Der unverbesserliche Hirtenjunge

[141] Ein Knabe fand einst ein Zebra, wußte aber nicht, daß es ein Zebra war, und nannte es »Bunter Stein«. Als sein Vater ihn einmal frug, in welcher Richtung er das Vieh hüte, antwortete er. »Auf der Seite des ›bunten Steins‹.« Da ging der Mann, um den »bunten Stein« zu sehen, den er kannte von Alters her keinen »bunten Stein« im Felde. Als sie nun hinzugekommen waren, sah der Vater, daß der vermeintliche Stein ein gefallenes Zebra war. Da ergriff der Vater seinen Sohn, schlug ihn und sprach: »Wenn du solch ein Ding findest, dann mußt du es mit Strauchwerk bedecken und es mir sagen; das ist ja wertvolle Nahrung!« So wurden denn die Tragochsen herbeigeholt und das Zebra aufgepackt.

Als der Knabe eines Morgens wieder das Vieh hütete, tötete er ein oreb (kleines Vögelchen). Eingedenk der väterlichen Mahnung bedeckte er es mit Sträuchern, ging und holte den Vater und den Tragochsen. Als der Mann mit dem Ochsen gekommen war und sah, daß es so ein kleines Vögelchen war, wurde er zornig, schlug den Knaben und sprach: »Solch ein Ding mußt du am Vorkaroß (Schurz) deines Bruders festmachen!«

Eines anderen Tages tötete er einen Steinbock. Der[141] letzten Rede seines Vaters gemäß band er den Steinbock an sein Vorkaroß fest, so daß dieses vollständig zerriß. Da sprach sein Vater: »Solche Dinge mußt du auf den Schultern nach Hause tragen!« und schlug ihn wieder.

Als er eines Morgens wieder hütete, bekam eine Ziege Lämmer. Da ließ er die Ziege, die zurückgeblieben war, vom Tiger bewahren und sagte zu dem: »Du mußt auf die Ziege gut aufpassen, und wenn ich mit dem anderen Vieh zurückkomme, dann laß ich dich deren Milch trinken!« So ging der Junge seiner Herde nach. Der Tiger aber verschlang die Ziegenlämmchen. Zurückgekommen frug er: »Wo sind die Lämmchen?« Der Tiger aber erwiderte nichts darauf. Da sprach der Knabe: »Ich werde dich wund schlagen!« Der Tiger aber brummte nur. Der Knabe sprach: »Und wenn du auch lachst, mir zu schmeicheln, werde ich dich doch in Stücke schlagen!« und ging dann wieder zur Herde zurück. Als er sich nach der Ziege wieder umsah, hatte der Tiger auch diese gebissen. Da frug er ihn: »Warum hast du das gethan?« ging und schnitt zwei Stöcke vom Rosinenbusch ab, gab den einen Stock dem Tiger und sagte: »Laß uns einander schlagen!« Der Tiger nahm den Stock aber nicht. Da sprach der Junge: »Das ist mir einerlei, wenn du ihn auch nicht nimmst, so werde ich dich doch wund schlagen!« Der Tiger aber brummte nur. »Und wenn du auch lachst, mir zu schmeicheln, so werde ich dich schlagen« – sprach er weiter und schlug. Da zerkratzte ihn der Tiger mit den Nägeln. Der Knabe sprach darauf: »Ich werde dich mit der Faust schlagen!« und er schlug mit der Faust. Da packten sie einander. Als dem Jungen sein[142] Fell gehörig zerkratzt war, floh der Knabe zu seinem Vater und erzählte ihm alles, was geschehen war. Der Vater dachte: »Das muß ein Mensch gewesen sein, mit dem er sich eingelassen hat,« und ging die Sache näher zu besehen. Als er überzeugt war, daß er mit dem Tiger sich eingelassen hatte, ergriff er den Jungen, klopfte ihn ordentlich durch und sprach: »Wenn du solch ein Ding siehst, dann komm und sage es mir!« Da wurde der Tiger getötet.

Eines Morgens hatte der Knabe wieder das Vieh auf die Weide getrieben, da blieb sein Karoß hängen an den Hackjesdörnern. Er ging deshalb nach Hause und sagte: »Jemand hat mir mein Karoß abgenommen.« Da ging der Vater zu sehen, und als er sah, daß es an den Hackjesdörnern hing, bekam der Junge wieder Schläge mit den Worten: »Das ist ja ein totes Ding.« So nahm er das Karoß herunter und gab es ihm.

Erläuterung: Ob diese Erzählung der reinen Dichtung angehört, oder als wirklich geschehen zu betrachten ist, fällt schwer zu entscheiden. Nehmen wir letzteren Fall an, dann muß man unter dem Knaben einen beschränkten, geistesschwachen Menschen sich denken, der ein so schwaches Gedächtnis hat, daß er Verschiedenes nicht unterscheiden kann und nur die zuletzt gegebene Meinung zu behalten vermag. Näher liegt es aber, ein Gedicht darin zu erkennen, wozu irgend ein Zug daraus, der passiert ist, Veranlassung gab, eine Reihe ähnlicher Stückchen zusammenzustellen. Jedenfalls erscheint das schön gestreifte Zebra von der Ferne aus als etwas Buntes. Gefallenes Wild, das man nicht gleich rückwärts schaffen kann, wird[143] bei großer Eile bedeckt, sonst vergraben oder in einem Baume ausgehängt. Unter dem »Vorkaroß« ist hier nur der Gürtel des Lendenschutzes zu verstehen, sonst dieser selbst; daß er bei solchem Gewicht zerreißen muß, ist klar. Der hier gemeinte Tiger ist nicht der ostindische, sondern der afrikanische Panther und jedenfalls ein junger. Die Herausforderung zu einem Duell gewiß Keckheit. Die Phantasie des Dichters zeichnet gut. An den Fußstapfen kann der Vater erkennen, mit wem sein Junge sich duellierte. Wer aber sein Karoß (Schafpelz) an den Hackjesdörnern hängen läßt und meint, jemand habe ihn beraubt, taugt zum Viehwächter nimmermehr.

Quelle:
Seidel, A. (Hg.): Geschichten und Lieder der Afrikaner. Berlin: Verein der Bücherfreunde, Schall & Grund, 1896, S. 141-144.
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