Der Baum des Sidi Abd Elkader.

[140] Man nahm nun Dschuha und brachte ihn nach jener Einöde, band ihn nahe neben der Strasse an eine Olive und liess ihn da allein. Während er nun an den Baum gefesselt war, sah er einen Reiter herankommen, einen Kaid, der beim Bey in Tunis gewesen war. Der Reiter kam heran und sprach: »Friede sei über euch!« Dschuha erwiderte: »Über euch sei der Friede!« – mit scheinbar grosser Abneigung zu sprechen. Der Reiter fragte: »Warum bist du gefesselt?« Dschuha entgegnete: »Geh, lass mich in Ruhe! Was fragst du mich weiter?« Der Greis sprach: »Ist Fragen etwa ein Verbrechen oder (sonst etwas Unrechtes)?« Dschuha sagte: »Du wirst mich sicher wieder zu dem machen, der ich früher war!« Jener fragte: »Was warst du denn früher?« Dschuha erwiderte: »Ich war früher hundert Jahr, alt; da man mich jetzt aber gefesselt und an den Baum des Sidi Abd Elkader gebunden hat, bin ich zu einem Dreissigjährigen geworden. Denn jeder bejahrte Mann, den man an diesen Baum fesselt, und der sich still und stumm verhält, wird wieder jung!« Da fragte der Greis: »Mein Freund, bei Gott, ist es so?« Dschuha entgegnete: »Bei Gott!« Der Reiter bat: »Lass mich deinen Platz einnehmen!« Schliesslich sprach Dschuha: »Binde mich denn los!« Der Greis band Dschuha los, und letzterer befahl dem Alten: »Leg deine Kleider ab, denn ich kann dir nur das Hemd auf dem Leibe lassen!« Der Reiter zog nun seine Sachen aus und legte die Burnusse ab, die Seidenshawls und das Turbantuch; dann nahm ihn Dschuha her und band ihn als Stellvertreter an die Olive, zog die Kleider des Reiters an, bestieg dessen Stute und begab sich nach dem Dorfe hin. Die Leute sassen nichtsahnend da; da kommt auf einmal Dschuha als Reiter herangesprengt, auf einer schönen Stute und mit kostbaren Kleidern! Man fragte ihn: »Dschuha, woher stammt diese Stute?« Dschuha entgegnete: »In jener Schlucht laufen überall Pferde umher!« Man antwortete ihm: »Bei Gott, du lügst, du Taugenichts! Wen hast du wieder zum Besten gehabt?«

Quelle:
Stumme, Hans: Tunisische Märchen und Gedichte. Leipzig: Hinrich: 1893, S. 140.
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