Viertes Kapitel

[124] Als Maheu heimkehrte, nachdem er Etienne bei dem Gastwirt Rasseneur zurückgelassen, fand er Katharina, Zacharias und Johannes bei Tisch ihre Suppe essen. Wenn die Arbeiter aus der Grube kamen, waren sie dermaßen hungrig, daß sie in den durchfeuchteten Kleidern aßen, noch ehe sie sich gewaschen hatten. Keiner wartete auf den andern; der Tisch blieb vom Morgen bis zum Abend gedeckt; immer war einer da, der seine Portion aß, je nach der Arbeitsteilung.

Kaum eingetreten, sah Maheu die Vorräte. Er sagte nichts, aber sein besorgtes Gesicht heiterte sich auf. Der Gedanke an den leeren Speiseschrank, wo es selbst an Kaffee und Butter mangelte, hatte ihn den ganzen Vormittag gequält, während er in der erstickenden Hitze[124] des Schlages die Kohle bearbeitete. Wie sollte das Weib sich in der Not helfen? Und was sollte man anfangen, wenn sie mit leeren Händen zurückkehrte? Jetzt war von allem da. Sie sollte ihm das später erzählen; einstweilen lachte er vergnügt.

Katharina und Johannes hatten schon den Tisch verlassen und tranken ihren Kaffee stehend, während Zacharias, von der Suppe nicht vollständig gesättigt, sich ein breites Stück Brot abschnitt, das er mit Butter beschmierte. Wohl sah er den Fleischkäse auf einem Teller; doch rührte er nicht daran; er wußte, das Fleisch war für den Vater, wenn nur für einen da war. Alle spülten die Suppe mit einem tüchtigen Trunk frischen Wassers hinab; gegen Ende des Halbmonats mußte man sich damit begnügen.

»Ich habe kein Bier«, sagte die Maheu, als der Vater sich zu Tisch gesetzt hatte. »Ich wollte etwas Geld übrigbehalten. Wenn du willst, holt die Kleine dir eine Maß.«

Er sah sie vergnügt an. Was? Sie hatte auch Geld?!

»Nein, nein«, sagte er; »ich habe einen Schoppen getrunken, das genügt.«

Er begann langsam die Suppe auszulöffeln, einen Brei von Brotschnitten, Kartoffeln, Sauerampfer und Lauch; er aß sie aus einem Napf, der ihm als Teller diente. Die Maheu war, ohne Estelle von der Hand zu lassen, Alzire behilflich, damit es ihm an nichts fehle, schob ihm die Butter und den Fleischkäse hin und stellte seinen Kaffee ans Feuer, damit er recht heiß bleibe.

Inzwischen begann neben dem Ofen die Waschung; die Hälfte eines Fasses diente als Waschbottich. Katharina, die den Anfang machte, hatte ihn mit lauem Wasser gefüllt. Als sie sich gereinigt hatte, ging sie die Treppe hinauf und ließ das nasse Hemd und ihre anderen Kleidungsstücke in einem Haufen auf den Fliesen zurück. Doch jetzt brach ein Streit zwischen den Brüdern los: Johannes hatte sich beeilt, in den Bottich zu springen, unter dem Vorwande, daß Zacharias[125] noch esse; dieser stieß ihn, forderte, daß er selbst an die Reihe komme, und schrie, es sei doch artig genug von ihm, daß er Katharina den Vortritt gelassen; er wolle nicht im Schmutze des Jungen baden; nach Johannes könne man mit dem Wasser die Tintenfässer in der Schule füllen. Schließlich wuschen sie sich zusammen, gleichfalls zum Feuer gewendet, waren sogar einander behilflich und rieben sich gegenseitig den Rücken. Dann verschwanden sie gleich ihrer Schwester, indem sie die Treppe hinanliefen.

»Machen die eine Unordnung!« murmelte Frau Maheu, indem sie die Kleider vom Boden auflas, um sie zum Trocknen aufzuhängen. »Alzire, wasche doch ein wenig auf!«

Doch sie wurde durch ein Gepolter unterbrochen, das plötzlich aus dem Nachbarhause hörbar wurde. Es waren die Flüche eines Mannes und das Weinen einer Frau, Getümmel und Gestampfe, dazwischen dumpfe Hiebe, die hohl klangen wie Stöße an einen leeren Kürbis.

»Die Levaque bekommt ihren Teil«, stellte Maheu ganz ruhig fest, indem er mit dem Löffel den letzten Rest der Suppe aus dem Topf kratzte. »Das ist drollig; Bouteloup behauptete, die Suppe sei fertig.«

»Ach freilich, fertig!« sagte die Maheu. »Ich sah die Gemüse noch ungereinigt auf dem Tische liegen.«

Man hörte ein neues, heftiges Geschrei und ein furchtbares Ringen und Stoßen, das die Mauer erschütterte. Dann wurde alles still. Maheu schluckte den letzten Löffel Suppe und schloß mit ruhiger Miene:

»Ja, wenn die Suppe nicht fertig ist, dann ist's begreiflich.«

Er trank ein volles Glas Wasser und machte sich dann an den Fleischkäse. Er schnitt viereckige Stücke ab, die er mit seinem Messer aufspießte und auf seinem Brot aß, ohne eine Gabel zu gebrauchen. Wenn der Vater aß, wurde nicht gesprochen. Er selbst aß schweigend; er erkannte, daß es nicht das gewöhnliche Wurstzeug[126] Maigrats sei, es mußte von anderwärts kommen, doch richtete er an sein Weib keine Frage. Er erkundigte sich nur, ob der Alte oben noch immer schlafe. Nein, der Großvater war schon ausgegangen, um seinen gewohnten Spaziergang zu machen. Abermals trat Stille ein.

Doch der Geruch des Fleisches ließ Leonore und Heinrich aufblicken, die sich am Boden sitzend die Zeit damit vertrieben, aus dem verschütteten Wasser Bäche zu bilden. Beide Kinder stellten sich neben den Vater, das kleinere voran. Ihre Blicke folgten jedem Stücke, sahen hoffnungsvoll, wie es vom Teller geholt wurde, und sahen dann bestürzt, wie es im Munde des Vaters verschwand. Dieser bemerkte schließlich die Gier, von der sie erblaßten, und wie ihnen der Mund wässerig wurde.

»Haben die Kinder davon bekommen?« fragte er.

Als sein Weib mit der Antwort zögerte, fügte er hinzu:

»Du weißt, ich mag kein Unrecht. Es benimmt mir den Appetit, wenn sie dastehen und nach einem Bissen lechzen.«

»Aber ja, sie haben bekommen!« rief sie zornig. »Wenn du auf sie hören willst, kannst du ihnen deinen Teil geben und den Teil der anderen, sie werden sich vollstopfen, bis sie platzen. Nicht wahr, Alzire, wir alle haben Fleischkäse gegessen?«

»Gewiß, Mama«, antwortete die kleine Bucklige, die unter ähnlichen Umständen mit der Keckheit einer erwachsenen Person log.

Leonore und Heinrich waren verblüfft und empört angesichts einer solchen Lüge; sie selbst wurden geprügelt, wenn sie nicht die Wahrheit sagten. Ihre jungen Herzen waren tief gekränkt, und es drängte sie zu widersprechen und zu erklären, daß sie nicht da waren, als die anderen Fleisch aßen.

»Geht!« wiederholte die Mutter und jagte die Kinder in die andere Ecke der Stube. »Ihr sollt euch schämen, immer um den Teller des Vaters zu hocken. Wenn er[127] nur allein bekommt, ist es recht, denn er arbeitet, während ihr Taugenichtse nur Ausgaben verursacht, mehr als ihr wert seid!«

Maheu rief sie zurück, setzte Leonore auf seinen linken Schenkel, Heinrich auf den rechten; dann aß er den Rest des Fleischkäses mit ihnen. Er schnitt kleine Stückchen und gab jedem seinen Teil; die Kinder waren entzückt und verschlangen die Bissen, die der Vater ihnen reichte.

Als er gegessen hatte, sagte er seiner Frau:

»Gib mir noch nicht den Kaffee; ich will mich vorher waschen ... Sei mir behilflich, das schmutzige Wasser auszuschütten.«

Sie faßten den Bottich an beiden Henkeln und leerten ihn in die Gosse vor der Tür. In diesem Augenblick kam Johannes herunter; er hatte trockene Kleider an, eine Hose und einen Kittel von Wollstoff; beide Stücke waren zu groß, sein älterer Bruder hatte sie abgelegt. Als seine Mutter ihn durch die Tür schlüpfen sah, hielt sie ihn an.

»Wohin gehst du?«

»Dorthin.«

»Wo dorthin? ... Du pflückst mir für den Abend Löwenzahnsalat. Hörst du? Wenn du ohne Salat heimkommst, bekommst du es mit mir zu tun.«

»Gut, gut.«

Johannes ging mit den Händen in den Taschen, die Holzschuhe schleppend, seine mageren Lenden wiegend wie ein alter Grubenarbeiter. Jetzt kam auch Zacharias herunter, sorgfältiger in seinem Äußern, den Oberleib bekleidet mit einem schwarzen, blaugestreiften Wolltrikot. Sein Vater rief ihm zu, er solle nicht zu spät heimkommen; er ging kopfnickend davon mit der Pfeife zwischen den Zähnen, ohne zu antworten.

Der Bottich war wieder mit lauwarmem Wasser gefüllt. Maheu zog langsam die Jacke aus. Auf einen Wink führte Alzire Leonore und Heinrich hinaus. Der Vater liebte es nicht, sich vor der Familie zu waschen, wie dies[128] in vielen anderen Häusern des Arbeiterdorfes vorkam. Er tadelte übrigens niemand; er sagte bloß, es passe sich für Kinder, zusammen im Wasser zu plätschern.

»Was machst du da oben?« rief die Maheu über die Treppe hinauf.

»Ich bessere mein Kleid aus, das ich gestern zerrissen habe«, antwortete Katharina.

»Gut; komm jetzt nicht herunter, dein Vater wäscht sich.«

Maheu und sein Weib blieben jetzt allein. Diese legte Estelle, die merkwürdigerweise nicht heulte, auf einen Stuhl, weil sie sich neben dem Feuer wohl befand und von da ihre leeren Blicke auf die Eltern richtete. Maheu hockte nunmehr vor dem Bottich; er hatte zuerst den Kopf hineingesteckt und mit schwarzer Seife gerieben, deren Jahrhunderte währender Gebrauch die Haare des ganzen Stammes entfärbte und gelb machte. Dann stieg er ins Wasser, bestrich die Brust, den Bauch, die Arme, die Schenkel und bearbeitete sie kräftig mit beiden Händen. Sein Weib stand dabei und schaute ihm zu.

»Hör' einmal,« begann sie, »ich habe gesehen, wie du Augen machtest, als du heimkamst ... Du hast dir wohl den Tag über Kummer gemacht, und der Anblick dieser Vorräte hat dich aufgeheitert ... Denke dir, daß die Spießbürger in der Piolaine mir nicht einen Sou gegeben haben. Sie waren sehr freundlich, haben die Kleinen bekleidet, und ich schämte mich um Geld zu bitten, denn mir bleibt das Wort in der Kehle stecken, wenn ich betteln soll.«

Sie unterbrach sich einen Augenblick, um Estelle auf dem Sessel zurechtzulegen. Der Vater fuhr fort, sich die Haut abzureiben, ohne durch eine Frage diese ihn interessierende Geschichte zu beschleunigen, und geduldig wartend, bis er begreifen werde.

»Ich muß dir sagen, daß Maigrat mir den Kredit verweigert hat; ja, rundweg verweigert, wie man einen Hund hinausjagt ... Du kannst dir meine Lage vorstellen.[129] Wollene Kleider mögen ja gut warm halten, aber damit hat man noch nichts im Magen. Ist's nicht so?«

Er hob den Kopf, ohne etwas zu sagen. Nichts in der Piolaine, nichts bei Maigrat, was denn? Doch schon hatte sie, wie sie es gewöhnlich tat, die Ärmel aufgeschürzt, um ihm den Rücken und jene Teile des Körpers zu waschen, die er selbst nicht leicht erreichen konnte. Er liebte es übrigens, daß sie ihn einseifte, daß sie ihn überall rieb, bis die Handknöchel sie schmerzten. Sie nahm die Seife und bearbeitete ihm die Schultern, während er sich in die Höhe reckte, um den Druck ihrer Hände auszuhalten.

»Ich bin dann zu Maigrat zurückgegangen und habe ihm Worte gesagt, feine Worte! ... Es müsse einer kein Herz im Leibe haben, um so zu handeln, und es müsse ihm schlimm ergehen, wenn es noch eine Gerechtigkeit gebe ... Das ging ihm an die Kehle; er wandte den Kopf weg und wäre am liebsten fortgelaufen ...«

Während sie ihn abseifte, fuhr sie fort:

»Schließlich hat er mich eine alte Klette genannt ... Doch wir werden Brot haben bis zum Samstag, und das schönste ist, daß er mir auch hundert Sous geliehen hat ... Ich nahm bei ihm noch Butter, Kaffee und Zichorie; ich wollte auch Wurst und Kartoffeln nehmen, doch da begann er zu brummen ... Für sieben Sous Fleischkäse, für achtzehn Sous Kartoffeln; es blieben mir drei Franken und fünfundsiebzig Centimes für ein Ragout und ein Suppenfleisch ... Ich glaube meinen Vormittag ganz gut genutzt zu haben.«

Jetzt trocknete sie ihn ab und betupfte mit einem Lappen die Stellen, wo er nicht gleich trocken werden wollte. Er war froh, dachte nicht daran, daß die Schuld auch bezahlt werden müsse, brach in ein helles Lachen aus und schloß sie in seine Arme.

»Laß doch, Narr! Du bist noch ganz naß und wirst mich auch feucht machen ... Aber«, fügte sie hinzu, »ich glaube, Maigrat hat gewisse Absichten ...«[130]

Sie wollte von Katharina reden, hielt aber inne. Wozu sollte sie den Vater beunruhigen? Das gäbe wieder Geschichten ohne Ende.

»Was für Absichten?« fragte er.

»Die Absicht, uns zu betrügen. Katharina wird seine Rechnung genau prüfen müssen.«

Als Maheu trocken war, zog er bloß ein trockenes Beinkleid an. Wenn er sauber war und mit seinem Weibe geschäkert hatte, war es sein Vergnügen, eine Weile mit nacktem Rumpf zu bleiben. In seiner Haut, die so weiß war wie bei blutarmen Mädchen, gab es allerlei Risse und Schnitte, die von der Kohle herrührten; die Grubenarbeiter nannten dies »Augen«. Er tat ganz stolz, zeigte seine dicken Arme, seine breite Brust, die wie blau geäderter Marmor schimmerten. Zur Sommerzeit konnte man alle Grubenarbeiter so vor ihren Haustüren sehen. Er ging auch jetzt einen Augenblick hinaus, trotz des feuchten Wetters, und rief einem Kameraden, der jenseits der Gärten, gleichfalls mit nackter Brust, auf der Straße stand, ein gepfeffertes Wort hinüber. Es kamen noch andere heraus; und die Kinder, die auf dem Trottoir spielten, schauten auf und stimmten lachend mit ein in die Freude über all das müde Fleisch der Arbeiter, das in die freie Luft gebracht wurde.

Während er seinen Kaffee trank – ehe er noch sein Hemd übergeworfen hatte –, erzählte Maheu seinem Weibe von dem Zorn des Ingenieurs wegen der Verschalung. Er war jetzt ruhig und gelassen und hörte mit zustimmendem Kopfnicken die weisen Ratschläge seines Weibes an, das in diesen Dingen sehr viel gesunden Sinn zeigte. Sie wiederholte ihm immer wieder, daß bei Reibungen mit der Gesellschaft nichts zu gewinnen sei. Dann erzählte sie ihm von dem Besuch der Frau Hennebeau; beide waren stolz, ohne es zu sagen.

»Kann man hinunterkommen?« fragte Katharina von der Höhe der Treppe.

Das Mädchen hatte ihren Sonntagsstaat angelegt, ein[131] altes Kleid von blauer Popeline, in den Falten schon verblaßt und abgenützt. Auf dem Kopfe trug sie ein einfaches Häubchen von schwarzem Tüll.

»Schau, du hast dich angekleidet ... Wohin gehst du denn?«

»Ich gehe nach Montsou, um ein Band für meine Haube zu kaufen. Ich habe das alte weggerissen; es war zu schmutzig.«

»Hast du denn Geld?«

»Nein; die Mouquette hat mir versprochen, mir zehn Sous zu leihen.«

Die Mutter ließ sie ziehen; doch als Katharina schon bei der Tür war, rief sie ihr nach:

»Hör' einmal: kaufe dein Band nicht bei Maigrat ... Er betrügt dich und könnte glauben, daß wir im Gelde wühlen.«

Der Vater, der sich vor dem Feuer niedergehockt hatte, um Nacken und Achselhöhlen rascher zu trocknen, begnügte sich hinzuzufügen:

»Lauf des Nachts nicht auf den Straßen umher.«

Am Nachmittag arbeitete Maheu in seinem Garten. Er hatte schon Kartoffeln, Bohnen und Erbsen gepflanzt; auch hatte er sich gestern Kohl und Lattich zum Setzen bereitgestellt. Dieser Winkel des Gartens versorgte sie mit Gemüsen, Kartoffeln ausgenommen, von denen sie nie genug haben konnten. Er war im Gartenbau sehr bewandert und zog selbst Artischocken, was von den Nachbarn als Großtuerei angesehen wurde. Eben als er sich anschickte, die Pflanzen zu setzen, erschien Levaque, seine Pfeife rauchend, in seinem Gärtchen und betrachtete den Salat, den Bouteloup am Morgen gepflanzt hatte; hätte nicht der Mieter in dem Gärtchen einiges gearbeitet, wäre es von Brennesseln überwuchert. Die beiden begannen ein Gespräch über den Gartenzaun hinweg. Levaque, noch müde und aufgeregt von den Prügeln, die er seiner Frau verabreicht hatte, machte vergebliche Anstrengungen, Maheu in die Schenke Rasseneurs zu locken. Hatte er vor einem[132] Schoppen Angst? Man werde eine Kegelpartie machen, dann mit den Kameraden eine Weile herumstreichen und schließlich zum Abendessen heimkehren. So lebten die Arbeiter, wenn sie die Grube verlassen hatten. Es sei gewiß nichts Übles dabei; allein Maheu weigerte sich; er müsse seine Pflänzlein setzen, sagte er. Im Grunde weigerte er sich aus kluger Vorsicht; er wollte nicht einen Heller von dem verlangen, was seinem Weibe von den hundert Sous noch übriggeblieben war.

Es schlug fünf Uhr, als Frau Pierron kam, um zu fragen, ob ihre Lydia nicht mit Johannes fortgegangen sei. Levaque erwiderte, es müsse wohl so sein, da Bebert gleichfalls verschwunden sei und diese drei immer zusammen ihre schlimmen Streiche machten. Nachdem Maheu sie beruhigt hatte, indem er erzählte, daß die Kinder Löwenzahn zum Abendsalat suchten, begannen er und der Nachbar mit gutmütiger Ungezwungenheit Frau Pierron zu necken. Ihr kam eine magere Frau zu Hilfe, deren stammelnder Zorn dem Gegacker einer Henne glich. Andere Hausfrauen erschienen gleichfalls vor der Tür und zeigten gelinde Entrüstung. Jetzt war auch die Schule aus; die Kinder lungerten auf dem Straßenpflaster herum, es war ein Gewimmel von kleinen Wesen, die sich am Boden wälzten und balgten, während die Väter, die nicht in der Schenke waren, in Gruppen zu dreien und vieren auf ihren Fersen hockten wie in der Grube und im Schatten einer Mauer ihre Pfeife rauchen. Endlich entfernte sich Frau Pierron.

Das Abenddunkel brach plötzlich herein; Frau Maheu zündete die Lampe an, verdrossen darüber, daß weder die Tochter noch die Jungen heimkehrten. Sie hätte darauf wetten können: es wollte nie gelingen, zusammen die einzige Mahlzeit einzunehmen, bei der man sich rings um den Tisch hätte versammeln können. Dann wieder war es der Löwenzahnsalat, auf den sie wartete. Was konnte denn der Schlingel in der pechfinsteren Nacht noch pflücken? Ein Salat sei eine schöne Zutat zu dem Gemüse, das sie bereitet habe, eine Mischung[133] von Kartoffeln, Sauerampfer, Lauch und geschmorten Zwiebeln. Das ganze Haus war vom Wohlgeruch der geschmorten Zwiebeln angefüllt, diesem Geruch, der so schnell ranzig wird und als übler Gestank durch die Ziegelwände dieser Arbeiterhäuser dringt, daß man schon weit draußen im Freien die Nähe des Arbeiterdorfes erraten kann.

Als Maheu bei eingetretener Dunkelheit den Garten verließ, schlummerte er sogleich auf einem Sessel ein, den Kopf an die Wand gelehnt. Sobald er sich des Abends setzte, schlief er ein. Die Kuckucksuhr schlug die siebente Abendstunde; Heinrich und Leonore zerbrachen einen Teller, weil sie sich es in den Kopf gesetzt hatten, Alzire bei dem Tischdecken zu helfen. Jetzt kam Vater Bonnemort als erster nach Hause; er wollte rasch essen, um zur Grube zurückzukehren. Frau Maheu weckte ihren Mann.

»Laß uns essen; um so schlimmer für die Rangen! ... Sie sind groß genug, um den Weg nach Hause zu finden. Es ist nur schade, daß wir keinen Salat haben.«

Quelle:
Zola, Emile: Germinal. Berlin [1927], S. 124-134.
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