Der Wille zum Weltgedicht

[153] »Ce vol

Vers la beauté toujours plus claire et plus certaine.«

E. V.


Der dichterische Bewältigung des Lebens stellt gewissermaßen einen Verbrennungsprozeß dar. Jeder Dichter nährt die Flamme seines inneren Wesens, seine künstlerische Leidenschaft mit den Dingen der Umwelt, wandelt sie zur Flamme und läßt sie gleichzeitig mit sich selbst verlodern. Je mehr aber mit dem matteren Kreislauf des Blutes die Flamme sich kühlt, um so schwächer wird dieser Brand, und allmählich lösen sich aus diesem Verbrennungsprozeß die reinen Kristalle, die Rückstände jenes Kampfes der inneren Flamme mit den wirklichen Dingen. Das Werk Verhaerens war in seiner Jugend und in den Mannesjahren eine unendlich heiße Flamme, gesetzlos, frei und lodernd wie diese. Nun aber in den Werken des Fünfzigjährigen, wo die Leidenschaft gekühlt ist, offenbart sich die Sehnsucht, das Ziel dieser Leidenschaft, die innere Gesetzmäßigkeit dieser Unruhe zu finden. Die Begeisterung für das Gegenwärtige, die dichterische Verbrennung der Welt in Visionen ohne den Rückstand von Philosophie und Erkenntnis genügen ihm nicht mehr. Denn jede tiefere Betrachtung des Gegenwärtigen ist ohne Überschreitung der Grenzen nicht denkbar, alles Seiende ist gleichzeitig ein Gewordenes und wieder ein Werdendes. Nichts ist so ganz nur gegenwärtig, daß es nicht mit dem Vergangenen und Zukünftigen innig verbunden wäre. Das Ewige und Bleibende ist die Innenseite aller Erscheinungsformen. Und je mehr nun der Dichter die Vision vom Äußeren, vom Malerischen zur Innenwelt, zur Psychologie wendet, je mehr er von den äußeren[153] Erscheinungen niedersteigt zu den Wurzeln der Kräfte, um so mehr muß er das Bleibende hinter dem Wandelbaren der Dinge erfassen. Keine Erkenntnis des Zeitgenössischen ist fruchtbar, wenn sie nicht gesättigt ist mit der Erkenntnis der zeitlosen Gesetze, wenn die wechselnden Erscheinungen nicht als Wandlungen erkannt sind vom unveränderlichen Urphänomene. Dieser Übergang der Mannesjahre zum Alter, der Betrachtung zur Erkenntnis ist in der unvergleichlich organischen Entwicklung dieses Dichters auch ein neuer künstlerischer Übergang. Ein Übergang: keine Umbildung mehr, sondern eine Fort- und Rückbildung, sowie ja auch die poetische Form des Gedichtes bei Verhaeren sich nicht mehr wandelt, sondern nur versteinert. Der Besitz der Mannesjahre ist ein unverlierbarer, sein Wert kann nur noch gesteigert werden durch die Erkenntnis, die Wertung des Besitzes. Nach den Mannesjahren wird vielleicht nichts Neues mehr erlebt, die Statik ist gewonnen, aber das Erlebte wird nur besser verstanden. Das Erlebnis ist nicht mehr Kampf, nicht mehr ein Unruhiges, ein Entgleitendes, sondern Besitz. Was die Leidenschaft im Ansprung erkämpft und errungen hat, ordnet und wertet nun die Ruhe. Dieser Übergang von Jugend und Alter ist bei Verhaeren im Sinne Nietzsches ein Übergang vom Dionysischen zum Apollinischen, vom Überschwang zur Harmonie. Seine Sehnsucht ist »vivre ardent et clair«, leidenschaftlich zu leben, aber zugleich auch klar, sein inneres Feuer zu bewahren, aber seine Unruhe zu verlieren. Verhaerens Bücher werden immer kristallener in diesen Jahren, das Feuer in ihnen lodert nicht mehr offen wie ein flammender Holzstoß, sondern glänzt und funkelt wie aus den tausend Facetten eines Edelsteins. Der Dampf und die Unrast des Feuers verschwinden,[154] nun klären sich erst die reinen Niederschläge. Aus Anschauungen werden Begriffe, aus ringenden irdischen Energien die ewigen unabänderlichen Gesetze.

Der Wille dieser letzten Jahre, dieser letzten Werke ist der Wille zum Weltgedicht. In der Trilogie der Städte hatte Verhaeren die gegenwärtige Umwelt erfaßt, hatte sie an sich herangerissen, sie bezwungen. Er hatte in leidenschaftlichen Visionen ihr Bild gestaltet, ihre Form gewonnen, und nun stand sie neben der wirklichen Welt als seine eigene. Aber ein Dichter, der sich die ganze Welt schaffen will, die ganze unendliche Vista ihrer Möglichkeiten neben den Wirklichkeiten, muß ihr alles geben: nicht nur die Form, nicht nur ihr Antlitz, sondern auch ihre Seele, ihren Organismus, ihren Ursprung und ihre Entwicklung. Er darf sie nicht nur malerisch und energetisch begreifen, sondern er muß ihr eine enzyklopädische Form geben. Er muß ihr eine Mythologie schaffen, eine neue Dynamik, eine neue Moral, eine neue Ethik, eine neue Geschichte. Er muß über sie oder in sie einen Gott wirkend und wandelnd stellen. Nicht als Seiendes, nicht als Gegenwärtiges nur darf er sie dichten, sondern als Gewordenes und Werdendes. Vorklang und Ausklang muß sie haben. Diesen Willen zum Weltgedicht haben nun die neuen und wertvollsten Bücher Verhaerens: »Les Visages de la Vie«, »Les Forces tumultueuses«, »La multiple Splendeur«, »Les Rythmes souverains« – Bücher, die schon im Titel die große, das Himmelsgewölbe einschließende Geste andeuten. – Sie sind die Pfeiler dieses gewaltigen Baues, die großen Strophen des Weltgedichtes. Sie sind nicht mehr Aussprache mit sich selbst und mit dem Zeitgenössischen, sondern mit allen Zeiten. »S'élancer vers l'avenir« ist ihre Sehnsucht: weg von den Vergangenheiten zur Zukunft zu[155] sprechen. In ihnen schreitet das Lyrische über die Dichtung hinaus. Es entflammt die Nachbargebiete, die Philosophie und die Religion, entflammt sie zu neuen Möglichkeiten. Denn nicht nur ästhetisch will sich Verhaeren mit den Wirklichkeiten abfinden, nicht nur dichterisch die neuen Möglichkeiten bezwingen, sondern nun auch moralisch und religiös. Die Welt nicht mehr in Einzelerscheinungen zu begreifen, sondern ihre neue Form in ein neues Gesetz zu prägen ist die Aufgabe dieser letzten und bedeutendsten Versbücher. In »Les Visages de la Vie« hat Verhaeren die ewigen Kräfte, die Milde, die Freude, die Kraft, die Tätigkeit, die Begeisterung in einzelnen Gedichten verherrlicht, in »Les Forces tumultueuses« die geheimnisvolle Dynamik der Vereinung, ihr Durchscheinen durch die Formen des Wirklichen, in »La multiple Splendeur« die Ethik der Bewunderung, das freudige Verhältnis der Menschen zu den Dingen und zu sich selbst, und in »Les Rythmes souverains« die erlauchtesten Beispiele der Ideale dargestellt. Längst ist ihm das Leben nicht mehr Schauen und Betrachten:


»Vivre c'est prendre et donner avec liesse

Avide et haletant

Devant la vie et sa rouge sagesse!«


Allmählich ist aus der Beschreibung, aus der dichterischen Analyse ein Hymnus geworden, die »laudi del cielo, del mare, del mondo«, die Gesänge der ganzen Welt und des Ich und darüber die der Harmonie ihrer Schönheit und Vereinung. Das Lyrische ist hier zum Weltgefühl geworden, Erkenntnis zur Ekstase. Über der Erkenntnis, daß es nichts Einzelnes geben könne, daß alles geordnet sei und dem letzten einheitlichen Weltgesetz gehorche, über dieser Erkenntnis erhebt sich ein noch Höheres – über die Weltbetrachtung der Glaube[156] an das Weltgefühl. Der herrliche Optimismus dieser Werke endet im religiösen Vertrauen, daß alle Gegensätze sich regeln werden, der Mensch immer mehr der Erde bewußt sein wird, jeder einzelne in sich sein Weltgesetz entdecken muß, das ihm möglich macht, alles lyrisch, mit Begeisterung, mit Freude zu erfassen.

Hier hebt sich die Dichtung Verhaerens weit über die literarische Grenze hinaus, sie wird Philosophie und wird Religion. Verhaeren war von allem Anfang an ein eminent religiöser Mensch. In der Kindheit war der Katholizismus sein tiefstes Lebensgefühl, aber dieser Katholizismus war ihm untergegangen in den Krisen der Jünglingsjahre, die Religiosität war gewichen der bewundernden Betrachtung vor den neuen Dingen, der Ekstatik vor dem Leben. Aber nun da Verhaeren zum Metaphysischen wieder zurückkehrt, erwacht die alte Sehnsucht. Die alten Götter sind ihm gestorben, Pan ist tot und Christus auch. Da fühlt er das Bedürfnis, sich für diese neue Empfindung, für diese Identität von Ich und Welt einen neuen Glauben zu finden, eine neue Gewißheit, einen neuen Gott. Die neuen Konflikte haben in ihm eine Sehnsucht erzeugt nach neuem Gleichgewicht, sein stürmisch religiöses Gefühl, das glauben will, braucht neue Erkenntnisse. Das Bild der Welt wäre unvollkommen ohne den Gott, der sie beherrscht. Ihm geht alle diese Sehnsucht entgegen, und sie findet ihre Erfüllung. Und diese Erkenntnis gibt ihm die höchste Lebensfreude, den seligsten Lebensstolz.


»Voici l'heure de sang et de jeunesse,

Un vaste espoir venu de l'inconnu déplace

L'équilibre ancien dont les âmes sont lasses.

La nature paraît sculpter

Un visage nouveau à son éternité.«[157]


Dieses neue Gottesantlitz zu meißeln ist der Versuch seiner letzten und reifsten Werke, in denen das hartnäckige Nein von einst zu einem lauten, jubelnden Ja des Lebens geworden ist und die einstigen großen Möglichkeiten eine ungeahnte reiche Wirklichkeit.[158]

Quelle:
Insel Verlag, Leipzig, 1913, S. 153-159.
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