Die europäische Bedeutung des Werkes

[215] Futur, vous m'exaltez comme autrefois mon Dieu!

E. V.


Die letzte, die entscheidend wirkende Kraft eines jeden, diejenige, die allein erst sein Werk oder seine Tätigkeit zur höchsten Möglichkeit anspannen kann, ist das Verantwortungsgefühl. Verantwortlich sein und sich so empfinden heißt, das ganze Leben gewissermaßen als eine ungeheure Schuld betrachten, die man mit allen Kräften abzuzahlen sich bemühen muß, heißt, seine jeweilige irdische Aufgabe in ihrer ganzen umspannenden Bedeutung, Wichtigkeit und Peripherie zu überschauen und dann seine eigenen innerlichen Möglichkeiten und Fähigkeiten zu ihrer vollkommensten Bewältigung zu erheben. Diese irdische Aufgabe ist nun den meisten schon äußerlich abgegrenzt in einem Amt, in einem Beruf, im Umkreis einer Tätigkeit. Bei einem Künstler aber ist sie gewissermaßen ein unendliches Maß, das nie erreichbar wird, seine Aufgabe daher eine unbegrenzte, eine ewige, nie ermattende Sehnsucht. Da seine Pflicht eigentlich nur sein kann, sich selbst möglichst vollkommen zum Ausdruck zu bringen, so fällt diese Verantwortung mit der Anforderung zusammen, sein Leben und damit auch sein Talent zur höchsten Vollendung zu bringen, im Goetheschen Sinn »das enge Dasein zur Ewigkeit zu erweitern«. Der Künstler ist für sein Talent verantwortlich, weil es seine Aufgabe ist, es zu entäußern. Je höher nun die Idee der Kunst begriffen ist, je mehr sie ihre Aufgabe als Aufgabe zum universellen Lebensausgleich empfindet, um so mehr muß das Verantwortlichkeitsgefühl in einem Schaffenden gesteigert sein.

Verhaeren ist nun von den Dichtern unserer Tage[215] derjenige, der dieses Verantwortlichkeitsgefühl am stärksten empfunden hat. Dichten heißt für ihn nicht nur sich selbst zum Ausdruck zu bringen, sondern das Ringen, Streben, Bemühen der ganzen Zeit, die furchtbare Qual und die Seligkeit des Gebarens der neuen Dinge. Eben weil sein Werk ganz die Gegenwart umfaßt, sie ganz aussagen will, fühlt er sich vor der Zukunft verantwortlich. Für ihn muß ein wahrhafter Dichter die ganze seelische Sorge seiner Zeit veranschaulichen. Denn wenn die Späteren – so wie sie die Monumente abfragen werden nach unserer Kunst, die Bilder nach unseren Malern, die sozialen Formen nach unseren Philosophen – an die Verse und Werke der Heutigen die Frage stellen werden: was war eure Hoffnung, euer Empfinden, euer Ausgleich? wie habt ihr die Städte empfunden, die Menschen, die Dinge, die Götter? – werden wir ihnen antworten können? Das ist die innere Frage seines künstlerischen Gewissens. Und dieses Verantwortlichkeitsgefühl hat das Werk Verhaerens groß gemacht. Die meisten Dichter unserer Zeit sind fast unbekümmert um die Wirklichkeit. Die einen spielen zum Tanz auf, erheitern und beschäftigen die Sorglosen im Theater, andere wieder erzählen ihr eigenes Leid, verlangen Mitleid und Mitempfinden, sie, die mit den andern nie empfunden haben. Verhaeren aber wendet sich über Beifall und Mißfall unserer Zeit weit hinüber zu den Späteren:


»Celui qui me lira, dans les siècles un soir,

Troublant mes vers, sous leur sommeil ou sous leur cendre,

Et ranimant leur sens lointains, pour mieux comprendre

Comment ceux d'aujourd'hui s'armaient d'espoir:

Qu'il sache, avec quel violent élan ma joie

S'est, à travers les cris, les révoltes, les pleurs,[216]

Ruée au combat fier et mâle des douleurs,

Pour en tirer l'amour, comme on conquiert sa proie.«


Dieses großzügige Verantwortungsgefühl war es im letzten Grunde, das ihn an keiner Erscheinung unserer Gegenwart unbeachtet und ungewertet Vorbeigehen ließ, denn er weiß, daß die Späteren die Frage stellen werden, wie wir jenes Neue, das ihnen schon Besitz und Selbstverständlichkeit ist, damals empfunden haben, als es noch fremd und fast feindlich war. Sein Werk ist diese Antwort. Der wahrhafte Dichter von heute in seinem Sinne muß die Qual und die Mühe des ganzen seelischen Überganges aufzeigen, die mühevolle Entdeckung der neuen Schönheit in den neuen Dingen, die Revolte, die Krise, die Kämpfe, die es uns kostet, all dies zu begreifen, sich ihm anzupassen und es schließlich zu lieben. Unsere ganze Zeit in ihrer irdischen, ihrer materiellen, ihrer seelischen Form hat Verhaeren auszudrücken versucht. Seine Verse stellen lyrisch das Europa um die Jahrhundertwende vor, uns und unsere Zeit, bewußt betrachten sie den ganzen Umkreis der Lebensdinge: sie schreiben eine lyrische Enzyklopädie unserer Zeit, die geistige Atmosphäre Europas an der Wende des zwanzigsten Jahrhunderts.

Das ganze Europa spricht durch seine Stimme, spricht über unsere Zeit hinaus, und aus ganz Europa kommt schon vorläufige Antwort. In Belgien ist Verhaeren vor allem der nationale Dichter, der Dichter der Heiden, der Städte, der Dünen und der flandrischen Vergangenheit, der große Erneuerer des heimatlichen Stolzes. Dort steht er zu nahe, um in seiner ganzen Bedeutung erfaßt zu werden. Und auch in Frankreich würdigen ihn die wenigsten nur richtig. Die meisten betrachten ihn dort literarisch als einen Symbolisten[217] und Dekadenten, einen Umformer des Verses, einen kühnen und genialen Revolutionär. Aber die wenigsten sehen das neue und bedeutsame Werk, das in seinen Versen erbaut ist, umfassen die Gesamtheit und Geschlossenheit seiner Weltanschauung. Aber schon ist er wirksam. In vielen Dichtern erkennt man den neuen Rhythmus wieder, den er geschaffen, und ein genialer Schüler wie Jules Romains hat sogar seine Idee des städtischen Gefühles zu neuer Eindringlichkeit gebracht. Am besten aber verstehen ihn jene Franzosen, die in geheimnisvoller Gemeinschaft stehen mit all dem, was groß und drängend ist im Ausland, die ein ethisches Bedürfnis, ein Verlangen nach innerer Umwertung, nach Umbildung der Rassen, nach Internationalität und Vereinung haben, so vor allem Léon Bazalgette, der Entdecker Walt Whitmans, für Frankreich, der Prophet aller starken bewußten Wirklichkeitskunst. Am freudigsten aber hallt die Antwort aus jenen Ländern, die selbst innerlich in sozialen und ethischen Krisen befindlich sind, jenen Ländern, wo das religiöse Bedürfnis vitaler Trieb ist, die den ewigen Gotteshunger haben, vor allem aus Rußland und Deutschland. In Rußland feiert man wie nirgends den Dichter der »Villes tentaculaires«. Als der Dichter der sozialen Erneuerungen wird er auf den Universitäten gelesen, und in den Kreisen der Intellektuellen gilt er als der geistige Wegweiser unserer Zeit. Brjussow, der ausgezeichnete junge Dichter, hat ihn übersetzt und ihm die Möglichkeit der Popularität gegeben. Auch in den andern slawischen Ländern beginnt die Verbreitung seines Werkes.

Am stärksten, eindringlichsten und selbst für uns unerwartet intensiv, die wir dafür gearbeitet hatten, ist Verhaerens Erfolg, und man darf wohl sagen Triumph in Deutschland geworden. Wenige Jahre haben genügt,[218] ihn hier so populär zu machen wie jeden heimischen Dichter, und das schönste seines Erfolges ist, daß man schon zu vergessen beginnt, ihn als Ausländer zu werten. Verhaeren ist heute deutscher Kulturbesitz und vieles der neueren Lyrik, jene wohltuende Wendung zur Lebensbejahung, ohne sein Werk und Wirken nicht mehr zu denken. Unzählig sind die Studien, die man ihm gewidmet hat, die Rezitationsabende, an denen unsere ersten Sprechkünstler – Kainz, Moissi, Kayßler, Heine, Wiecke, Durieux, Rosen, Gregori – ihr Teil hatten, keiner von diesen Interpreten ist aber so glühend begrüßt worden, als dann Verhaeren selbst auf seiner deutschen Tournee, die ihm nicht minder als dem Publikum zum Erlebnis wurde, weil er froh fühlte, daß er nun auch in deutscher Erde für immer mit seinem Werke wurzelt. In Skandinavien, wo Johannes V. Jensen unbewußt das lyrische Werk Verhaerens essayistisch transkribierte, hat Ellen Key, die begeisterte Prophetin des Lebensglaubens, ihm zugejubelt wie keinem andern, und Georg Brandes, der Dichterkröner, ihn mit lauter Zustimmung empfangen. Unablässig in beharrlichem, sicherem Aufstieg, wächst Verhaerens Ruhm. Und vor allem, nicht mehr als Einzelnes wird sein Gedicht betrachtet, sondern als Werk, als Weltanschauung, als Antwort auf die Fragen unserer Zeit, als stärkste und schönste Bereicherung unseres Lebensgefühles. Wo immer man müde ist des Pessimismus, müde der verworrenen Mystik und müde monistischer Flachheit, wo immer sich Sehnsucht rührt nach reiner idealistischer Form der Betrachtung, nach einem neuen Ausgleich zwischen unsern neuen Wirklichkeiten und der alten Ehrfurcht vor den ewigen Geheimnissen, nach der Verirdischung des Göttlichen und der Vergöttlichung des Irdischen, steht sein Name in erster Reihe. Antwort[219] kommt von allen Seiten, aber nicht weil sein Werk eine Frage war, sondern weil es selbst schon Antwort ist auf das unbewußte Begehren nach einer neuen Gemeinsamkeit, in der Menschen aller Nationen sich heute allerorts begegnen.

Aber all dies ist nur ein Anfang. Werke wie das seine, die zu wenig paradox, zu wenig blendend sind, um plötzliche Ekstasen und literarische Moden erzeugen zu können, die eben, weil sie selbst organisch gewachsen sind, nur organisch, aber darum unaufhaltsam in ihrer Wirksamkeit, wachsen können, ergreifen nur langsam die Massen. Erst die Späteren werden die Frucht genießen, deren Reife aus bescheidenster Blüte wir mit immer erneuter Bewunderung gesehen haben. Aus allen Nationen aber reiht sich ein Ring von Menschen, die Verhaerens Persönlichkeit als ein neues Zentrum der Geistigkeit empfinden. Und wir, die wenigen, die wir heute ganz seinem Werke hingegeben sind, dürfen es nur mit jenem Gefühle werten, das er uns selbst als höchstes Lebensgefühl gelehrt hat, mit Enthusiasmus, immer erneuter Dankbarkeit und freudiger Bewunderung. Denn wem in unseren Tagen sollte man diese neue Lebenslehre vom Enthusiasmus als dem seligsten Gefühle reicher und stürmischer entgegenbringen als Verhaeren, der als erster sie in bittersten Kämpfen den Tiefen unserer Zeit bildnerisch entrungen und zum ewigen Gesetze des Lebens erhoben hat?[220]

Quelle:
Insel Verlag, Leipzig, 1913, S. 215-221.
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