Die Lebenskunst Verhaerens

[207] Je suis d'accord avec moi-même

Et c'est assez.

E. V.


Camille Lemonnier, der Meister seiner Jugend, der Freund seiner Mannesjahre, hat bei dem Feste, das Belgien zu Ehren des Dichters von »Tout la Flandre« veranstaltete, einer dreißigjährigen Freundschaft Ausdruck gegeben und in einer machtvollen Rede ein wundervolles Wort gesagt. »Die Zeiten werden kommen,« sagte er, »wo man, um mit wahrhafter Wirkung vor den Menschen zu erscheinen, vorerst wird beweisen müssen, daß man selbst wahrhaft ein Mensch gewesen ist«, und hat Verhaeren dann gerühmt, wie voll und ganz er dieser hohen Anforderung der Zukunft entsprochen habe, wie sehr er Mensch im Sinne eines Kunstwerkes und einer Vollendung gewesen sei. Denn wer ein großes Kunstwerk schaffen will, muß selbst Kunstwerk sein. Wer nicht nur künstlerisch, sondern auch moralisch wirken und unser Leben an seinem Vorbild formen und erhöhen will, gibt uns das Recht, nach seinem eigenen Leben, seiner eigenen Lebenskunst zu fragen.

Bei Verhaeren steht hinter dem dichterischen Kunstwerk das unvergleichliche Kunstwerk eines großen Lebens, ein wundervoller, siegreicher Kampf um diese Kunst. Denn nur eine ausgeglichene, lebendige Menschlichkeit, nicht eine flinke, kombinatorische Geistigkeit konnte zu solchen Erkenntnissen gelangen. Verhaeren war nie eine harmonische Natur, doppelt mußte daher seine Anstrengung sein, das Chaos seiner Empfindung in eine Welt zu wandeln. Er war ein Unruhiger, ein Unmäßiger, der sich bändigen mußte, in seiner Natur waren alle Keime der Ausschweifung und Zersplitterung, alle Möglichkeiten der Selbstvernichtung und[207] Verschwendung. Nur ein in seinen Zielen sicheres, auf starke Fundamente gestütztes Leben konnte aus den widerstrebenden Neigungen Harmonie erzwingen, nur ein großes Menschentum so disparate Kräfte zu einer Kraft zusammendrängen. Am Ende und am Anfang von Verhaerens Werken, am Ende und am Anfang seines Lebens steht die gleiche große Gesundheit. Der Knabe ist dem gesunden flämischen Lande entwachsen, hat alle Vorzüge der starken Rasse mit sich gebracht. Und vor allem die Leidenschaft. Dieser Leidenschaft zum Übermaße hat er in seinen Jugendjahren gelebt, hat sich ausgetobt nach allen Richtungen, war unmäßig im Studium, im Trunk, in der Geselligkeit, in der Sexualität, war unmäßig in seiner Kunst. Bis an den äußersten Rand seiner Kräfte hat er sich angespannt, aber im letzten Moment wieder zurückgerissen und ist wieder zu sich selbst und seiner Gesundheit zurückgekehrt. Die Harmonie von heute ist kein Geschenk des Schicksals, sondern eine Beute des Lebens. Im entscheidenden Moment wußte Verhaeren umzukehren, um in dem Jungbrunnen seiner Heimat, in der Ruhe der Familie wie Anteus seine Kraft wiederzugewinnen.

Die Erde hat ihn wiedergerufen und die Heimat. Dichterisch und menschlich bedeutet die Heimkehr nach Belgien seine Befreiung, den Triumph seiner Lebenskunst. Wie jenes Schiff, das er in der »Guirlande des dunes« besingt, das über die ganze Welt gefahren ist und selbst halb vernichtet immer wieder nach Flandern heimkehrt, so ist er selbst wieder gelandet, von wo er ausgegangen war. Dichterisch hat er geendet, wo er begonnen hat. Er hat im letzten Werk das Flandern des Jünglings gefeiert, aber nun nicht als provinzieller Dichter mehr, sondern als nationaler.[208] Nun hat er Zukunft und Vergangenheit an die Gegenwart gereiht, nun auch Flandern sowie die ganze Welt nicht in einzelnen Gedichten besungen, sondern ganz in ein Gedicht verwandelt. »Verhaeren élargit de son souffle l'horizon de sa petite patrie, et comme le fit Balzac de son ingrat et douce Touraine, il annexe aux plaines flamandes le beau royaume humain de son idéal et de son art.« (Vielé-Griffin.) Er ist heimgekehrt in die Rasse, in die Natur, in die ewigen Kräfte der Gesundheit und des Lebens.

Und nun lebt er in Caillou qui bique, einem kleinen Flecken im Wallonischen. Drei, vier Häuser stehen dort weitab von der Eisenbahn, im Walde versteckt, und doch nahe den Feldern; und unter diesen kleinen Häusern das kleinste, mit ein paar Zimmern und einem stillen Garten, ist das seine. Dort führt er die leise Existenz, die großen Werken immer notwendig ist, dort hält er die einsame Zwiesprache mit der Natur, in die sich die Stimme der Menschen und das Tosen der Städte nicht mehr einmengt, und träumt die Visionen der Welt. Gesunde und einfache Nahrung hat er wie die Landleute; früh geht er über die Felder, spricht mit den Bauern und kleinen Bürgern wie mit seinesgleichen; sie erzählen ihm von ihren Sorgen und kleinen Geschäften, und er hört ihnen zu mit jenem innigen Interesse, das er für jede Form und Abart des Lebens hat. Im Schreiten über die Felder werden die großen Gedichte, der immer rascher werdende Schritt gibt ihnen den Rhythmus, der Wind die Melodie, die Ferne den Ausblick. Wer dort einmal zu Gaste war, wird manches der Landschaft wieder im Gedichte erkennen, manches Haus, manche Ecke, manche Menschen, die kleinen Künste des Handwerkers. Aber wie flüchtig, wie klein erscheint dort alles, was im Gedichte durch[209] die Glut der Visionen glühend, stark und wie ewig ist. Im Herbste lebt Verhaeren im Wallonischen, aber im Frühsommer und Frühling flüchtet er vor seiner Krankheit ans Meer. Flüchtet vor dem Heufieber. Diese Krankeit Verhaerens ist mir immer symbolisch für seine Kunst und für sein Lebensgefühl erschienen, denn es ist, wenn ich so sagen darf, eine elementare Krankheit, daß, wenn die Pollen vom Winde bewegt fliegen, wenn der Frühling sich schwül über die Länder dehnt, ein Mensch dies mitempfindet, daß die Augen sich nun mit Tränen füllen, alle Sinne gereizt werden und der Kopf bedrückt. Dieses Leiden mit der Natur, dieses Insichfühlen des Schmerzes, das dem Frühling vorangeht, diese Qual des Aufbrechens aller Kräfte, des Druckes in der Luft war mir immer wie ein Symbol der elementaren und körperlichen Art erschienen, mit der Verhaeren die Natur empfindet. Denn es ist, als sagte sie, die ihm alle Ekstasen, alle ihre dunklen Geheimnisse gibt, auch ihren Schmerz, als reichten ihre Fäden bis in sein Blut, bis in seine Nerven, als hätte hier die Identität zwischen dem Dichter und der Welt einen noch höheren Grad als bei den anderen Menschen. In diesen schmerzhaften ersten Tagen des Frühlings flüchtet er ans Meer, wo er den Gesang der Winde liebt und die rauschenden Wellen. Dort arbeitet er selten, denn die Unrast des Meeres macht ihn selbst unrastig, nur Träume gibt sie ihm und keine Werke.

Aber Verhaeren ist kein Primitiver mehr. Er ist zu viel mit dem Zeitgenössischen verknüpft, zu sehr in Kontakt mit allen modernen Bestrebungen und Schöpfungen, als daß er sich ganz auf die ländliche Existenz beschränken könnte. In ihm ist jener wunderbare Zwieklang des modernen Menschen, der mit der Natur in Bruderschaft lebt und doch ihre höchste Blüte,[210] die Kultur, nicht missen will. Den Winter über lebt Verhaeren in Paris, in der lebendigsten Stadt; denn die Stille ist ihm zwar inneres Bedürfnis, aber auch die Unruhe und der Lärm der großen Städte wertvoller Anreiz. Hier empfängt er die Eindrücke des lauten Lebens, die dann Gedicht werden in der Stille. Er liebt es, sich treiben zu lassen von der verworrenen Vielstimmigkeit der Straßen, von Bildern, Büchern und Menschen Begeisterung zu empfangen. Seit Jahren verfolgt er, in innigem Zusammenhang mit allem Werdenden und Wachsenden, die feinsten Regungen der künstlerischen Entwicklung, auch hier auf das glücklichste Absonderung mit Teilnahme verbindend. Denn er lebt eigentlich nicht in Paris selbst, sondern in Saint-Cloud, in einer kleinen Wohnung, die voll mit Bildern und Büchern ist und meist auch mit guten Freunden. Denn Freundschaft, lebendige, heitere Kameraderie ist ihm immer eine Bedingung des Lebens gewesen, ihm, der sich so ganz herzlich und innig hinzugeben weiß, und kaum ist einer unter den Dichtern von heute, der so viele zu Freunden hat und so viele der Besten. Rodin, Maeterlinck, Lemonnier, Meunier, Gide, Mockel, Vielé-Griffin, Carrière, Signac, Rysselberghe, Rilke, Romain Rolland, alle diese, die unserer Zeit Großes geschaffen haben, stehen ihm auch menschlich nahe. In diesen engen Kreisen verbringt er seine Pariser Tage, sorgsam das vermeidend, was man Gesellschaft nennt, abseits von den Salons, wo der Ruhm gezüchtet und die Geschäfte der Kunst vermittelt werden. Sein innerstes Wesen ist Einfachheit. Und diese Bescheidenheit hat ihn ein Leben lang gleichgültig gegen finanzielle Erfolge gemacht, weil er nie aus seinen primitiven Lebensbedingungen empor wollte, nie die Sehnsucht des Blendens und Beneidetseins[211] kannte. Während die andern verwirrt wurden, sich anspornen ließen von Erfolgen, sich überhitzten und zu Tode hetzten, ist er ruhig und unbeirrt seines Weges gegangen. Er hat gearbeitet und sein Werk langsam organisch wachsen lassen. Und so hat ihn auch der Ruhm nicht behelligt, der langsam, aber mit unaufhaltsamer Sicherheit an ihm emporgewachsen ist. Es ist eine Lust zu sehen, wie er diese letzte und größte Probe bestanden hat, wie er ihn mit sicheren Schultern trägt, freudig und doch ohne Stolz. Belgien feiert ihn heute als seinen größten Dichter. In Frankreich hat er sich Geltung erzwungen gegen eine innere Neigung. Am höchsten aber hat es gewertet, daß vom Ausland, von den fremden Rassen, von ganz Europa und darüber hinaus, selbst von Amerika Antwort kam auf den großen Ruf, daß die kleinen Gehässigkeiten der Nationen vor seinem Werke haltgemacht haben, und vor allem daß die Jugend es ist, die heute mit Begeisterung an seiner Seite steht. Unerschöpflich ist dieses sein Interesse an der Jugend gewesen, vielleicht mit nur zu viel Güte hat er jeden aufgenommen, der am Anfang seines Werkes stand, und ihn ermutigt. Denn unerschöpflich ist seine Freude an fremder Kunst, jenes unendliche Identitätsgefühl macht ihn im höchsten Sinne unparteiisch und begeistert, und es ist eine Wollust, mit ihm vor großen Werken zu stehen und von ihm Begeisterung zu lernen.

Seltsam und zuerst überraschend ist dieser scheinbare Kontrast der dichterischen und der Lebenskunst bei Verhaeren. Denn nie würde man hinter einem so leidenschaftlichen Dichter einen so stillen und gütigen Menschen vermuten. Von den Leidenschaften und Ekstasen spricht nur sein Gesicht – das so viele Maler und Bildhauer schon verlockte – jene Stirne, auf der[212] unter der ergrauenden Locke die tiefen Falten, die jene Krise einst hämmerte, wie Ackerfurchen eingegraben sind. Der überhängende Nietzscheschnurrbart gibt dem Antlitz Gewalt und Ernst. An den vorspringenden, knochigen, scharfgemeißelten Linien erkennt man die bäuerische Abkunft und stärker vielleicht noch am Schritt, dem harten, merkwürdig rhythmischen, vorgebeugten Gang, der erinnert an den Pflüger, wie er gebückt in harter Arbeit über die Schollen stapft, und der rhythmisch immer wieder erinnert an sein Gedicht. Die Güte aber glänzt aus dem Auge, das – »couleur de mer« – wie neugeboren nach all den Mattigkeiten der Fieberjahre, Helligkeit und Frische lebendig lebt, in der herzlichen Spontaneität seiner Gesten. Auch in seinem Antlitz ist Kraft der erste Eindruck, und der zweite, daß diese Kraft durch Güte gebändigt ist. Wie jedes bedeutende Antlitz ist es, ins Plastische übersetzt, die Idee seines Lebens.

Viele werden einst von der Kunst Verhaerens sprechen, viele lieben sie schon heute. Aber ich glaube, keiner wird den Dichter so lieben können, wie manche heute die Kunst seines Lebens lieben, diese einzige Persönlichkeit, eben mit jener Angst und Freude, wie man ein Verlierbares und Unwiederbringliches liebt. Meint man zuerst einen Zwiespalt zu finden zwischen dem Bescheidenen, Sanften, Herzlichen seiner Menschlichkeit und dem Wilden, Heroischen, Spröden seiner Kunst, so entdeckt man sich schließlich ihre Einheit im Erlebnis, im Gefühl. Wenn man die Türe schließt hinter einem Gespräch mit ihm oder ein Buch nach der letzten Seite, so bleibt ein gleiches zurück: erhöhte Lebensfreude, Begeisterung, Vertrauen in die Welt, das gesteigerte Gefühl der Lust, das einem das Leben in reineren, gütigeren und grandioseren[213] Formen erscheinen läßt. Gleich stark geht von ihm selbst und seinem Werke diese idealisierende Wirkung des Lebens aus, jede Berührung mit ihm, mit dem Dichter, mit dem Menschen, scheint das Leben zu bereichern und lehrt einem auch für ihn selbst die Wertung, die er für alle Gaben des Lebens so willig hatte: die immer erneute, in Leidenschaft grenzenlos gesteigerte Dankbarkeit.[214]

Quelle:
Insel Verlag, Leipzig, 1913, S. 207-215.
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