Synthesen

[168] Rêunir notre esprit et le monde

Dans les deux mains d'une simple loi profonde.

E. V.


Nach den großen Visionen der Städte, den wundervollen Deutungen der Demokratie, war ein Augenblick der Beruhigung im Werke Verhaerens. Ein lyrisches Intermezzo kleiner Bücher, die in kurzen Gedichten einen Almanach der Monate aufschlagen, das trauliche Glück ehelicher Liebe feiern, die in farbigen Bildern die Legenden Flanderns erzählen und dann in der großen Pentalogie »Toute la Fiandre« die Städte, die Küsten, die Helden und Gestalten der Heimat zu einem einzigen Bilde zusammendrängen. Dann aber geht Verhaeren wieder den alten Weg über die Erde, geht nochmals durch die rauschenden Städte, die schwangeren Felder, wandert entlang dem Meere, noch einmal durch die Landschaften der »Flamandes« und der »Moines«, der »Villes tentaculaires« und der »Campagnes hallucinées«. Es ist nun die Spiralenrückkehr im Goetheschen Sinne der Entwicklung, die Wiederkehr zum selben Punkt, aber auf höherer Stufe mit erhöhtem Ausblick, in engerem Kreise, und darum näher schon dem letzten, höchsten Punkt. Noch einmal übersieht Verhaeren die moderne Welt. Nun aber mit einem anderen Blick, der nicht mehr an ihrer Erscheinung ruhen bleibt, sondern zur Ursache weiterdrängt. Die Dinge, die er damals sinnlich gesehen, ästhetisch gewertet und umgewertet, blickt er nun von der geistigen Seite an, um sie moralisch zu werten. Er betrachtet die Dinge nicht mehr vereinzelt, reiht nicht Bild an Bild, Vision an Vision wie farbige Kartenblätter, sondern vereint sie zu einer lebendigen Kette. Er durchspürt die Erscheinungen nicht mehr einzeln und abgelöst,[168] sondern mit jenem Hintergrunde hoher Absicht, sie zu einem Einzigen zusammenzuschmieden. Nicht einzelne Gedichte mehr entstehen, sondern Fragmente des Weltgedichtes. Denn seit Verhaeren die Dinge mit bewußter Begeisterung betrachtet, haben sie andere Formen gewonnen. Die Anstrengung seiner Epoche erscheint ihm nicht mehr eine solitäre, sondern nur eine Proteusform der ewigen Kraftentäußerung, der Lebenswille nicht mehr Tat des einzelnen Menschen, sondern der lebendig gewordene Urwille der ganzen Menschheit. Und so, wie er früher in seiner Vision eine Synthese der Energien versuchte, so münden ihm nun die Gesetze in ein Letztes und Höchstes, in ein Weltgesetz.

Die lyrische Erhobenheit wölbt nun über die Wirklichkeit den Traum ihrer Gesetze. Aber es ist nicht der bloße Jünglingstraum vor dem Leben mehr, der blutlose, vage, nächtige, unruhige Traum, sondern die Mannessehnsucht, hinter das Leben bis an seine irdische Grenze zu kommen. Es ist die Utopie, die Wirklichkeiten über sich selbst hinaussteigert, der Traum der Gottheit in den Dingen. Kosmischen Schwung sieht Verhaeren in der ganzen Welt. »Le monde est trépidant des trains et des navires.« Die ganze Welt ist erregt von menschlicher Bewegung und Bemühung, überall flammen Manifestationen des Lebensgefühls, überall kämpft die Menschheit um Unsichtbares und vielleicht Unerreichbares. Aber während er früher jede einzelne Energie wertete, begreift er sie nun alle zusammengenommen als eine einheitliche, erkennt hinter dem unbewußten Tun des Einzelnen ein Größeres waltend: die Absicht der ganzen Menschheit. Alle, die da im Material des Zeitlichen wirken, veranschaulichen nur ewige Kräfte, die Trunkenheit, die Tatkraft, die[169] Eroberung, die Freude, den Irrtum, die Erwartung, die Utopie. Und diesen Kräften oder besser diesen Formen der Urkraft gelten seine Gedichte. In »Les visages de la vie« sucht er die Sehnsucht in allen ihren Formen und Zielen zu schildern, ihre Verteilung in menschliche Arbeit, ihre Unruhe, ihre Kraft und vor allem ihre Schönheit. Aber nicht nur die menschlichen Manifestationen erscheinen ihm nun in größeren Zusammenhängen, die Synthese von Realismus und Metaphysik läßt nun auch sein Verhältnis zu den elementaren Dingen reicher und heroischer sein. Wenn er nun ein gleiches Motiv behandelt wie in den ersten Büchern, und man diese Gedichte der ersten und der letzten Epoche einander gegenüberstellt, spürt man mit Staunen und Bewunderung das stumme Wachstum der letzten Jahre. Ich will an ein Beispiel erinnern. Schon früher hat er dem Wind ein Lied gesungen. Aber damals war er ihm der böse Sturm, der die Hütten zaust, an den Schornsteinen rüttelt, wild in die Stuben fährt, der über die Felder wütet und den Winter bringt. Er war eine sinnlose Kraft, in seiner Sinnlosigkeit schön, aber ohne Zweckmäßigkeit, ein unbegreifliches Element, ein abgelöstes Phänomen der Natur. Nun aber fühlt der Gereifte ihn als den Wanderer über die ewige Welt, der alle Länder gesehen hat, der die Schiffe über die Meere treibt, der den Duft von fremden Blumen in sich eingesogen hat und ihn herbringt aus der Ferne, der würzig eindringt in die Brust und sie stählt und erweitert. Nun liebt er den Wind als eines der tausend Dinge der Erde, die zur Steigerung seines Lebensgefühles beitragen.


»Si j'aime le vent, l'air, l'espace,

C'est qu'il grandit mon être et c'est qu'avant

De s'infiltrer, par mes poumons et mes pores

Jusqu'au sang dont vit mon corps,[170]

Avec sa force ou sa douceur profonde

Immensement il a étreint le monde.«


So wird ihm der Baum Vorbild ewiger Erneuerung der Kraft, Widerstand gegen die Härte des Winters und des Schicksals, Wille zu neuer Schönheit im Frühling. Der Berg erscheint ihm nicht mehr als eine zufällige Erhöhung der Landschaft, sondern ein Großes und Gewaltiges, in dessen Tiefe die Geheimnisse liegen, die Erze und der Ursprung der Quellen, von dessen Höhe aus aber der Ausblick weit über die Welt geht. Der Wald deutet sich ihm als Wirrnis der tausend Wege, und der vielstimmige Choral des Lebens: Alles in der Natur wird Auffrischung und Verlebendigung seiner Vitalität. Absoluter Wandel der Werte vollzieht sich, seit er Dinge im Ganzen und als Ganzes erfaßt. Die Reise, früher Flucht vor den Wirklichkeiten, wird ihm nun das Auftun neuer Fernen, neuer Möglichkeiten, der Traum scheint ihm nicht mehr Absonderung vom Leben, sondern Fähigkeit, das Wirkliche von seinem Sein in ein Werdendes zu steigern. Europa ist ihm nicht mehr der Zusammenschluß von Nationen, ein geographischer Begriff, sondern das große Symbol der Eroberung. Das Geld, das Gold betrachtet er nicht verächtlich als Materialisierung des Lebens, sondern als neuen Ansporn für neuen Ehrgeiz. Und das Meer, das in jedem seiner Werke wiederklingt mit seinem unruhigen Rhythmus, ist nicht mehr die räuberische Kraft, die das Land frißt, sondern die heilige Flut, das Symbol stetiger Kraft in ewiger Unruhe, es ist ihm »la mer une et pure comme une idée«. Da alles zusammenhängt, fühlt er sich allem verwandt, in pathetischer Bruderschaft zu den Dingen, er fühlt nicht mehr die Dinge, sondern er liebt sie wie ein Stück seiner selbst, er fühlt das Meer körperlich in sich.[171]


»Ma peau, mes mains et mes cheveux

Sentent la mer

Et sa couleur est dans mes yeux.«


Und so, wie sich sein Lebensgefühl bei jeder Berührung mit den Fluten erneuert, so glaubt er auch an eine körperliche Auferstehung des Körpers aus dem Meer, ein Auftauchen aus einer Flut als »nouveau moment de conscience«. Verhaeren ist in den großen Zusammenhang zurückgekehrt, es gibt keine Erscheinung mehr für ihn in Natur und Menschheit, die ihm nicht Symbol werden könnte, für den großen Lebenstrieb, nicht seine Vitalität anstacheln und befeuern könnte.

Und da er alle Dinge nun mit diesem einen Gefühl beantwortet, so muß sich unwillkürlich aus dieser Einheit des Empfindens auch eine einheitliche Anschauung ergeben. Der Einheit der Begeisterung entspricht die Einheit der Welt, das monistische Gefühl. So wie er selbst aus allen Dingen immer nur Steigerung und Erhebung gewinnt, nichts anderes als Lebensgefühl selbst, so müssen alle Erscheinungen und Tätigkeiten eine Synthese sein, alle Kräfte münden in eine einzige Kraft, alle Gesetze in ein einziges Gesetz:


»Toute la vie avec ses lois, avec ses formes,

Multiples doigts de quelque main énorme

S'entr' ouvre et se referme dans une pointe: L'unité.«


Und so muß auch diese Anspannung der ganzen Menschheit, die sich in tausend Formen entlädt, irgendein Gemeinsames sein, ein Kampf gegen etwas, was außerhalb ihrer selbst liegt, gegen einen Widerstand, der sie das Leben noch als schwer, dumpf und trübe empfinden läßt. Ihr Kampf muß gegen etwas sein, was ihr Lebensgefühl hemmt. Und dieses der Menschheit[172] einzig Entgegenstrebende ist für Verhaeren die Suprematie der Natur, die Geheimnisse der göttlichen Einmengung, die Unfreiheit des Menschen vom Schicksal, kurz jede Göttlichkeit außer ihr selbst. Sobald die Menschheit von niemand abhängig sein wird, als von sich und ihrer eigenen Kraft, wird sie auch die große Freudigkeit aller natürlichen Dinge gewinnen.

Dieser Kampf des Menschen um seine Gottwerdung, um seine Unabhängigkeit, seine Freiheit vom Zufall und Übernatürlichen – das ist die große metaphysische Idee des Verhaerenschen Werkes. Seine letzten Bücher wollen nichts anderes darstellen, als diesen einzigen und höchsten Kampf der Menschheit, immer mehr frei zu werden von all dem, was nicht sie selbst, sondern die Natur über sie verhängt, was ihren Willen hemmt, selbst natürlich und elementar zu werden. Dieser Kampf ist die höchste und reinste Anstrengung, denn


»Rien n'est plus haut, malgré l'angoisse et le tourment,

Que la bataille avec l'énigme et les ténèbres.«


Ihr Kampf wehrt sich gegen das Dunkel, gegen das Unbekannte, gegen die Himmel, gegen die Gesetze, die sie einschnüren; das ganze Ziel der Menschheit, das sie seit tausend Jahren unbewußt verfolgt, ist Unabhängigkeit, ist sich selbst Gesetz zu werden:


»L'homme dans l'univers n'a qu'un maître, lui-même

Et l'univers entier est ce maître dans lui.«


Heute wirkt ihm noch der Zufall entgegen, oder wie manche ihn empfinden, die Göttlichkeit. Ihn gänzlich zu besiegen, den Zufall durch Selbstbestimmung zu ersetzen, wird die große Aufgabe der Zukunft sein. Schon hat man ihm viel genommen. Der Blitz, die gefährlichste Macht des Himmels, ist bezwungen, die Fernen sind überbrückt, die Formen der Natur geändert,[173] die Unbill des Wetters durch gegenseitige Vereinung und Unterstützung abgelenkt. Die Krankheiten werden von Jahr zu Jahr ergründet und gedämmt, immer mehr das Unberechenbare in Berechnung verwandelt. Aber immer mehr muß dieses Unbekannte eine Beute des Menschen werden, dessen höchster Wille ist: »dompter l'inconnu«. Immer mehr dringt sein Blick in das Unterirdische und Geheimnisvolle der Naturwirkung.


»Aujourd'hui c'est la réalité

Secrète encore, mais néanmoins enclose

Au cœur perpétuel et rythmique des choses

Qu'on veut avec ténacité

Saisir, pour ordonner la vie et la beauté

Selon les causes.«


Für diesen Kampf ist jeder ein Soldat im Befreiungskriege der Menschheit, alle stehen in unsichtbarer Reihe beisammen. Jeder, der der Natur eine Erkenntnis abringt, eine Tat schafft, jeder, der dichterisch die andern dazu anfeuert, reißt einen Fetzen des Schleiers ab. Mit jedem Schritt, den die Menschheit gegen das Dunkel vordringt, mit jedem Fußbreit Landes, das sie erobert, verliert die Göttlichkeit gegen sie an Kraft, bis dann schließlich nichts von dem einstigen Gott übrigbleiben wird, und sich die Identität der beiden Begriffe Menschlichkeit und Göttlichkeit unbewußt vollziehen wird.


»Héros, savant, artiste, apôtre, aventurier,

Chaque troue à son tour le mur noir des mystères,

Et grâce à ces labeurs groupés et solitaires

L'être nouveau se sent l'univers tout entier.«


Von dieser Höhe aus gesehen ergibt sich eine neue dichterische Wertung der Berufe. In der ersten Reihe der Kämpfenden stehen für Verhaeren diejenigen, deren Lebensanstrengung es ist, Erkenntnis zu gewinnen:[174] die Männer der Wissenschaft. Verhaeren ist vielleicht der einzige unter den modernen Dichtern, die die Wissenschaft in voller Gleichberechtigung mit dem Poetischen empfunden haben, der so wie früher im Industrialismus und in der Demokratie neue ästhetische Werte, ebenso in der Wissenschaft die neuen moralischen und religiösen Werte lyrisch entdeckt hat. Die meisten Dichter bisher hatten die Wissenschaft als Hemmung empfunden, weil sie Furcht hatten vor Deutlichkeiten wie vor Wirklichkeiten. Sie galt ihnen als die Zerstörerin des Mythos, die Vernichtung jenes edlen Aberglaubens, der für sie mit dem Dichterischen untrennbar verbunden war. Aber ebenso wie die Maschine ihnen häßlich erschien, weil die Schönheit sich dort von der äußeren Form in die innere zurückgezogen hatte, so ist auch hier der neue ethische Wert nicht in der Methode, sondern in der Absicht verborgen. Verhaeren wertet die Wissenschaft als die große Kämpferin um die neue Weltanschauung: »Le monde entier est répensé par leur cervelles.« Er weiß, daß die kleinen Erkenntnisse, die in unserer Zeit an tausend und tausend Orten zugleich, in Sanatorien und Hörsälen, Sternwarten und Studierzimmern, mit Mikroskopen und chemischer Zersetzung, mit Photographie, Wägung und Berechnung, mit Maßen und Zahlen an Milliarden Beispielen gewonnen werden, daß diese kleinen Erkenntnisse durch Vergleich und Vervielfältigung zu großen Schöpfungen werden können, zu immenser Bereicherung des Lebensgefühls. Und dieser Hymnus an die Wissenschaft ist gleichzeitig auch ein Hymnus an unsere Zeit. Denn keine vor ihr hat so bewußt um die Bereicherung des Wissens gekämpft, keine war so erfüllt von der Sehnsucht nach neuer Erkenntnis und Umwertung:[175]


»L'acharnement à tout peser, à tout savoir

Trouille la forêt drue et mouvante des êtres.«


In begeisterten Worten feiert Verhaeren die Wissenschaft als die höchste Anstrengung der Zeit und der Vergangenheit; denn er weiß, daß, was uns heute schon Voraussetzung und Selbstverständlichkeit ist, glühendste Anstrengung von tausend Jahren war, daß der Weg, den wir heute lässig schreiten, mit Märtyrerblut bedeckt ist.


»Dites, quel sang versé sous les années

Et quelle angoisse ou quel espoir des destinés,

Et quel cerveaux chargés de noble lassitude

A-t-il fallu pour faire un peu de certitude?

Dites, le feu et les bûchers! Dites les plaies,

Les regards fous, en des visages d'effroi blanc,

Dites les corps martyrisés, dites! les plaies

Criant la vérité avec leur bouche en sang.«


Aber er weiß auch, daß die Errungenschaften von heute wieder nur Voraussetzungen sind für die neuen Wahrheiten von morgen. Der Irrtum ist unvermeidlich, aber auch er deckt neue Wege auf. Alle Ziele sind – Brezina, der tschechische Dichter sagt es einmal so schön – schwimmende Inseln, die sich entfernen, sobald wir uns nähern. Das höchste Ziel ist schon in der Anstrengung, in dem so gesteigerten Leben selbst. Der Optimismus Verhaerens wahrt hier die Grenze gegen die Banalität, Verhaeren ist Mystiker genug, um zu wissen, daß ein Unverkennbares und Unerreichbares in allen Dingen erst jene Schönheit des Unbegreiflichen gewinnt. Aber diese Erkenntnis darf die Begeisterung nicht abschrecken:


»Partons quand même avec notre âme inassouvie,

Puisque la force et que la vie

Sont au delà de vérité et des erreurs.«[176]


Mögen einige letzte Dinge auch für ewig unerforschlich sein: »Plutôt que de peupler leur trous avec des chimaires nous préférons de n'en savoir rien«. Lieber eine gottlose Welt als eine mit falschen Göttern, lieber eine mangelhafte Erkenntnis als eine falsche.

Hier, wo die Heroen der Wissenschaft die Grenze ihrer Möglichkeit erreichen, muß eine neue Gruppe ihnen zur Seite stehen und ihnen am Werke helfen. Die Dichter müssen es sein, die den Glauben predigen, wo das Wissen nicht ausreicht. Sie müssen die Synthese zwischen Wissenschaft und Religion, zwischen dem Irdischen und Göttlichen finden, die neue Synthese: das religiöse Vertrauen zur Wissenschaft. Ihr Optimismus muß die Menschen zwingen, an die Wissenschaft zu glauben, so wie sie früher an die Götter geglaubt haben: ohne Beweis, sie müssen von dieser neuen Religion verlangen, was die Kirchenväter für die alte verlangten. Und er selbst, Verhaeren, der einst – wundervoll ist hier wieder ein herbes Nein in jubelndes Ja umgewandelt – im Anfang seines Werkes sagte:


»Toute science enferme au fond d'elle le doute

Comme une mère enceinte étreint un enfant mort«,


er selbst ist heute der erste Begeisterte und Vertrauende. Wo die einzelnen Geister sich noch bekriegen – »dans la lutte de Dieux humains en haut« – wo ihre Erkenntnis noch keine Brücke findet, müssen Dichter mit Vertrauen und Begeisterung den Weg ahnen. Sie müssen Gesetz und Anschauung in eins vereinen, und so wie jene durch die Erkenntnis ihre Begeisterung gefördert haben, so nun durch ihr Vertrauen wieder die Erkenntnisse fördern. Haben sie nicht die Beweise der Tatsächlichkeiten, so gibt ihnen ihre Gläubigkeit die Begeisterung: »Nous croyons déjà ce que les autres sauront«. Sie wittern und ahnen das Neue,[177] noch ehe es geboren ist, vertrauen den Hypothesen noch vor dem Beweis. Sie hören


»Pendant qu'ils disputent et s'embrouillent encore

A coups de textes morts

Et des dogmes de sages«


schon die Schwingen der neuen Wahrheit rauschen. Sie glauben schon an das, was erst spätere Geschlechter wissen werden, empfangen Lebensfreude von dem, was die Späteren erst ihren Besitz nennen werden. Sie zweifeln an nichts; nicht daß der Mensch die Lüfte sich erobern wird, die Krankheiten bezwingen, das Leben heiter und leichter machen, sie verzagen nicht am Fortschritt und überfliegen in der Ekstase alle Hindernisse. »La crie de Fauste n'est plus le nôtre«, die Frage nach Ja und Nein ist längst freudig bejaht, jubelt der Dichter, wir schwanken nicht mehr zwischen der Möglichkeit des Erkennens und der Unmöglichkeit, wir glauben daran, und Glauben und Vertrauen ist schon die höchste Erkenntnis des Lebens. An diesem Optimismus der Dichter müssen nun die andern Erkennenden wachsen, müssen aus diesen Träumen Kraft schöpfen für ihre Tätigkeit, alle müssen sich so ergänzen, um die Einkreisung des Dunkels, die Besiegung Gottes zu vollenden, um


»Emprisonner quand même un jour l'éternité

Dans le gel blanc d'une immobile vérité«.


Für diese letzte Wahrheit, den Menschengott, den sie entdecken sollen, sind die Dichter und Gelehrten die neuen Heiligen, und seine Diener sind alle, deren Stirnen feurig sind vom Fieber der Arbeit, deren Hände verbrennen an den Experimenten, deren Nerven zerreißen von der Anspannung, deren Auge müde wird an den Büchern. Auch allen diesen gilt der Hymnus Verhaerens:[178]


»Qu'ils soient sacrés par les foules, ces hommes

Qui scrutèrent les faits pour en tirer la loi.«


Aber noch weiter reicht die Bewunderung Verhaerens für die Helfer am neuen Werke, für die »saccageurs d'infini«. Nicht nur der Denker und der Dichter erweitert den Lebenshorizont, sondern jeder, der schafft und irgendwie am Werke ist. Nur der Schaffende ist wahrhaft lebendig und wahrhaft Mensch, »seul existe qui crée«. So gilt sein Hymnus auch den Arbeitern, die, ohne den Zweck zu wissen, täglich stumpf in den Minen und auf den Feldern wirken, denn auch sie bauen am Antlitz der Erde, schaffen Berge, wo keine waren, stellen Lichter an den Rand der Meere, bauen Maschinen und die großen Teleskope, die den Himmel belauschen, sie alle schmieden das Rüstzeug der Erkenntnis und bereiten die neue Ära vor. Die Kaufleute, die Schiffe über die Meere senden, die Fäden spinnen zwischen den entferntesten Gebieten, auch sie weben am Netz der großen Einheit; die Händler, die das Gold verbreiten, die Blutzirkulation der Welt beschleunigen, auch sie sind Mitwirkende am Kampfe gegen das Dunkel. Ihr Zusammenschluß gibt der Menschheit erst die große Stärke, sie alle bereiten die Stunde vor, den Augenblick, der nicht ausbleiben kann.


»Il viendra l'instant, où tant d'efforts savants et ingénus,

Tant de génie et de cerveaux tendus vers l'inconnu

Quand même, auront bâti sur des bases profondes

Et jaillissant au ciel, la synthèse des mondes.«


In feurigen Morgenröten leuchten hier die Tage der Zukunft auf. Zehntausende werden ringen, werden vorbereiten, bis dann der Eine kommt, der den letzten Stein zum Werke fügt, »le tranquille rebelle«, der Christus dieser neuen Religion.[179]


»C'est que celui qu'on attendait n'est point venu,

Celui que la nature entière

Suscitera, un jour d'âme et rose trémière

Sous des soleils puissants non encore connus;

C'est que la race ardente et fine

Dont il sera la fleur

N'a point multiplié ses milliers des racines

Jusqu'au tréfond des profondeurs.«


Denn diese Vision steigt hier im Werke Verhaerens inbrünstig und glühend auf. Unablässig schreitet die Menschheit fort. Einst war ihr die ganze Welt erfüllt von Göttlichkeit, »jadis tout l'inconnu était peuplé des Dieux«, dann nahm nur ein einziger Gott Recht und Gewalt in seine Hand, aber nun hat die Menschheit durch ihre Kraft und Leidenschaft diesem Unbekannten Jahr um Jahr ein Geheimnis nach dem andern abgerungen. Immer mehr hat sie den Zufall durch Gesetze, den Glauben durch das Wissen, die Furcht durch die Sicherheit überwunden, immer mehr gleitet die Gewalt der Götter in die Hände der Menschen über, immer mehr bestimmen sie ihr Leben selbst, bis es schließlich Selbstbestimmung auf allen Gebieten sein wird; immer weniger sind sie Gesetzen untertan, die sie nicht selbst erschaffen haben, immer mehr werden sie aus Knechten der Natur ihre Herren.


»Races, régnez: puisque par vous la volonté du sort

Devient de plus en plus la volonté humaine.«


Die Götter werden zu Menschen werden, das äußere Schicksal wird zurückkehren in ihre Brust, die Heiligen werden nur mehr ihre Brüder sein und das Paradies die Erde selbst. Am schönsten hat Verhaeren diese Idee in seinem jüngsten Buche ausgedrückt, im Symbol von Adam und Eva. Die vertriebene Eva findet eines Tages die Türen des Paradieses wieder offen. Aber[180] sie kehrt nicht mehr zurück, denn in der Tätigkeit und Lust der Erde ist ihre höchste Freude, ihr Paradies. Niemals ist stärker und glühender die Lust am Sein, am Leben und der Erde dichterisch emporgeführt worden als in diesem Symbol, niemals begeisterter als von diesem Dichter – vielleicht weil er wilder und hartnäckiger als je ein anderer das Leben verleugnet hatte – der Hymnus der Menschheit gesungen worden. Restlos klingen hier die Gegensätze in eine Harmonie zusammen, die letzte Feindlichkeit zwischen Mensch und Natur wird hier zum ekstatischen Gefühl der Gottmenschlichkeit.

Und seltsam, auch hier kehrt wieder der Kreis des Lebens in sich zurück. Das Buch des Alters zu jenen Tagen der Jugend, zu der Schulbank in Gent, wo auch Maeterlinck saß, der andere große Flame. Beide, die sich dort verloren haben, haben sich wiedergefunden auf der Höhe des Lebens, in ihrer Weltanschauung, denn auch Maeterlincks höchste Erkenntnis in seinem Buche »Weisheit und Schicksal« ist, daß im Menschen selbst alles Schicksal beschlossen liege, daß es seine höchste Entwicklung, seine höchste Pflicht sei, das Schicksal, das Äußere, den Gott zu bezwingen. Dieser tiefe Gedanke, der zweimal in unseren Tagen aus flandrischer Erde erblühte, ist auf verschiedenen Wegen gewonnen. Maeterlinck hat ihn erlauscht aus der Mystik des Schweigens, Verhaeren im Lärm des Lebens. Er hat seinen neuen Gott nicht im Dunkel der Träume gefunden, sondern im Lichte der Straßen, überall, wo Menschen sich mühen und aus schweren Stunden die zitternde Blume der Freude wächst.[181]

Quelle:
Insel Verlag, Leipzig, 1913, S. 168-182.
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