufen, zu diesen Ziegeln, die aus der lehmigen Erde geformt und an Ort und Stelle gebrannt wurden. Die Kinder schleppten sie einzeln herbei; die Weiber füllten ihre Röcke damit. Bald hatte jeder zu seinen Füßen einen Vorrat aufgehäuft, und der Kampf begann.

Die Brulé zerbrach die Ziegel auf ihrem magern, knochigen Knie und schleuderte sie mit beiden Händen. Die Levaque verrenkte sich fast die Schultern; sie trat ganz nahe heran, um zu treffen; vergebens zerrte Bouteloup hinten an ihrem Rock, um sie wegzuführen. Alle Weiber gerieten in die höchste Erregung; die Mouquette hatte nicht mehr die Geduld, die Ziegel zu zerbrechen, und zog es vor, sie ganz zu schleudern. Auch die Kinder traten in die Kampflinie ein; Bebert zeigte Lydia, wie man die Ziegel schleudern müsse. Es war ein Hagel von riesigen Wurfgeschossen, deren Krachen man hörte. Plötzlich bemerkte man mitten unter den Furien Katharina, die Fäuste in der Luft, halbe Ziegel schwingend und sie mit der vollen Kraft ihrer kleinen Arme schleudernd. Sie hätte nicht sagen können, warum; sie erstickte vor Begierde, die Leute zu morden. Sollte dies verwünschte Unglücksdasein nicht bald ein Ende nehmen? Sie hatte es satt, von ihrem Manne geohrfeigt und davongejagt zu werden, wie ein Hund im Straßenschmutz zu waten, ohne von ihrem Vater einen Löffel Suppe erlangen zu können, da er selbst mit den Seinen darbte. Sie zerbrach Ziegel und schleuderte sie mit dem einzigen Gedanken, alles hinwegzufegen, die Augen blutunterlaufen, daß sie nicht sah, wem sie etwa die Kinnladen zerschmetterte.[459]

Etienne war vor den Soldaten stehengeblieben, und es wäre ihm beinahe der Schädel gespalten worden. Sein Ohr blutete; er wandte sich um und erbebte, als er sah, daß der Wurf von den fiebernden Händen Katharinas gekommen; auf die Gefahr hin, getötet zu werden, blieb er auf seinem Platz und schaute ihr zu. Auch viele andere vergaßen sich und verfolgten den Kampf mit hängenden Armen. Mouquet beurteilte die Würfe, als wohne er einem Kugelspiel bei; dieser war gut, der andere hingegen verfehlt. Er spaßte; er stieß mit dem Ellbogen Zacharias an, mit dem Philomene zankte, weil er Achilles und Desirée geohrfeigt und sich geweigert hatte, die Kinder auf seinen Rücken zu nehmen, damit sie besser sähen. Auf der Straße standen Zuschauer in dichter Masse beisammen. Auf der Höhe des Abhanges ragte der alte Bonnemort, auf einen Stock gestützt, unbeweglich, aufrecht unter dem rostfarbenen Himmel.

Als die ersten Ziegel flogen, stellte sich der Aufseher Richomme zwischen die Soldaten und die Grubenarbeiter. Er bat die einen, er ermahnte die andern, unbekümmert um die Gefahr, so verzweifelt, daß schwere Tränen ihm aus den Augen flossen. In dem Lärm wurden seine Worte nicht gehört; man sah bloß seinen dicken, grauen Schnurrbart zittern.

Doch der Ziegelhagel ward immer dichter; dem Beispiel der Weiber folgend, beteiligten sich jetzt auch die Männer daran.

Da bemerkte die Maheu, daß ihr Mann mit leeren Händen und düsterer Miene hinten stand.

»Was ist dir?« schrie sie. »Bist du feige? Willst du deine Kameraden ins Gefängnis abführen lassen? ... Du solltest mich sehen, wenn ich dies Kind nicht auf dem Arm hätte!«

Estelle, die sich heulend an ihren Hals geklammert hatte, hinderte sie, sich der Brulé und den anderen anzuschließen; da ihr Mann sie nicht zu hören schien,[460] schleuderte sie ihm mit dem Fuß Ziegelstücke zwischen die Beine.

»Himmelherrgott! Wirst du sogleich diese Steine nehmen? Muß ich dir vor den Leuten ins Gesicht speien, um dir Mut zu machen?«

Sehr rot geworden, zerbrach er die Ziegel und schleuderte die Stücke. Sie betäubte ihn mit wütenden Worten, wobei sie ihre Tochter, die in ihren gekrümmten Armen an ihrer Brust lag, fast erdrückte. Er ging immer weiter vor und befand sich jetzt den Gewehrläufen gegenüber.

Die kleine Truppe verschwand fast unter dem Hagel von Steinen. Glücklicherweise warf man zu hoch, so daß nur die Mauer arg zugerichtet wurde. Was war anzufangen? Der Gedanke, sich ins Haus zurückzuziehen, den Rücken zu wenden, färbte einen Augenblick das bleiche Gesicht des Hauptmanns, aber es war nicht mehr möglich; man würde sie bei der geringsten Bewegung zerschmettert haben. Ein Ziegelstein hatte soeben den Schirm seiner Mütze zerbrochen; Blutstropfen flossen über seine Stirn. Mehrere seiner Leute waren verwundet, und er hatte das Gefühl, daß sie bald aufhören würden, den Vorgesetzten zu gehorchen. Der Sergeant hatte einen Fluch ausgestoßen; die linke Schulter war ihm fast ausgerenkt worden durch einen Steinwurf, der dumpf auf das Fleisch schlug wie ein Schlegel auf die Wäsche. Der Rekrut wurde zweimal getroffen; der eine Wurf hatte ihm einen Daumen zerschmettert, der andere hatte ihn am rechten Knie verletzt. Als ein von der Mauer abprallender Stein den, alten Haudegen traf, wurden seine Wangen grün, und sein Gewehr zitterte in den mageren Armen. Dreimal war der Hauptmann nahe daran, »Feuer!« zu kommandieren. Angst benahm ihm den Atem; der Kampf warf alle seine Gedanken und Überzeugungen durcheinander. Jetzt verdoppelte sich der Steinhagel; er öffnete schon den Mund, um »Feuer!« zu schreien – da gingen die Flinten von selber los, zuerst drei Schüsse,[461] dann fünf, dann eine ganze Salve und zuletzt ein einziger Schuß lange nachher mitten in tiefer Stille.

Entsetzen packte die Menge. Die Leute waren starr und wollten es noch nicht glauben, daß die Soldaten geschossen hatten. Doch bald ertönten gellende Schreie, während der Trompeter »Feuer einstellen!« blies. Tolles Entsetzen griff um sich, eine wilde Flucht durch den Schmutz des Werkhofes setzte ein.

Bei den ersten drei Schüssen sanken Bebert und Lydia aufeinander; die Kleine war im Gesicht getroffen, der Knabe hatte eine Wunde unterhalb der linken Schulter empfangen; Lydia war augenblicklich tot; der Knabe bewegte sich noch. Johannes hinkte eben schlaftrunken vom Réquillart herbei und sah die beiden fallen.

Die fünf andern Schüsse hatten die Brulé und den Aufseher Richomme niedergestreckt. In dem Augenblick, da er die Kameraden beschwor, im Rücken getroffen, war er auf die Knie gesunken, dann auf die Seite gefallen; jetzt röchelte er am Boden, die Augen noch voll Tränen, die er geweint. Die Alte war – in den Hals getroffen – steif niedergefallen wie ein Stück trockenen Holzes, einen letzten Fluch mit einem Blutstrom ausspeiend.

Dann war die Salve gekommen und hatte den Platz rein gefegt, auf hundert Schritt Entfernung die Gruppe von Neugierigen niedergemäht, die sich an dem Kampfe ergötzt hatten. Eine Kugel fuhr Mouquet in den Mund; er stürzte zu den Füßen Zacharias' und Philomenes nieder, beide Kinder mit seinem Blut bespritzend. In demselben Augenblick wurde die Mouquette von zwei Kugeln getroffen. Sie hatte die Soldaten anlegen sehen und sich in ihrer Gutmütigkeit mit einer instinktiven Bewegung vor Katharina geworfen und ihr zugerufen, achtzugeben; sie hatte einen lauten Schrei ausgestoßen und war niedergefallen. Etienne war herbeigeeilt, wollte sie aufheben und wegtragen; doch sie gab ihm[462] mit einer Gebärde zu verstehen, daß alles aus sei. Während ihres Todesröchelns hörte sie nicht auf, ihm und Katharina zuzulächeln, als sei sie froh, die beiden zusammen zu sehen, da sie von hinnen schied.

Alles schien vorüber; die Kugeln hatten sich weithin verloren, bis zu den Häuserreihen des Arbeiterdorfes, als ein letzter, einzelner, verspäteter Schuß krachte. Mitten im Herzen getroffen, drehte Maheu sich um sich selbst und fiel mit dem Gesicht in eine schwarze Pfütze.

Frau Maheu bückte sich in sinnloser Angst zu ihm nieder.

»He, Alter, erhebe dich! Es ist doch nichts, wie?«

Da sie wegen Estelle die Hände nicht frei hatte, mußte sie das Kind unter einen Arm schieben, um den Kopf ihres Mannes umwenden zu können.

»Sprich, wo tut es dir weh?«

Seine Augen blickten hohl, der Mund war mit blutigem Schaum gefüllt. Sie begriff, er war tot. Da blieb sie im Schmutz sitzen, das Kind unter dem Arm wie ein Paket, mit blöder Miene ihren toten Mann anstarrend.

Die Grube war jetzt frei. Mit einer nervösen Handbewegung hatte der Hauptmann seine von einem Steinwurf zerrissene Mütze abgenommen und wieder aufgesetzt; er bewahrte seine bleiche Starrheit angesichts des Unglücks, während seine Leute stumm ihre Gewehre luden. Man konnte die erschrockenen Gesichter von Negrel und Dansaert am Fenster des Aufnahmesaales sehen. Hinter ihnen stand Suwarin, die Stirn von einer tiefen Falte durchfurcht. Am Rande der Hochebene stand Bonnemort, noch immer unbeweglich, mit einer Hand auf seinen Stock gestützt, während er die andere an die Augenbrauen legte, um besser zu sehen, wie man da unten die Seinen erwürgte. Die Verwundeten heulten; die Toten erstarrten auf dem vom Tauwetter aufgeweichten Boden, in schwarzen Pfützen. Mitten unter all diesen kleinen, durch das Elend abgemagerten[463] Menschenleichen lag riesengroß und jämmerlich das tote Pferd.

Etienne war nicht umgekommen. Er wartete noch immer neben Katharina, die von Müdigkeit und Herzleid niedergebrochen war, als plötzlich eine schrille Stimme ihn zusammenfahren ließ. Es war der Abbé Ranvier, der von seiner Messe zurückkehrte und, mit der frommen Wut eines Propheten beide Arme erhebend, den Zorn Gottes auf die Mörder herabrief. Er kündigte die Zeit der Gerechtigkeit an, die baldige Ausrottung des Bürgertums, das das Maß seiner Verbrechen vollmachte, indem es die Arbeiter und die Ausgestoßenen dieser Welt niedermetzeln ließ.

Quelle:
Zola, Emile: Germinal. Berlin [1927], S. 449-464.
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