Das Birkenreis

[39] Es lebte einmal eine arme, arme Mutter; die hatte kein Brot, um sich und ihr Kind zu nähren. Sie und ihr Knabe lebten nur von fremder Leute Gnade, und wenn sie ihre Wassersuppe kochen wollten, so mußten sie selbst in den Wald gehen, um sich das Holz zu holen. Das war eine gar traurige Wirtschaft, wobei der Hunger der Koch und der Schmalhans der Hauser war. Einmal hatte die Mutter wieder kein Scheitlein Holz und sprach zum Knaben: »Sepp, geh in den Wald hinaus, denn ich habe kein Scheitlein Holz mehr, um uns die Suppe zu wärmen. Mach dich aber vorwärts und bring heute mehr Reisig heim, denn morgen ist ein Feiertag.«[39]

Der Knabe ließ sich das nicht zweimal sagen, steckte in seinen Schnappsack ein Stücklein schwarzes Brot, nahm das Seil, um das Holzwerk zusammenzubinden, und wanderte (obwohl er hungrig war) willig in den grünen Wald hinaus. Als er im Forst war, fing er an, Holz und Reisig zu sammeln, daß ihm der Schweiß von der Stirn niedertropfte und er seinen Hunger vergaß.

Es dauerte nicht gar lange, und der brave Sohn hatte schon ein großes Holzbündel, das er nun zusammenband und auf dem Kopfe weitertrug. Es war ein warmer Tag, und die Sonnenstrahlen brannten gewaltig heiß nieder, als der Knabe so durch den Wald ging und unter der schweren Bürde einherkeuchte. Er glaubte, er könne das Holz nicht mehr weiterbringen, so matt und müde war er, und dazu kam noch der leere Magen, der sich auch mehr und mehr meldete. Er schnitt wohl ein saures Gesicht, und doch freute sich das brave Kind, wenn es an die Freude dachte, die seine Mutter beim Anblick des großen Bündels haben würde.

Wie er so hintrollte und an die Mutter dachte, stand plötzlich ein Weiblein vor ihm. Das war steinalt, ihr Gesicht war voll Runzeln, und ihre Augen funkelten wie zwei Feuer. Ein Bündel Holz lag zu ihren Füßen, und sie klagte, daß sie die Last nicht mehr weiterbringen könne.

»Geh, hilf du mir!« sprach das unheimliche Weibchen den daherkommenden Knaben an.

»Ja«, meinte er, »ich habe selbst genug zu tragen und darf die Mutter nicht zu lange warten lassen.«

»Ei, du hast junge Füße«, entgegnete die Alte lächelnd. »Du kommst noch früh genug heim, wenn du mir auch das Holz zur Hütte trägst; denn mein Häuschen ist nicht weit von hier, und wenn du mir folgst, soll es dich gewiß nicht reuen. Ich will dich dafür gut bezahlen.«

Der Knabe dachte sich: Das wird eine schöne Bezahlung sein; das Weiblein hat ja selbst nichts. Er ließ sich aber dennoch bewegen, legte sein Bündlein ab, nahm das andere auf und trottete der Alten, die ihm den Weg wies, nach. Sie waren eine nicht große Strecke gegangen, als die Alte vor einem Hüttchen stillstand und zum Knaben sprach: »Nun kannst du das Bündlein[40] ablegen, denn hier ist meine Behausung. Warte nur ein bißchen, und ich werde dich bezahlen.«

Der Knabe legte das Bündlein ab, und es wunderte ihn sehr, was das arme Waldweiblein, das ins Hüttchen gegangen war, ihm bringen werde.

Es dauerte nicht lange, da trat das Weiblein wieder heraus und trug ein Birkenreis in der Hand. Das alte Mütterchen kam jetzt dem Knaben viel größer vor und es war so feierlich und ernst, daß er sich fast fürchtete.

»Du bist ein braves Kind, das mit armen und alten Leuten Mitleid hat, und dafür will ich dich belohnen. Nimm dieses Birkenreis und bewahre es gut, denn es wird dir goldene Früchte tragen.« Mit diesen Worten gab sie ihm das Reis und war ins Haus verschwunden.

Der Kleine mußte über das Geschenk beinahe lachen, doch behielt er den Zweig und eilte in den Wald zu seinem Holzbündel zurück. Er nahm es wieder auf den Kopf, trug die Gerte in der rechten Hand und wanderte durch den Wald. Da war er aber gar bald matt und müde, daß ihm die Augen zufielen und er sich dachte: Ich will ein wenig rasten und schlafen, denn so geht das Fuhrwerk nimmer weiter.

Gesagt, getan. Er legte das Bündlein ab, steckte das Birkenreis in die Erde, streckte sich dabei in das weiche Moos und fing an, süß und sanft zu schlummern. Als die Sonne sich neigte und die Abendluft durch den grünen Wald zog, erwachte der Junge erst aus seinen schönen Träumen und rieb sich den schweren Schlaf aus den blauen Augen. Sein erster Blick wurde auf das Holzbündel, sein zweiter auf das kostbare Birkenreis geworfen; doch wie groß war sein Erstaunen, als er an der Stelle des Zweiges einen stolzen Baum sah, an dem goldene und silberne Blätter und Früchte um die Wette flimmerten und glänzten. Ein Schrei der Freude entrang sich seiner Kehle, und jubelnd sprang er zum Wunderbaum und begann Blätter und Äpfel abzupflücken und sie in seinen Sack zu stecken. Als er gefüllt und so schwer war, daß er genug zu tragen hatte, nahm Sepp vom Wald und seinem Bündel Abschied und eilte der Heimat zu.

Die Mutter hatte indessen mit Bangen und Sehnen auf den lange wegbleibenden Knaben geharrt und befürchtete ein Unglück.[41] Wie groß war ihre Freude nun, als sie ihren Sohn in die Hütte treten sah und ihn jubeln hörte. Doch wie sie ihn ohne Holz und Reisig sah, wurde sie böse und sprach: »Wo hast du dich den ganzen Tag herumgetrieben? Ich habe dich am frühen Morgen um Holz in den Wald hinausgeschickt, jetzt ist es später Abend, und du kommst ohne ein Scheitlein zurück.«

»Sei nicht böse, liebes Mütterchen«, fiel nun beschwichtigend der Knabe ein, »ich habe wacker gearbeitet, und du sollst mit mir zufrieden sein.«

Bei diesen Worten schüttete er die silbernen und goldenen Blätter und Früchte auf den runden Tisch heraus, und die Schätze funkelten und glänzten, daß der Mutter fast das Sehen verging. »Woher hast du dieses goldene Zeug?« fragte besorgt die Mutter, denn sie fürchtete, der Schatz könne nicht auf rechtem Wege erworben sein.

»Ich habe das alles im Wald verdient«, jubelte der Junge auf und blickte mit freudetrunkenen Augen die erstaunte, glückliche Mutter an. Er erzählte ihr nun die Geschichte vom alten Weiblein und vom goldtragenden Baum. Die Mutter war nun beruhigt und hoch erfreut, und seit diesem Tage litten beide keinen Mangel mehr, sondern waren reiche Leute.

Und wo ist das Bäumlein jetzt?

Es steht im dichten Wald draußen, eine Viertelstunde hinter der Kapelle, und nur brave Buben können es finden. Oft bringt auch der heilige Nikolaus, wenn die Kinder fleißig beten, ihnen ein solches Bäumlein, und wenn du recht fromm bist, wird dir der heilige Mann auch eins bringen.


(mündlich bei Innsbruck)

Quelle:
Zingerle, Ignaz und Joseph: Kinder- und Hausmärchen aus Süddeutschland. (Regensburg 1854) Nachdruck München: Borowsky, 1980, S. 39-42.
Lizenz:
Kategorien: