Meeresfläche

[351] Meeresfläche (Meeresniveau, mittleres, als geodätische Nullfläche). Nach der Definition der Erdfigur (s. Erde) gilt unter allen in der Nähe der physischen Erdoberfläche verlaufenden Niveauflächen als Repräsentant der Erdfigur, als Geoid, diejenige Niveaufläche, welche der in Ruhe gedachten Oberfläche der Weltmeere entspricht. Dabei ist vorausgesetzt, daß diese ruhende, normale Meeresoberfläche ein Teil einer geschlossenen analytischen Fläche ist, welche je nach der erforderlichen Genauigkeit als Kugel oder Rotationsellipsoid von bestimmten Dimensionen ausgedrückt werden kann und damit diejenige Berechnungsfläche bestimmt, auf welche die geodätischen Punktbestimmungen bezogen werden. – Nach dieser Definition ist die normale Meeresfläche die natürliche Ausgangs- oder Nullfläche für die Zählung aller Höhenangaben als Meereshöhen oder absolute Höhen (s. Höhe).

Wegen der Unkenntnis der Geoidform bleibt für die Vergleichung der Meereshöhen[351] verschiedener Kontinente und Inseln eine Unsicherheit bestehen. Für einen bestimmten Kontinent dagegen, wie z.B. Europa, entsteht die Aufgabe, 1. aus der unter dem Einfluß der ozeanischen Bewegungen stehenden physischen Meeresfläche die normale Meeresfläche, die Gleichgewichtslage längs der Küstenlinie abzuleiten, 2. die so erhaltenen Normalwasserstände durch Nivellierung aufeinander zu beziehen und zu vergleichen, 3. nach den Ergebnissen dieser Untersuchungen eine exakte Definition für die europäische Höhenzählung einzuführen und, wenn möglich, einen einheitlichen europäischen Nullhorizont zu bestimmen und den Anschluß der bis dahin verwendeten abweichenden Höhenzählungen zu ermöglichen.

1. Die Bestimmung der normalen Meeresfläche. Die Oberfläche des Weltmeeres wird durch Wellenschlag, Ebbe und Flut, Winddruck, Temperatur- und Luftdruckschwankungen und durch sonstige Einwirkungen in beständiger Bewegung erhalten. Diese äußert sich an den Küsten unter dem Zusammenwirken aller Momente, wie der Tiefe und Form der Meeresbecken, des Salzgehalts des Wassers, der Stauungen und Regenfälle, als eine sehr komplizierte, örtlich verschiedene Wasserstandsbewegung. Die ständigen Wellenbewegungen, welche von den allgemeinen Hebungen und Senkungen unabhängig sind, lassen sich ausscheiden. Es bleiben als wesentlichster Faktor die lokale Gezeitenbewegung (s. Ebbe und Flut) mit 18 jähriger astronomischer Periode und daneben die unregelmäßigen Schwankungen zurück, deren Ursachen oben angeführt wurden. Da die Berücksichtigung dieser Ursachen Schwierigkeiten macht, steht man in der Regel von einer rechnerischen Elimination ab, beschränkt sich vielmehr auf eine allgemeine Beurteilung nach Jahresisobaren, nach der Temperatur, nach Richtung und Stärke des Windes u.s.w. Man setzt voraus, daß die Wirkungen dieser Ursachen sich in gewissen Zeiträumen aufheben. Zur Gewinnung einer einigermaßen befriedigenden Uebereinstimmung in der Ableitung der Gleichgewichtslage für verschiedene Küstenpunkte sind daher fortlaufende Beobachtungen der Wasserstände erforderlich; eine Lücke von nur 1/2 Tag kann schon einen merklichen Einfluß auf den Jahresstand ausüben. Zu diesen Beobachtungen dienen selbsttätig registrierende Wasserstandszeiger, aus deren Angaben Werte für die Mittelwasser der Küstenpunkte berechnet werden. Das Mittelwasser tritt als unmittelbares Beobachtungsergebnis an Stelle des normalen Meeresspiegels; es ist naturgemäß abhängig vom lokalen Verlauf der Wasserstandskurven. Das einfache Mittel aus Hoch- und Niedrigwasser, welches für manche technische Zwecke einen genügenden Ausdruck für die mittlere Wasserstandshöhe liefert, ist für den vorliegenden geodätischen Zweck nicht brauchbar. Je nach der Ausdehnung der Beobachtungsperiode spricht man von einem täglichen, monatlichen, jährlichen, säkulären Mittelwasser. Ueber die numerische Ableitung und selbsttätige Angabe des Mittelwassers s. Mareograph und die dort angegebene Literatur. Weiteres über die Ableitung mit Berücksichtigung der einzelnen Momente s. [1]–[3]. Die Genauigkeit der Ableitung des Mittelwassers ist abhängig vom Apparat, den lokalen Verhältnissen, der Beobachtungsdauer u.s.w. und kann im allgemeinen durch etwa + 1 cm ausgedrückt werden.

2. Vergleichung der Mittelwasserstände. Werden die auf diesem Wege abgeleiteten Mittelwasserstände unter sich durch geometrische Feinnivellements zwischen den zugehörigen Höhenmarken verbunden, wobei die Ergebnisse der Nivellierung mit allen Reduktionen zu versehen sind, insbesondere auch mit den von der Schwereänderung herrührenden (s. Orthometrische Höhe unter Höhe), so läßt sich ermitteln, ob innerhalb der Genauigkeit dieser Vergleichung die beobachteten Mittelwasserstände derselben Niveaufläche angehören. Die Durchführung dieser Untersuchung für die Europa umspülenden Meere ist eine wichtige Aufgabe der 1864 gegründeten Europäischen Gradmessung und der aus ihr hervorgegangenen Internationalen Erdmessung gewesen (vgl. [10]). Die mit dem allmählichen Fortschritt dieser Untersuchung nach und nach gefundenen Ergebnisse haben gezeigt, daß die beobachteten Abweichungen der Mittelwasserstände von einer Niveaufläche bei benachbarten Küstenpunkten desselben Meeresteiles über die Fehler der nivellitischen Vergleichung hinausgehen, bei weit entfernten Küstenpunkten aber diesen Fehlern etwa gleich sind. Das Ergebnis läßt sich bis jetzt kurz so zusammenfassen: Die bisher beobachteten Mittelwasserstände an den Europa umspülenden Meeren scheinen mit einer Genauigkeit von etwa 1–2 dm derselben Niveaufläche anzugehören, wobei aber der Vergleichung selbst noch eine Unsicherheit von gleichem Betrage anhaftet. Spezielles hierüber gibt [4]–[6]. Die zu Anfang der Untersuchungen [7], [8] zuerst angenommene starke Depression des Mittelmeeres gegenüber der Nord- und Ostsee um rund 0,75 m besteht demnach nicht.

3. Der europäische Nullhorizont. Da die für die Ableitung eines internationalen europäischen Höhennullpunktes erforderlichen Voraussetzungen in betreff der Genauigkeit der Wasserstandsbeobachtungen und Nivellierung noch nicht erfüllt sind und die dauernde Unveränderlichkeit der gegenseitigen Lage der Mittelwasserstände untereinander und zu den Festlandspunkten noch nicht genügend dargetan ist, so ist seitens der Internationalen Erdmessung von der Entscheidung und endgültigen Regelung der Frage vorderhand abgesehen und zur möglichst widerspruchsfreien Lösung der technischen Aufgaben der Höhenmessung empfohlen worden, in den einzelnen Staaten besondere nationale einheitliche Höhennullpunkte zu schaffen [9]. Einen zusammenfassenden Bericht über die verschiedenen Stadien dieser Frage von 1864–93 gibt [10], Bemerkungen hierzu [11]. Die letzte Veröffentlichung über Verbindungsnivellements zwischen den Nivellementsnetzen und den Mareographen der verschiedenen Länder steht in [12]. – Von denselben Folgerungen ausgehend war bereits im Jahre 1879 zur Beseitigung der Unsicherheit, welche durch die auf verschiedene Küstenpunkte bezogene Höhenzählung entstand, der sogenannte Normalhöhenpunkt für das Königreich Preußen mit dem Zeichen N.N. geschaffen worden [13] (s.a. Höhe). Er erlangte nach und nach auch für die übrigen deutschen tagten Gültigkeit [13]. – Die nationalen auf Mittelwasser bezogenen Festpunkte der Länder des westeuropäischen Festlandes und ihre gegenseitigen Beziehungen zum Mittelwasser in[352] Amsterdam sind in der folgenden, aus [6], S. 552 entnommenen Tabelle angegeben. Die Werte der letzten Spalte wurden nach den in der Tabelle angeführten Ergebnissen der jüngsten Ausgleichungen berechnet


Meeresfläche

Literatur: [1] Publik. des Geodätischen Instituts: Das Mittelwasser der Ostsee bei Travemünde, Berlin 1885; desgl. bei Travemünde, Marienleuchte u.s.w., Berlin 1900. – [2] Ebend., Bruns, Figur der Erde, Berlin 1878, S. 4. – [3] Verhandl. der Intern. Erdmessung in Freiburg 1890, S. 28, und Zeitschr. f. Verm. 1891, S. 10. – [4] Verhandl. der Intern. Erdmessung in Freiburg 1890, Beilage C, II. – [5] Zentralbureau der Intern. Erdmessung: Vergleichung der Mittelwasser der Ostsee und Nordsee, des Atlantischen Ozeans und des Mittelmeers, Berlin 1891. – [6] Verhandl. der Intern. Erdmessung in Brüssel 1892, Beilage A, VI. – [7] Verhandl. d. Europäischen Gradmessung in Paris 1875, S. 49. – [8] Nivellements der trigonometr. Abt. der preuß. Landesaufnahme, Bd. 5, Berlin 1883, S. 143. – [9] Verhandl. der Intern. Erdmessung in Florenz 1891, Beilage A, III, (Bericht von Helmert). – [10] Desgl. in Genf 1893, Beilage A, III (Bericht von Lallemand). – [11] Desgl. in Innsbruck 1894, Beilage A, VI. – [12] Desgl. in Kopenhagen 1903, Beilage B, XV. – [13] Der Normalhöhenpunkt für das Königreich Preußen, Berlin 1879. – [14] Zeitschr. für Verm. 1880, S. 1 U. 210.

(† Reinhertz) Hillmer.

Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 6 Stuttgart, Leipzig 1908., S. 351-353.
Lizenz:
Faksimiles:
351 | 352 | 353
Kategorien:

Buchempfehlung

Aristophanes

Die Vögel. (Orinthes)

Die Vögel. (Orinthes)

Zwei weise Athener sind die Streitsucht in ihrer Stadt leid und wollen sich von einem Wiedehopf den Weg in die Emigration zu einem friedlichen Ort weisen lassen, doch keiner der Vorschläge findet ihr Gefallen. So entsteht die Idee eines Vogelstaates zwischen der Menschenwelt und dem Reich der Götter. Uraufgeführt während der Dionysien des Jahres 414 v. Chr. gelten »Die Vögel« aufgrund ihrer Geschlossenheit und der konsequenten Konzentration auf das Motiv der Suche nach einer besseren als dieser Welt als das kompositorisch herausragende Werk des attischen Komikers. »Eulen nach Athen tragen« und »Wolkenkuckucksheim« sind heute noch geläufige Redewendungen aus Aristophanes' Vögeln.

78 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon