11. Die Casa santa zu Tersatto.

[175] Hoch über der Hafenstadt des ungarischen Litorale, Fiume oder St. Veit am Flaum, erhebt sich ein steiler Felsberg, auf welchem das uralte Stammschloß der Familie Frangipani, Tersact oder Tersatto, über Rebenbergen ruht. Die steilste unfruchtbare Absenkung des Felsen aber umfließt in einem Halbkreise malerisch die Fiumara. An das Schloß stößt ein kleiner Bergflecken und diesen begrenzt ein Franziskanerkloster mit einer vielbesuchten Wallfahrtkapelle, Maria Loreta geheißen. Von diesem Hause geht eine wunderbare Sage.

In dem Kloster auf dem Berge lebte im Jahre 1291 ein frommer Priester, Namens Alexander, welcher krank lag und Gott und die Heiligen um Linderung seiner Schmerzen anflehte. In der Nacht vom 10. Mai fühlte er sich ganz genesen und hatte eine Offenbarung, daß das heilige Haus der gebenedeiten Gottes-Mutter, das die Apostel zu einer Kirche umgestaltet, von Nazareth hinweg und auf den Berg Tersat versetzt sey. Und siehe, als er heraustrat, da stand der kleine heilige Tempel da, hergetragen von den Engeln auf den Flügeln der Morgenröthe, bei klarem Himmel,[176] bei tiefer Meeresstille. Einfach und schlicht war das Haus, von dunkeln Ziegelsteinen, vierzig Schuhe lang, zwanzig breit, achtundzwanzig hoch. Die Thür war mitternachtwärts gerichtet, und das einzige Fenster gegen Niedergang. Das Dach trug ein kleines Glockenthürmchen, das Gewölbe zierten goldne Sterne. Der Altar war mit Tüchern belegt, und das Antipendium war himmelblau. Köstliche Schnitzbilder der heiligsten Personen dienten zur Altarzier, sie waren aus dem feinsten Cedernholz, wie die Mönche auf dem Kloster des Libanon solche verfertigen.

Der fromme Priester Alexander breitete nach allen Seiten hin dieses Wunderereigniß aus, und zahlloses Volk strömte herbei, Gläubige und Ungläubige, und es geschahen große Wunder dort.

Damals residirte Nikolaus, Graf von Frangipani, Ban in Dalmatien, Croatien und Slavonien, in der Stadt Modrus, die jetzt ein Dorf ist, der reiste alsbald, wie er die Kunde vernahm, daß die Engel das Haus der heiligsten Jungfrau gen Tersatto getragen, nach seinem Stammschlosse, und sandte den Priester Alexander mit noch drei andern glaubwürdigen Personen gen Nazareth, zu erforschen, ob auch in der That das Haus dort fehle. Nach vier Monaten kehrten die Pilger heim, und beschwuren, daß sie in Nazareth das Haus nicht gefunden, und daß es wahrhaftig zu Tersatto stehe.

Doch nicht für immer sollte Tersat dieses heilige Haus besitzen. Nach einem Zeitraume von 3 Jahren 7 Monaten und 4 Tagen verschwand es, an einem[177] Sonnabend, am 10. Christmond 1294, in der Mitternachtsstunde, und die Engel setzten es ohnweit Ancona in Italien nieder auf einen Hügel des Recanatischen Waldes. Dessen Eigenthümer waren zwei Brüder, die stritten sich, wem das Haus seyn sollte; da ward es abermals aufgehoben und in einem Gehölz, das einer Edelfrau, Namens Laureta, gehörte, mitten auf der Landstraße niedergesetzt. Dort steht es noch heute, reich und überreich begabt und weltberühmt.

Voll Trauer über den großen Verlust, der nicht minder wunderbar war, wie die frühere Begabung, ließ Herr Nicolaus von Frangipani dem betrübten Volke eine der vorigen im Aeußern ganz gleiche Kapelle erbauen, und Papst Urban sandte ein Bild der Mutter Gottes nach Tersatto, das der Evangelist Lucas eigenhändig auf eine Tafel von Cedernholz gemalt, und begnadigte die Kapelle mit großem Ablaß. Papst Nicolaus V. gestattete die Erbauung einer Kirche und eines Franziskanerklosters. Später erbaute man auch noch mehrere andere Kapellen an dem Wunderorte, zu dem alljährlich viele Tausende wallfahren.

Quelle:
Bechstein, Ludwig: Die Volkssagen, Mährchen und Legenden des Kaiserstaates Oesterreich. 1. Band, Leipzig: B. Polet, 1840, S. 175-178.
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