Die Geschichte von der Eule

[99] Es war einmal eine Frau, die war arm. Sie besaß einen Sohn und eine Ziege. Der Junge war ein wenig schwachsinnig. Er trieb die Ziege regelmäßig auf die Weide. Als sie eines Tages gar nichts zu essen hatten, da sprach seine Mutter zu ihm: »Auf, mein Junge! Verkauf die Ziege, damit wir uns etwas zu essen kaufen können.« »Gut, Mutter!« versetzte der Junge und nahm die Ziege mit hinaus in die Wüste. Dort fand er eine Eule. Die Eule sprach zu ihm: »Kuhk.« Er fragte: »Du willst die Ziege kaufen?« – »Kuhk!« – »Wieviel?« – »Kuhk!« – »Zehn Mitkal?« – »Kuhk!« – »Gott gebe dir Glück zu deinem Kaufe!« – »Kuhk!« – »Gieb mir das Geld!« – »Kuhk!« – »Bis morgen willst du Zeit? – Schön! Also abgemacht!«

Nun ging er wieder weg und kam zu seiner Mutter. Die sagte zu ihm: »Gieb mir das Geld, mein Söhnchen!« Er versetzte: »Ich habe den Leuten bis morgen Frist gegeben.« »Wem hast du denn die Ziege verkauft?« fragte die Mutter. Der Junge versetzte: »Einem Vogel, der immer ›Kuhk‹ sagt; mit ihm habe ich auch ausgemacht, daß er mir morgen das Geld geben soll.«

Am folgenden Morgen begab er sich wieder nach der einsamen Stelle und fand auch dort richtig die Eule. Zu der sprach er: »Gieb mir das Geld!« »Kuhk!« versetzte sie. Da nahm der Junge Steine und warf nach[99] dem Vogel; der flog weg und kroch in ein Loch. Der Junge folgte ihm nach, kroch auch in das Loch und entdeckte darin einen Topf voll Geld. Von dem Gelde nahm er 10 Mitkal und sprach: »Ich will nicht mehr, als ich zu bekommen habe.« Dann ging er weg und schaffte das Geld zu seiner Mutter.

Seine Mutter fragte: »Wo hast du denn das Geld gefunden, mein Junge?!« Er antwortete ihr: »Mutter, ich ging dem Vögelchen nach, und das kroch schließlich in ein Loch; in dem fand ich einen Topf mit Geld, und davon nahm ich mir soviel, als ich zu bekommen hatte.« »Weißt du noch, wo das war?« fragte die Mutter. »Gewiß, Mutter!« entgegnete er. Sie sprach: »Da mußt du morgen mit mir hingehen.« Er versetzte: »Gern, liebe Mutter!«

Da machte sich seine Mutter dran und kochte Bohnen und Kichererbsen; das that sie dann in einen Sack. Hierauf legte man sich schlafen. Als es Morgen geworden war, sprach seine Mutter: »Auf, mein Söhnchen!« Sie brach nun mit ihm zusammen auf, und beide gelangten nach jener Stelle. Sie krochen in das Loch. »Wo ist der Topf?« fragte seine Mutter. »Hier, Mutter!« entgegnete der Junge. Nun nahm sie das Geld und kroch wieder aus dem Loche. Der Junge kroch auch hinter ihr hinaus. – Seine Mutter warf aber nun fortwährend Bohnen und Kichererbsen in die Luft empor. Der Junge aber hob diese jedesmal auf. So gingen sie immer weiter und gelangten schließlich nach Hause. Die Mutter brachte das Geld ins Haus hinein und vergrub es unter dem Erdboden.

Der Junge ging dann wieder weg und erzählte den[100] Leuten, die er traf: »Meine Mutter hat Geld gefunden!« Da fragten ihn die Leute natürlich: »Wo hat sie es denn gefunden?« »In der Wüste,« versetzte er. »Wann denn?« fragte man wieder. Er sprach: »An dem Tage, wo es Bohnen und Kichererbsen regnete.«

Da lachten die Leute und dachten, er sei verrückt geworden. – Hätte seine Mutter vorher nicht so gehandelt, so hätten die Leute schließlich noch alles aus ihm herausgebracht. – Leb' wohl!

Quelle:
Seidel, A. (Hg.): Geschichten und Lieder der Afrikaner. Berlin: Verein der Bücherfreunde, Schall & Grund, 1896, S. 99-101.
Lizenz:
Kategorien: