Liebe

[198] Ceux qui vivent d'amour vivent d'éternité.

E. V.


So sehr das Werk Verhaerens zeitgenössisch ist, in einem Punkte scheint es sich doch von unserer Epoche zu entfernen, fern zu sein der künstlerischen Bestrebung der anderen Dichter. Die Dichtung Verhaerens ist fast ganz unerotisch. Das Liebesproblem wird bei ihm durchaus nicht wie bei den meisten Dichtern zum Urgefühl aller Empfindungen, sondern betätigt sich fast überhaupt nicht motorisch in seinem Werke, bleibt eine kleine, zart geschwungene Arabeske über den großen architektonischen Formen. Verhaerens Begeisterungen springen aus anderen Quellen. Liebe ist für ihn ein Wort fast ohne sexuelle Betonung, vollkommen identisch mit Begeisterung, Hingebung, Ekstase, und der Zwiespalt der Geschlechter erscheint ihm nicht als die wesentliche, sondern nur eine gelegentliche von den tausendfachen Kampfesformen des Lebens. Die Liebe zur Frau, das sexuelle Bedürfnis ist kaum eine mehr als jede andere im Ringe der Kräfte, nie die wichtigste oder gar die Urkraft, wie etwa bei Dehmel, dem alle großen kosmischen Erkenntnisse erst aus dem Liebeserlebnis bewußt worden sind. Nicht die Flamme des Erotischen, sondern der leidenschaftliche Brand der rein geistigen Triebe erhellt ihm die Horizonte. Die ersten Bücher Verhaerens, jene lyrischen Bücher, die sonst bei Dichtern fast immer Konfessionen der Liebe sind, waren den Landschaften gewidmet und dann sozialen Phänomenen, den Mönchen und den Arbeitern. Seine Dramen haben ihre Kraft aus nur männlichen Konflikten. Damit wird sein Werk, ohnehin schon in ungeheurer Distanz von dem der anderen Lyriker unserer Zeit, noch isolierter.[198] Nur ein einziges Blatt, nicht das erste und nicht das letzte im Buche der Welt, ist für Verhaeren die Liebe, zu viel glühende Leidenschaft und Ekstatik hat dieser Dichter allen einzelnen Dingen und dem All zugewendet, als daß der Schrei der Begehrung an die Frau die anderen noch übertönen könnte.

Diese geringe Betonung der Erotik im Werke Verhaerens scheint mir durchaus keine Schwäche, durchaus kein mangelnder Nerv in seinem künstlerischen Organismus. Vielleicht klingt es paradox, aber es muß gesagt sein: gerade dieser scheinbare künstlerische Mangel deutet auf persönliche Stärke. Verhaeren ist zu ausgesprochen stark-männlich, als daß die Frau das Grundproblem seiner Leidenschaft werden könnte oder ihn in den Fundamenten seines Schicksals erschüttern. Dem wahrhaft Starken wird die Liebe, die Erotik eine Selbstverständlichkeit, der wirkliche Mann empfindet sie nicht als Hemmung und nicht als Lebenskonflikt, sondern als Bedingung wie Nahrung, Luft und Freiheit. Das Selbstverständliche aber wird dem Künstler nie zum Problem. In seiner Jugend hat ihn die Frauenliebe nicht verwirrt, weil sie ihm nicht wichtig genug war, weil seine dichterischen Interessen zunächst auf den gewaltigeren Besitz, auf die Weltanschauung und nicht auf die Frau gerichtet waren. Der wirkliche Mann in der Auffassung Verhaerens lebt seine Kraft nicht in der Erotik aus. Für ihn steht der metaphysische Trieb, das Verlangen nach Erkenntnis, das Bedürfnis, seine innere Statik im Kosmos zu finden, vor der Erotik. »Ève voulait aimer, Adam voulait connaître.« Nur der Lebenssinn der Frau ist Liebe, der Lebenssinn des Mannes ist für Verhaeren vor allem Erkenntnis. Noch deutlicher hat er dieser gesunden Idee in dem frühen Gedichte »Les Forts« Ausdruck gegeben:[199]


»Les forts montent la vie ainsi qu'un escalier

Sans voir d'abord que les femmes sur leurs passages

Tendent vers eux leurs seins, leurs fronts et leurs visages.«


Unachtsam für die Verlockung der Liebe steigen sie, die Starken, die wirklich Großen, auf zum Himmel, zu den spirituellen Erkenntnissen, pflücken die Früchte der Sterne und der Kometen, und erst dann, ermüdet von ihren einsamen Wegen, im Rückschreiten bemerken sie die Frauen und legen in ihre Hände die Erkenntnisse der großen Welten nieder. Nicht im Anbeginn, in den ungestümen Jünglingstagen, sondern erst in der Männlichkeit, erst in der Zeit der inneren Reife, kann für Verhaeren die Frau ein großes Erlebnis werden. Er muß erst Grund unter seinen Füßen fühlen, seinen Platz in der Welt wissen, ehe er sich an die Liebe hingibt. Seltsam ist es, daß dieses Sonett aus den frühesten Jahren stammt, weil es wie eine Ahnung sein eigenes Lebensschicksal vorauserzählt. Denn ihn haben die Bilder der Frauen nicht gehemmt, nicht abgelenkt, die Liebe hat ihn, ich möchte sagen, nur sinnlich beschäftigt, aber nicht seelisch absorbiert. Erst später, in den Jahren, als die Krise seinen Körper unterwühlte, als die Nerven unter der übermäßigen Spannung zusammenbrachen, als die Einsamkeit sich wie ein Feind in ihm aufrichtete, ist eine Frau in sein Leben getreten. Erst dann hat die Liebe und die Ehe – das persönliche Symbol der ewigen äußeren Ordnung – ihm die innere Ruhe gegeben. Und dieser Frau gelten seine einzigen Liebesgedichte. In dem trilogisch aufgestuften Werke Verhaerens, in dieser oft brutalen Symphonie ist auch ein stilles, leises Andante, eine Trilogie der Liebe. Künstlerisch sind diese drei Bücher »Les Heures claires«, »Les Heures d'après-midi« und »Les Heures du soir« nicht[200] geringer im Wert als seine großen Werke, aber leiser. Man hätte von diesem Wilden und Leidenschaftlichen sich vielleicht visionäre überschäumende Ekstasen erwartet, gewitterhafte Entladung der Erotik, aber diese Bücher sind eine wundervolle Enttäuschung. Sie sind nicht für die Menge gesprochen, sondern für eine einzige, sie sind darum nicht laut gesagt, sondern mit halber Stimme. Das religiöse Bewußtsein – denn bei Verhaeren ist alles Dichterische in einem neuen Sinne religiös – findet hier eine andere Form. Hier predigt Verhaeren nicht, hier betet er. Diese kleinen Gedichte sind das Private und Persönliche seines Lebens, das Bekenntnis einer unendlichen, aber fast schamhaft abgetönten Leidenschaft. »Oh, la tendresse des forts!« sagt Bazalgette von ihnen begeistert. Und wirklich, nichts Rührenderes kann man sich denken als diesen großen Kämpfer, der hier die tönende Stimme zur Andacht senkt. So wie ein Starker, ein Brutaler, der Furcht hat, mit seiner erzgewohnten Berührung einer zierlichen Frau wehe zu tun, und sie nur leise, ganz vorsichtig wie ein Zerbrechliches anfaßt, so sind diese Verse ganz schlicht, ganz still gesagt, als könnten wilde, zu leidenschaftliche Worte einem so edlen Gefühle gefährlich werden.

Wie schön sind diese Gedichte! Wenn man sie liest, so nehmen sie einen mit leiser Hand und führen einen in einen Garten. Hier sind nicht mehr die trüben Horizonte der Stadt, die Fabriken, nicht der Lärm der Straßen, nicht dieser schwingende, in Sturzbächen tosende Rhythmus, sondern leise Musik wie von sprudelnder Quelle. Die Leidenschaft schnellt einen hier nicht auf zu den großen Ekstasen der Menschheit und des Himmels, sie will nicht wild und begeistert machen, sondern zärtlich und inbrünstig. Die[201] rauhe Stimme ist sanft darin, die Farben sind kristallen und durchsichtig, hier klingt gewissermaßen die ungeheure Stille ausgesprochen, aus der jene großen Leidenschaften ihre Kraft empfangen haben. Aber nicht künstlich sind diese Gedichte. Auch sie sind ganz elementar mit der Natur verwoben, aber nicht mit der großen, wilden und pathetischen Welt, nicht mit dem feurigen Himmel, den Donnern und den Stürmen, nur einen Garten ahnt man hier, ein stilles Haus, um das die Vögel singen, die Blumen duften und wo Stille zwischen blühenden Bäumen hängt. Die Erlebnisse sind äußerlich unscheinbar. Es atmet die Poesie des täglichen Lebens darin, aber nicht die der offenen wildwogenden Straßen, sondern die der verschlossenen Wände, leise Dialoge von kleinen Dingen, zarteste Heimlichkeiten. Es sind die Erlebnisse der persönlichen Existenz, der Alltag zwischen den großen Ekstasen. Die Lampe brennt leise im Zimmer, das Schweigen ist voll leiser Wunder:


»Et l'on se dit des simples choses:

Le fruit qu'on a cueilli dans le jardin,

La fleur qui s'est ouverte

Entre les mousses vertes,

Et la pensée enclose en des émois soudains

Au souvenir d'un mot de tendresse fanée,

Surpris au fond d'un vieux tiroir

Sur un billet de l'autre année.«


Hier ist das tiefste Gefühl, Dank und Hingebung, nicht zu Gott und Welt in Ekstase, sondern an einen einzelnen gewandt. Denn Verhaeren ist der unaufhörlich Beschenkte, der sich unablässig begnadet Fühlende, der immer danken muß für das Leben und alle seine Wunder. Unermeßlich, mit jenem Elan, mit jener Unaufhörlichkeit der Erneuerung der Freude,[202] die ja das tiefste Geheimnis seiner Kunst ist, ist hier immer und immer wieder Liebe und Dank gesagt. Wie Orpheus aufsteigt zu Eurydike aus der Unterwelt, so wandelt der Kranke mit gefalteten Händen empor zu der geliebten Frau, die ihn vor dem Dunkel gerettet. Und dankt und dankt immer wieder für die guten Stunden der Stille, immer wieder erinnert er an die erste Begegnung, an die sonnige Güte dieser Tage:


»Avec mes sens, avec mon cœur et mon cerveau,

Avec mon être entier, tendu comme un flambeau

Vers ta bonté et vers ta charité

Sans cesse inassouvies,

Je t'aime et te louange et je te remercie

D'être venue un jour si simplement

Par les chemins du dévouement

Prendre en tes bienfaisantes ma vie.«


Niedergeneigte Knie, gefaltete Hände sind diese Verse, Liebe, die durch Demut Religion wird.

Aber noch schöner und bedeutender ist vielleicht der zweite Band der Trilogie, »Die Stunden im Abendlicht«; denn hier ist ein Neues entdeckt, eine moralische Schönheit über das Erotische hinaus, eine Größe der Empfindung, wie sie nur edelste Lebenserfahrung verleihen kann. Es ist ein Buch nach fünfzehn Jahren Ehe. Aber die Liebe ist darin nicht ärmer geworden. Das tiefste Lebensgeheimnis Verhaerens, Gefühle nie zu einem Gleichmäßigen erkalten zu lassen, sondern sie unablässig zu steigern, hat auch aus dieser Liebe keinen Ruhezustand gemacht, auch sie zu einem ewig Belebten und Gesteigerten erhoben. Und so konnte sie den höchsten Triumph feiern, »vaincre l'habitude«, die Eintönigkeit, die Gefühllosigkeit besiegen. Die immerwährende Ekstase hat sie stark gemacht. Nur wer[203] seine Leidenschaft erneut, lebt sie wirklich. Stillestehen ist hier ein Vergehen: »Je te regarde chaque jour et te découvre.« Jeder Tag hat hier das Gefühl erneut und es unabhängig gemacht von seinem Anfang, von der sinnlichen Freude. Wie im ganzen Werke Verhaerens hat die Leidenschaft sich hier schon vergeistigt, die Ekstase schwingt über das individuelle Erlebnis hinaus. Nicht mehr das Äußerliche ist es, was die nun Alternden an sich lieben. Die Lippen sind matter geworden, der Körper hat an Frische verloren, das Fleisch an Glanz und Farbe, die Jahre der Vereinung haben ihre Spuren in das Antlitz geschrieben. Nur die Liebe hat nichts verloren durch das Verblühen, sie ist stärker geblieben als das Körperliche, sie hat dem Wandel getrotzt, weil sie sich selbst gewandelt und unablässig gesteigert hat. Unerschütterlich ist sie nun und unverlierbar:


»Puisque je sais que rien au monde

Ne troublera jamais notre être exalté,

Et que notre âme est trop profonde

Pour que l'amour dépende encore de la beauté.«


Das Zeitliche ist hier überwunden, und selbst die Zukunft, selbst der Tod hat keine Schrecken mehr. Ohne Angst, sich zu verlieren, kann der so Liebende – denn »qui vit d'amour vit d'éternité« – an ihn denken, der am Ende aller Wege steht. Keine Furcht wird ihn mehr anrühren, wenn er sich geliebt weiß, und wunderbar hat Verhaeren in einem Gedichte dieser Empfindung Ausdruck gegeben:


»Vous m'avez dit, tel soir, des paroles si belles,

Que sans doute les fleurs qui se penchaient vers nous

Soudain nous ont aimé et que l'une d'entre elles

Pour nous toucher tous deux, tomba sur nos genoux.[204]

Vous me parliez des temps prochains où nos années

Comme des fruits trop murs se laisseraient cueillir,

Comment éclaterait le glas des destinées

Et comme on s'aimerait, en se sentant vieillir.

Votre voix m'enlaçait comme une chère étreinte,

Et votre cœur brûlait si tranquillement beau

Qu'en ce moment j'aurais pu voir s'ouvrir sans crainte

Les tortueux chemins qui vont vers le tombeau.«


Der dritte Band, »Die Stunden des Abends«, hat den stillen Reigen wundervoll vollendet mit einer Reihe Gedichten, die wohl das Alter zum Motive haben, doch niemals als künstlerische Ermattung fühlen lassen. Aus Sommer ist es Herbst geworden, aber ein wie reicher und reifer, golden hängen die Früchte der Erinnerung nieder und glühen im Widerschein der so sehr geliebten Sonne. Noch einmal zieht mit hellen Bildern die Liebe vorbei, verwandelt und geläutert, aber zwingend und stark wie am ersten Tage.

Ich liebe diese kleinen Gedichte Verhaerens mit einer anderen und nicht geringeren Liebe als seine großen und wichtigen lyrischen Werke. Es ist mir nie verständlich gewesen, daß diese Verse – denn bei dem großen Werke Verhaerens mag noch Pietät und die Angst vor dem Neuen manchen zurückschrecken – nicht in den weitesten Kreisen lebendig geworden sind. Denn nie seit der zärtlich schwingenden Musik des »bonne chanson« Verlaines, nie seit den Briefen der Brownings sind in unseren Tagen ähnliche Strophen ehelichen Glückes geschrieben worden. Nirgends ist so rein, so edel, so kristallen, so im höchsten Sinne moralisch die Liebe vergeistigt worden, nirgends ward inniger die Synthese von Liebe und Ehe gestaltet. Mit einer ganz besonderen Liebe liebe ich diese »poèmes francs et doux«, denn hier taucht hinter dem[205] Wilden und Ekstatischen, hinter dem Leidenschaftlichen und Starken, dem Dichter der »Villes tentaculaires« ein anderer auf, der Einfache, Stille und Bescheidene, der Sanfte und Gütige, wie wir ihn aus seinem Leben kennen. Hier ist jenseits der dichterischen Ekstase die edle Persönlichkeit Verhaerens, in dem wir nicht nur eine dichterische Gewalt, sondern eine menschliche Vollkommenheit verehren. Durch die helle Tür dieser zarten Gedichte geht der Weg zu seinem eigenen Leben.[206]

Quelle:
Insel Verlag, Leipzig, 1913, S. 198-207.
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