[182] Il faut admirer tout pour s'exalter soi-méme,
Et se dresser plus haut que ceux qui ont vècu.
E. V.
Das metaphysische Ideal, das sich Verhaeren aus der zuerst wildleidenschaftlichen, dann aber immer übersichtlicheren und geordneteren Betrachtung des Lebens kristallisierte, hatte Einheit geheißen. Er hat selbst jüngst in einer Rundfrage diese Auffassung programmatisch bestätigt: »Es will mir scheinen«, sagt er, »als müßte die Poesie bald in einen unzweideutigen Pantheismus ausmünden. Immer mehr erkennen gesunde und ehrliche Geister die Einheit der Welt. Der alte Dualismus zwischen Seele und Leben, Gott und dem Universum verwischt sich. Der Mensch sieht sich als ein Fragment der Weltarchitektur. Er hat Bewußtsein und Verständnis des Ganzen, von dem er einen Teil bildet ... Er fühlt sich umschlossen und beherrscht, während er zugleich umschließt und herrscht ... Er wird durch seine wunderbaren Werke in gewissem Maße der persönliche Gott, an den unsere Väter glaubten. Und ist es möglich, daß die lyrische Begeisterung von einer solchen Befreiung der menschlichen Macht unberührt bleiben kann, daß die Dichtung zaudert, das gewaltige Schauspiel zu verherrlichen? Der Dichter braucht sich in diesem Augenblick nur von dem, was er sieht und hört, was seine Phantasie, seine Ahnung ihm sagt, ergreifen zu lassen, damit junge, vibrierende, neue Werke aus seinem Herzen und seinem Hirn hervorgehen.« Aber bei der Erkenntnis allein darf einer nicht haltmachen, der sich das ganze Bild aufbauen will, er muß der Ordnung der äußeren Dinge auch eine der Innerlichkeit, muß der[182] Erkenntnis des Lebens das korrespondierende Gefühl entgegensetzen. Er muß ein ethisches Ideal aufstellen ebenso wie ein metaphysisches, ein Lebensgebot, das dem Lebensgesetz entspricht.
Die großen Dichter entdecken aber nie eine Lebensnorm, eine Moralsatzung, die nicht ein Reflex ihres eigenen inneren Naturgesetzes wäre. Dem Denker, dem ruhigen Betrachter stehen viele Möglichkeiten der Betrachtung offen, dem Dichter, dem Lyriker aber nur eine dichterische Philosophie des Lebens, eine lyrisch erhobene Betrachtung. Während der Philosoph zur Erkenntnis der Einheit durch Maß und Berechnung, durch ein ruhig abwägendes Gefühl der Kräfte gelangen kann, wird ein Dichter das Ähnlichwerden und Einswerden der Dinge erst in der Ekstase, erst im erhobenen Zustande der Begeisterung entdecken können. Er wird seine eigene Bewunderung zum Weltgebot, den Lyrismus auch als moralische Forderung des Lebens erkennen müssen. »Toute la vie est dans l'essor«, das ganze Leben ist in der Ekstase für den Dichter. Und so wie Verhaeren die Dinge nie im Ruhezustand, sondern immer in ihrer inneren Bewegung schilderte, so ist auch sein Begreifen der Welt immer nur im dauernd erhobenen Unruhezustand der Freude und der Bewegung denkbar.
Verhaerens Verhältnis zur Umwelt war von je ein leidenschaftliches. Er ist immer fiebrig an die Dinge herangetreten wie ein Liebender an die begehrte Frau Nur das Erkämpfte gilt ihm als Besitz. Die Dinge gehören noch nicht uns, solange wir an ihnen Vorbeigehen, solange wir sie nur fühllos mit kühlen Augen betrachten wie ein Schauspiel, wie ein wandelndes Gemälde. Um den Zusammenhang zwischen ihnen und uns, zwischen Welt und Dichter, zwischen Mensch[183] und Mensch zu fühlen, um aus dem rein betrachtenden Zustande zur Wertung überzugehen, müssen wir in irgendein persönliches Verhältnis der Sympathie oder Antipathie eintreten. Daß die Verneinung unfruchtbar sei, hatte ihn die erste Krise gelehrt, und die Genesung hat ihm dann gezeigt, daß nur Zustimmung, Bejahung, Liebe und Begeisterung uns zu den Dingen in ein wirkliches Verhältnis setzen kann.
»Pour vivre clair, ferme et juste
Avec mon cœur, j'admire tout
Ce qui vibre, travaille et bout
Dans la tendresse humaine et sur la terre auguste«.
Ein Ding gehört erst uns, wenn es – nicht so sehr für uns persönlich – als schön, notwendig und lebendig empfunden wird. Wenn wir es bejaht haben. Und unsere ganze Entwicklung kann darum nur sein, möglichst viel zu bewundern, möglichst viel zu verstehen, möglichst vielen Dingen einmal mit unserem Gefühle nahegetreten zu sein. Betrachten ist zu wenig, und ebenso Verstehen. Erst wenn wir ein Ding von vornherein bestätigt haben, es als notwendig bestätigt haben, gehört es uns wirklich. Es ist notwendig, in ein Ding mit zustimmendem Gefühl, mit vollkommener innerer Hingebung eingedrungen zu sein, um sein Gesetz – und alle Schönheit ist nur Verkörperung eines unsichtbaren Naturgesetzes – ganz verstanden zu haben. »Il faut aimer pour découvrir avec génie.« Und so muß unsere ganze Anstrengung sein, das Negative in uns zu überwinden, nichts abzulehnen, den kritischen Geist in uns zu töten, das Positive zu stärken, möglichst viel zu bejahen. Auch hier berührt sich Verhaeren mit Nietzsches letzten Idealen: »Das Abwehren, das ›Nichtherauf-kommen-lassen‹ ist eine Ausgabe, eine zu negativen[184] Zwecken verschwendete Kraft« (Ecce Homo), Kritik ist unfruchtbar. Verhaeren ist hier wie immer Relativist der Werte, denn er weiß, daß sie unablässig in Wandlung sich befinden zugunsten eines höchsten Wertes, und darum scheint ihm der Enthusiasmus (das Symbol der Überschätzung) im Sinne einer höheren Gerechtigkeit wichtiger als die anscheinend absolute Gerechtigkeit selbst.
Denn dies ist das Wesentliche: daß wir mit unserer Bewunderung die Dinge oft überschätzen, die ja unabhängig von unserem Ja und Nein ihren inneren Wert bewahren, ist nicht so große Gefahr, als es Gewinn ist, daß wir selbst durch das Bewundern seelisch wachsen. »Admirer c'est grandir.« Denn wenn wir mehr und intensiver bewundern als die anderen, werden wir selbst reicher als die Zaghaften, die sich nur eine Auslese des Lebens schaffen, statt das ganze Leben selbst, die sich selbst beschränken, weil sie sich nur in ein Verhältnis zu einem Teil der Welt und nicht in ein Verhältnis zur Allwelt setzen. Je mehr einer bewundert, desto mehr gehört ihm:
»Il faut admirer tout pour s'exalter soi-même
Et se dresser plus tant que ceux qui ont vécu.«
Denn Bewundern heißt im höchsten Sinne sich selbst unterordnen gegenüber den anderen Dingen. Je mehr einer seinen persönlichen Stolz unterdrückt, desto höher steht er im moralischen Sinn. Denn es ist geringere Kraft nötig, sich selbst zu betonen und das andere zu negieren, als sich zu unterdrücken und allem anderen bewundernd hinzugeben. Hier erhebt sich für Verhaeren ein neues ethisches Problem. Eine ganze Stufenleiter der Werte offenbart sich ihm aus dem moralischen Maßstab der Freiheit und Offenheit, mit der ein Mensch Bewunderung entgegenbringen kann,[185] und auf deren höchster Sprosse derjenige steht, der nichts und nichts mehr ablehnt, der jeder Manifestation des Lebens eine Ekstase entgegenbringt. Mehr bewundern können, heißt selbst mehr werden:
»O vivre et vivre et se sentir meilleur
A mesure que bout plus fervement le cœur;
Vivre plus clair, dès qu'on marche en conquête;
Vivre plus haut encore, dès que le sort s'entête
A dessécher la force et l'audace des bras.«
Und so stark muß dieser rastlose Enthusiasmus, diese unablässige Begeisterung an den Dingen werden, daß die Höhe des Aufstieges einen plötzlich selbst in seligem Schwindelgefühle überrascht. Das lyrische Gebot der höchsten Ekstase ist hier ethische Norm:
»Il faut en tes ardeurs te dépasser sans cesse
Etre ton propre étonnementu«.
In diesem Gedanken der ruhelosen Begeisterung, dem Verhaeren prinzipielle Form auch in einem Essay »Weltbewunderung« (Insel-Almanach 1913) gab, hat Verhaeren ein dichterisches Äquivalent zu seinem anderen großen Antrieb der Menschheit geschaffen, ein ethisches Ideal neben das metaphysische gestellt. Denn war bisher die Sehnsucht nach Erkenntnis, jener grandiose Kampf nach der Besiegung des Unbekannten, das einzige, was die Menschen in ein ewig lebendiges Verhältnis zu den neuen Dingen setzte, so ist in der unablässig gesteigerten ekstatischen Bewunderung ein vielleicht noch wertvollerer Trieb aufgedeckt. Bewundern ist mehr als Abschätzen und Erkennen. Sich in Liebe allem hinzugeben ist höher als die Neugierde, alles zu verstehen. »Tout affronter vaut mieux que tout comprendre.« Denn in aller Erkenntnis ist noch ein Rest von Egoismus, vom Stolz des persönlichen Gewinnens, während Bewunderung der Dinge nur Demut[186] enthält, aber jene große Demut, die unendlichste Bereicherung des Lebens ist, weil sie Auflösung in das All bedeutet. Während die Erkenntnis vor manchen letzten Dingen plötzlich haltmachen muß und den Weg von Dunkelheiten versperrt findet, ist der Bewunderung, ist der Ekstase keine Schranke des Ich geboten. Verschließen sich manche Werte der Erkenntnis, so weigert sich keiner ganz der Bewunderung. Selbst das Kleinste wird groß, wenn es liebevoll durchdrungen wird, und je größer wir die Dinge werden lassen, desto mehr bereichern wir unseren Lebensinhalt, desto unendlicher machen wir unser Ich. Und es ist die höchste ethische Aufgabe des großen Menschen, in jeder Erscheinung den höchsten Wert zu finden, ihn aus der oft erdrückenden Fülle des Antipathischen und Fremden herauszuschälen. Sich nicht abstoßen lassen durch den Widerstand ist die höchste Vollendung eines edlen Enthusiasmus. Ist irgendein Ding leer von Schönheit, so wird es eine Kraft haben, die durch ihre Energie Schönheit ausdrückt. Wird etwas im bisherigen Sinne fremd und häßlich sein, so wird es die wundervolle Aufgabe geben, den neuen Sinn zu finden, in dem es schön ist. Und diese neue Schönheit in den neuen Dingen gefunden zu haben, war die tätige Größe des dichterischen Werkes, die nun aus dem Unbewußten bewußt, aus Erkenntnis zum Gesetz wird. Verhaeren hat, während alle noch die Großstädte als furchtbar und häßlich empfunden haben, ihre Grandiosität gepriesen, während alle die Wissenschaft als Hemmung des Poetischen verabscheuten, sie als reinste Form des Lebens gefeiert. Denn er weiß, daß alles sich wandelt, daß »ce qui fut« hier »le but et l'obstacle de demain«, und umgekehrt, daß das Hemmnis[187] von heute vielleicht schon wieder das Ziel der nächsten Generation ist. Er hat dichterisch schon erkannt, was die architektonische Bewegung der letzten Jahre in den neuen Großstädten zur Tat gemacht hat, daß die Warenhäuser als Emporien des geistigen Lebens, als neue Zentren der Kräfte für die Kunst Aufgaben sein müssen, wie es früher die Kathedralen waren, daß im Dunst der Großstadt neue Farbwerte für die Maler, neue Aufgaben für die Philosophen warteten, daß alles, was in unserer Zeit groß ist und häßlich erscheint, in der nächsten proportional sein wird und schön genannt werden muß. Der Enthusiasmus für das Neue überwindet bei Verhaeren die Resistenz der Pietät. Verhaeren ist wertvoll geworden für unsere Zeit dadurch, daß er als erster die großen Impressionisten, alle Neuerer der Kunst und der Dichtung erkannte und propagierte. Denn nichts Neues abzulehnen, keinem Ding der Welt fremd zu sein, erst das heißt für ihn die ganze Welt erkennen und sie wahrhaft lieben. Die Stufenleiter der Werte endet oben in diesem absoluten Ideal der Bewunderung der ganzen Welt, nicht nur des Seienden, auch des Werdenden, der Identität jedes Ich mit seiner Zeit und ihren Formen:
»L'homme n'est suprême et clair que si sa volonté
Est d'être lui en même temps qu'il est monde.«
Und da diese schrankenlose Bewunderung den Egoismus zerstäubt – den Egoismus, das ewige Hemmnis aller rein menschlichen Beziehungen – da sie mit einem Wort eine Art brüderliches Verhältnis zu allen Dingen gibt, eröffnet sie auch die Möglichkeit eines Ausgleiches des Verhältnisses von Mensch zu Mensch. Das Buch »La multiple Splendeur«, das diesen ethischen Ideen definitiven Ausdruck verliehen hat, war ursprünglich unter dem Titel »Admirez-vous les uns[188] les autres« gedacht. Hingebung gilt darin als das höchste Ideal, Hingebung, das Sichverstreuen, Sichverschenken an alle Welt, an alle Menschen. Nicht mehr wie in den früheren Werken ist die Energie, die Kraft und damit das Erobern, das Bezwingen der letzte Sinn des Lebens, sondern die Güte, das Sichverteilen, das Allwerden durch Hingabe an das All. Größe in diesem neuen Sinne entsteht nur durch ekstatische Bewunderung. »Il faut aimer pour découvrir avec génie.« Bewunderung und Liebe sind die stärksten Kräfte der Welt. Sie, die Liebe, wird die höchste Form der neuen Beziehungen sein, sie wird alle irdischen Verhältnisse regeln, sie schafft den sozialen Ausgleich.
»L'amour dont la puissance est encore inconnue
Dans sa profondeur douce et sa charité nue,
Ira porter la joie égale aux résignés.
Les sacs ventrus de l'or seront saignés,
Un soir d'ardente et large équité rouge
Disparaîtront palais, banques, comptoirs et bouges,
Tout sera simple et clair, quand l'orgueil sera mort,
Quand l'homme, au lieu de croire à l'égoiste effort
Qui s'éterniserait, en une âme immortelle
Dispensera, vers tous, sa vie accidentelle;
Des paroles, qu'aucun livre ne fait prévoir,
Débrouilleront ce qui paraît complexe et noir;
Le faible aura sa part dans l'existence entière,
Il aimera son sort – et la matière
Confessera, peut-être, alors ce qui fut Dieu.«
Und noch größer, noch monumentaler, gleichsam in steinernen Gesetzestafeln hat Verhaeren seine neue moralische Idee in einem einzigen Gedichte zusammengefaßt:
»Si nous nous admirons vraiment les uns les autres,
Du fond même de notre ardeur et notre foi,[189]
Vous les penseurs, vous les savants, vous les apôtres,
Pour les temps qui viendront, vous extrairez la loi.
Nous apportons, ivres du monde et de nous-mêmes,
Des cœurs d'hommes nouveaux dans le vieil univers.
Les Dieux sont loins et leur louange et leur blasphème;
Notre force est en nous et nous avons souffert.
Nous admirons nos mains, nos yeux et nos pensées,
Même notre douleur qui devient notre orgueil;
Toute recherche est fermement organisée
Pour fouiller l'inconnu dont nous cassons le seuil.
S'il est encore là-bas des caves de mystère,
Où tout flambeau s'éteint ou recule effaré:
Plutôt que d'en peupler les coins par des chimères
Nous préférons ne point savoir que nous leurrer.
Un infini plus sain nous cerne et nous pénètre;
Notre raison monte plus haut; notre cœur bout;
Et nous nous exaltons si bellement des êtres
Que nous changeons le sens que nous avons de tout.
Cerveau, tu règnes seul sur nos actes lucides;
Aimer, c'est s'asservir; admirer, se grandir;
O tel profond vitrail, dans l'ombre des absides,
Qui reflète la vie et la fait resplendir!
Aubes, matins, midis et soirs, toute lumière
Est aussitôt muée en or et en beauté.
Il exalte l'espace et le ciel et la terre
Et transforme le monde à travers sa clarté.«
Dieses Gefühl, sich in allen Dingen durch Enthusiasmus wiederzuerkennen, zu leben mit allem, was Existenz und Erscheinung hat, ist Pantheismus, ist germanische Weltanschauung. Aber bei Verhaeren findet der Pantheismus noch seine letzte Steigerung. Identität ist ihm nicht nur zelebrale Erkenntnis, sondern Erlebnis, Identität nicht das Empfinden gleicher[190] Materie und gleicher Seele mit den Dingen, sondern ein untrennbares Einssein. Wer ein Ding so ganz bewundert, daß er hinabsteigt in die Wurzeln seines Gefühles, daß er sich selbst auflöst und negiert, um ganz das andere zu sein, der ist mit ihm in diesem Augenblick der Ekstase identisch. Ekstase ist nicht mehr die Tatsache des im griechischen Wortsinne Aussichheraustretens, des Sichverlierens, sondern auch des Sichwiederfindens in dem andern Ding. Und damit reicht Verhaerens Weltanschauung über den Pantheismus hinaus. Nicht nur brüderlich empfindet er die Dinge, nicht nur sich in ihnen, sondern er lebt sie selbst. Er fühlt nicht sein Blut nur in die anderen Wesen sich ergießen, sondern fühlt überhaupt kein eigenes Blut mehr, nur diesen fremden glühenden Weltstoff in seinen Adern. Ich weiß kein feurigeres Überschäumen, als die Augenblicke Verhaerens, wo er nicht mehr weiß, die Welt von seinem Ich zu unterscheiden, diese Welttrunkenheit ohnegleichen:
»Je ne distingue plus le monde de moi-même,
Je suis l'ample feuillage et les rameaux flottants,
Je suis le sol dont je foule les cailloux pâles
Et l'herbe de fosses où soudain je m'affale:
Ivre et fervent, hagard, heureux et sanglotant.«
Alle Formen der Elemente sind ihm persönliches Erlebnis: »J'existe en tout ce qui m'entoure et me pénètre«. Alles Geschehene wird ihm Manifestation des eigenen Körpers, er fühlt alles Weltgeschehen als persönliches Erlebnis:
»Oh, les rythmes fougueux de la nature l'entière
Et les sentir et les darder à travers soi,
Vivre les mouvements répandus dans les bois,
Le sol, les vents, la mer et les tonnerres,
Vouloir qu'en son cerveau tressaille l'univers.«[191]
Immer höher schlagen hier die Wellen der Begeisterung, zu immer leidenschaftlicherem Gebot wird dieser Ruf nach Vereinung durch Bewunderung:
»Exaltez-vous encore et comprenez-vous mieux,
Reconnaissez-vous donc et magnifiez-vous
Dans l'ample et myriadaire splendeur de choses!«
Denn wenn die Menschen bislang noch zu keinem reinen Verhältnis gelangten, so war es, meint Verhaeren, weil sie nicht genug Bewunderung hatten, weil sie zu mißtrauisch waren und zu wenig gläubig. »Magnifiezvous donc et comprenez-vous mieux!« ruft ihnen Verhaeren zu, »admirez-vous les uns les autres!« und berührt sich hier in dieser höchsten Erkenntnis wieder mit seinem großen amerikanischen Antipoden, der in seinem Paumanoc-Gedichte predigt:
»Ich sage, kein Mensch noch war jemals halb gläubig genug, keiner hat jemals nur halb genug verehrt und angebetet, keiner zu denken nur begonnen, wie göttlich er selbst ist und wie sicher die Zukunft.«
Denn erst in dieser höchsten Ekstase ist höchste Lust. Und darum sind diese Ideale Verhaerens nicht kalte, nüchterne Gebote, sondern leidenschaftlicher Hymnus.
»Aimer avec ferveur soi-même en tous les autres,
Qui s'exaltent de même en de mêmes combats,
Vers le même avenir dont on entend le pas;
Aimer leur cœur et leur cerveau pareils aux vôtres,
Parce qu'ils ont souffert en des jours noirs et fous
Même angoisse, même affre et même deuil que nous.
Et s'enivrer si fort de l'humaine bataille,
Pâle et flottant reflet des monstrueux assauts
Ou des groupements d'or des étoiles là-haut,
Qu'on vit en tout ce qui agit, lutte ou tressaille
Et qu'on accepte avidement, le cœur ouvert,
L'âpre et terrible loi qui régit l'univers.«[192]
Diese mystischen Augenblicke der Ekstase, diese Sekunden der Identität, die jeder in seinem Leben in ganz seltenen sonderbaren Momenten erlebt, zur Dauer zu erheben, zum konstanten, unüberwindlichen Lebensgefühl – das ist die höchste Absicht Verhaerens. Seine Weltanschauung konzentriert sich in diesem höchsten Ideal einer unaufhörlich empfundenen, durch Leidenschaft immer wieder neu befeuerten Identität des Ich und der Umwelt.
Denn dann erst, wenn nichts mehr Betrachtung ist und alles Erlebnis, erst nach dieser ungeheuren Bereicherung ist das Leben kein Vegetieren mehr, kein gleichgültiges Dämmern, sondern Lust. Nicht einzelne Lustgefühle, sondern das Leben selbst in allen seinen Formen als höchste Lust zu empfinden, ist das letzte Ziel seiner Kunst. Was er von Julliers sagt, dem Helden von Flandern, »l'existence était sa volupté«, die Tatsache des Lebens selbst war seine Lust, ist auch seine eigene höchste Sehnsucht. Er will das Leben nicht nur, um die Spanne auszufüllen, die jedem gegeben ist, sondern um jede einzelne Minute als Tatsache des Lebens bewußt als Genuß und Glück auszukosten. Und in einem solchen Moment der Ekstase sagt er:
»Il me semble, jusqu'à ce jour n'avoir vécu
Que pour mourir et non pour vivre«,
ein Wort, das mir unvergeßlich scheint, als höchste Ekstase der Vitalität.
Und wunderbar, auch hier ist der Kreis geschlossen, auch hier das Ende der Erkenntnis Verhaerens – wie in so vielen Dingen schon bei ihm – eine Rückkehr zum Anfang. Auch hier ist nichts anderes als ererbter Instinkt zu seliger Bewußtheit geworden. Das erste Buch wie das letzte, die »Flamandes« ebenso wie »Les[193] Rhythmes souverains«, feiern das Leben. Nur freilich das erste bloß seine äußere Form, den sinnlich dumpfen Genuß, das letzte aber das bewußte, gesteigerte sublimierte Lebensgefühl. – Die ganze Entwicklung Verhaerens ist – hier im Einklang mit den großen Dichtern unserer Nation, mit Nietzsche und Dehmel – nicht Unterdrückung, sondern eine bewußte Steigerung der ursprünglichen Triebe. So wie er in seinen ersten Büchern die Heimat schilderte, und ebenso wieder in den letzten, nur daß nun die Horizonte der ganzen Welt sie überhöhen, so kehrt auch hier das Lebensgefühl als Sinn des Lebens zurück, hier nun aber mit allen Erkenntnissen und allen Siegen. Die Leidenschaft, die dort sinnlos und revoltierend war, ist hier Gesetz geworden, das instinktive Lustgefühl an der Gesundheit hat sich gewandelt in eine gewollte bewußte Lust am Leben und an allen seinen Formen. Nun hat Verhaeren wieder den großen Stolz des Starken:
»Je marche avec l'orgueil d'aimer l'air et la terre,
D'être immense et d'être fou,
Et de mêler le monde et tout
A cet enivrement de vie élémentaire.«
Die Gesundheit der starken Rasse, die er früher feierte in den Burschen und Dirnen seiner Heimat, besingt er nun in sich selbst. Und so stark ist die Identität zwischen seinem Ich und der Welt, daß er, der die Schönheit der ganzen Welt singen will, nun sich selbst einbeziehen muß und seinen eigenen Körper feiern. Er, der früher seinen Körper haßte als ein Gefängnis, aus dem er sich nicht entfliehen konnte, der sich selbst »ausspeien« wollte, fügt nun in den Hymnus der Welt die Strophe über sein eigenes Ich.
»J'aime mes yeux, mes bras, mes mains, ma chair, mon torse,[194]
Et mes cheveux amples et blonds,
Et je voudrais par mes poumons
Boire l'espace entier pour en gonfler ma force.«
Das Identitätsgefühl hat ihm dem Persönlichen gegenüber absolute Objektivität gegeben.
Nicht aus Eitelkeit feiert er sich, sondern aus Dankbarkeit. Denn der Körper ist ihm nur das Mittel, die Schönheit, Gewalt und Gabe der Welt zu empfinden, ist ihm eine wundervolle Möglichkeit, durch Stärke in starker Leidenschaft sich an den Dingen zu freuen. Und wunderbar ist dieser Dank des Alternden an sein Auge an das Ohr, seine Brust dafür, daß sie ihn noch heute mit gleicher Glut wie einst die Schönheit der Erde empfinden lassen:
»Soyez remerciés, mes yeux,
D'être restés si clairs, sous mon front déjà vieux,
Pour voir au loin bouger et vibrer la lumière,
Et vous, mes mains de tressailler dans le soleil,
Et vous, mes doigts, de vous dorer aux fruits vermeils,
Pendus au long du mur parmi les roses premières!
Soyez remercié, mon corps,
D'être ferme, rapide et frémissant encor
Au toucher des vents prompts ou des brises profondes,
Et vous, mon torse droit et mes larges poumons,
De respirer, au long des mers ou sur les monts
L'air radieux au vif qui baigne et mord les mondes!«
Und so feiert er nun alle Dinge, denen er verwandt ist, den Körper, die Rasse, die Ahnen, die ihn geschaffen, das Land, das ihm Jugend gegeben hat, die Städte, die ihm den großen Ausblick verliehen, er feiert Europa, Amerika, Vergangenheit und Zukunft. Und so wie er sich selbst als stark und gesund spürt, so empfindet auch sein Gefühl die ganze Welt als gesund und groß. Das ist das Unvergleichliche[195] und vielleicht noch nie Dagewesene in den Versen Verhaerens, was ihn manchen und mir so über die Maßen teuer macht, daß hier Heiterkeit, Weltlust, Freude und Ekstase nicht nur geistig als Stolz empfunden sind, sondern daß diese Lust geradezu körperlich mit allen Fibern des Blutes, mit allen Muskeln und Nerven empfunden wird. Seine Strophen sind wirklich, wie Bazalgette so schön sagt: »une décharge d'électricité humaine«, eine Entladung menschlicher, körperlicher Elektrizität. Die Freude wird hier ein körperlicher Exzeß, eine Trunkenheit, ein Überschwang ohnegleichen:
»Nous appartons ivres du monde et de nous-mêmes,
Des cœurs des hommes nouveaux, dans le vieil univers.«
Keine Disharmonie ist nunmehr zwischen den einzelnen Gedichten, sie sind ein einziger Aufschwall von Begeisterung, »un enivrement de soi-même«, über die vielen zuckenden, zitternden, unregelmäßigen Ekstasen von einst flammt nun die Ekstase des ganzen Lebensgefühles. Wie eine Gestalt, hoch aufgereckt, stolz und stark steht diese Ekstase in unseren Tagen, in der Hand die Fackel der Leidenschaft mit Jubel zur Zukunft geschwungen, »vers la joie«!
Hier endet das ethische Werk Verhaerens. Und ich glaube, keine Exaltation, keine Erkenntnis kann diese letzte reine Form noch verändern oder verschönern. Eine ungeheure Kraftaufbietung ist hier am Ziel, die Anstrengung eines unserer Stärksten und Unvergleichlichsten. Einst schien die Kraft ihm der Sinn der Welt, nun aber ist er in reinerer Erkenntnis zur Güte, zur Bewunderung gewandelt, jener Kraft, die mit gleicher Intensität wie einst nach außen, nun nach innen gewandt, nicht mehr zur Eroberung zwingt, sondern zur Hingabe, zur grenzenlosen Demut. Über der[196] ungeheuren Wildheit und anscheinenden Zerrissenheit des einstigen Werkes wölbt diese Erkenntnis den versöhnenden Bogen, über »Les Forces tumultueuses« leuchtet »La multiple Splendeur«. Und von ihm selbst gilt das Wort, das er seinem Hymnus der ganzen Menschheit weiht: »La joie et la bonté sont la fleur de sa force.«[197]
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