Tiere und Menschen

Tiere und Menschen.
Eine Suahelisage.

[33] Es war einmal ein Mann, der für sich und die Seinen die Tiere des Waldes und Feldes fing in Fallen, damit sie Fleisch zu essen hatten. Er war sehr geschickt im Erfinden neuer Fallen; daher konnte er täglich Fleisch essen; denn sobald er eine Falle gestellt hatte, fing sich ein Tier darin.

Eines Tages, als er wieder hinging, um zu sehen, was sich in seiner Falle gefangen hatte, fand er einen Affen darin. Er wollte ihn töten; aber der Affe sprach: »Schone meiner, du Kind des Menschen; laß mir das Leben. Rette du mich vor dem Regen, so kann ich dich vielleicht vor der Sonne erretten.«

Da nahm der Mann ihn aus der Falle und ließ ihn laufen. Ehe er aber in dem Dickicht der Bäume verschwand, sprach der Affe zu dem, der ihm das Leben geschenkt hatte:

»Höre meinen Rat! Tue keinem Menschen Gutes; denn unter den Menschen gibt es keine Dankbarkeit. Tust du einem heute Gutes, so erweist er dir morgen Böses.«

Am folgenden Tage saß eine Schlange in der Falle. Da wollte der Mann hinlaufen und seine Freunde rufen, daß sie ihm helfen sollten, die Schlange zu töten.[34]

Sie rief ihn aber zurück und sprach:

»Komm zurück, du Kind der Menschen, rufe sie nicht, die mich töten würden. Schenke mir heute das Leben; du weißt nicht, welchen Dienst ich dir vielleicht schon morgen erweisen kann. Nur Menschen vergelten Gutes mit Bösem.«

Da ließ er ihr die Freiheit und das Leben.

Als der Mann am folgenden Tage zu seiner Falle kam, war ein alter Löwe darin. Den wollte er töten.

Da sagte der Löwe:

»Errette mich vor der Sonne, so will ich dich vor dem Regen schützen.« Der Mann gab ihm die Freiheit. Ehe der Löwe fortlief, sagte er:

»Du hast mir Gutes erwiesen und sollst es nicht bereuen; denn ich bin kein Mensch. Menschen sind nie dankbar.«

Am anderen Tage war ein Mensch in die Falle geraten, den befreite der Mann.

Kurze Zeit darauf brach im Lande eine Hungersnot aus. Als der Mann, welcher so gut verstand, Fallen zu stellen, sah, daß er und die Seinen bald arg würden hungern müssen, sprach er zu seiner Mutter:

»Backe mir sieben Kuchen. Dann will ich fortgehen und sehen, wo ich etwas Speise finden kann. Vielleicht kann ich etwas Wild erlegen oder in der Falle fangen; vielleicht finde ich Früchte.«

Sie tat, wie er gebeten hatte, und er ging fort. Im Walde aber verirrte er sich, und es verging Tag um Tag und Nacht um Nacht, ohne daß er seinen Weg wiederfand. Von seinem Vorrat hatte der Mann schon sechs Kuchen verzehrt, und nur einer war ihm noch geblieben. Um ihn herum wurde der Wald immer dicker, die Wildnis[35] immer undurchdringlicher. Was sollte daraus werden? Da begegnete ihm ein Affe.

»Wo gehst du hin, du Sohn der Menschen?« redete der den Verirrten an.

»Ich kann meinen Weg nicht finden; ich weiß nicht ein, noch aus!« antwortete der Mann.

»Ruhe dich hier aus,« sagte der Affe. »Jetzt will ich dir das Gute lohnen, was du mir tatest; denn ich bin es, den du aus der Falle ließest.«

Da ging der Affe in die Gärten und Plantagen der Menschen und stahl reife Bananen und brachte sie dem Manne.

»Nimm und iß,« sagte er zu ihm; »ich werde dir auch noch Wasser bringen.«

Als nun der Mann sich geruht hatte und sein Durst und Hunger gestillt war, nahm er Abschied von dem Affen.

Einige Stunden später traf er einen Löwen. Sein Schreck war anfänglich groß, doch er konnte bald sagen, daß der Löwe ihm kein Leid tun wollte; denn er redete den Mann an und sprach:

»Woher kommst du, Sohn eines Menschen, und wohin willst du?«

Er antwortete:

»Ich habe mich im Walde verirrt und kann meinen Weg nicht finden.«

»Setze dich nieder,« sagte der Löwe, »und ruhe dich aus, daß ich dir vergelten kann, was du an mir getan hast; denn ich bin es, den du aus der Falle befreit hast. Jetzt will ich dir helfen.«

Da ruhte der Mann sich aus, indessen der Löwe fortging und Wild zur Speise seines Schützlings fing.

»Iß dies,« sagte er, als er zurückkam und zeigte dem[36] Mann eine Stelle im Walde, wo er Feuer machen und das Fleisch rösten konnte. »Ich bin kein Mensch, deshalb bin ich dankbar für empfangene Guttaten.«

Der Mann aß, und dann nahm er Abschied von dem Löwen.

Wieder war er eine weite Strecke Weges gewandert, da kam er auf eine große Plantage. Dort traf er ein altes Weib, die sprach ihn an:

»Wir haben bei uns einen Mann, der krank ist und den Tod fürchtet. Kannst du Medizin bereiten, so komm mit zu ihm.«

Er antwortete:

»Ich kann es nicht!«

Auf der Plantage fand er einen tiefen Brunnen, und da er sah, daß Wasser darin war, wollte er trinken, in dem Augenblick aber, als er sich niederbückte, sah er eine große Schlange in dem Brunnen, die rief:

»Du Sohn eines Menschen, warte auf mich.«

Die Schlange kam aus der Tiefe heraufgekrochen und sagte zu dem Manne:

»Entsinnst du dich meiner? Ich bin es, die du aus der Falle errettet hast. Damals sagte ich zu dir: Schütze mich vor dem Regen, so will ich dich vor der Sonne schützen! Meine Zeit ist gekommen; denn ich kann dir meine Dankbarkeit beweisen. Du sollst einsehen, daß du deine Wohltat nicht an einen Menschen verschwendet hast. Bringe mir deine Tasche, daß ich sie dir fülle mit Dingen, die dir von Nutzen sein werden.«

Da gab der Mann ihr seine Tasche, und sie füllte sie mit goldenen und silbernen Ketten. Als sie gefüllt war, sprach die Schlange: »Nimm dies und sei freigiebig damit.«

Dann wies sie ihm den Weg, den er einzuschlagen[37] hatte, um nach seinem Hause zu kommen. Als er nahe dabei war, traf er den Mann, den er aus der Falle befreit hatte. Der nahm ihm die Tasche ab und lud ihn zu sich in sein Haus, und seine Frau bereitete Speise für ihn. Während er davon aß, ging der Mann, dem er das Leben gerettet hatte, zum Sultan und sprach:

»Ein Fremder ist bei mir eingekehrt, aber er ist keines Menschen Sohn, sondern eine Schlange, und lebt in einem Brunnen. Er hat Macht, sich Gestalt zu geben, welche er will. Laß ihn festnehmen und nimm seine Tasche von ihm; die ist gefüllt mit Ketten aus Gold und aus Silber.«

Der Sultan tat, wie ihm geraten war. Er ließ den Mann, der sich gegen Menschen und Tiere so freundlich gezeigt hatte, festnehmen und seine Hände binden; dann ließ er ihn in das Gefängnis werfen. Als er so gebunden und seiner Freiheit beraubt in dem Kerker saß, kam die große Schlange aus dem Brunnen und bedrohte die Stadt. Da fürchteten sich die Menschen und sagten zu dem Gefangenen:

»Sage der Schlange, sie soll uns verlassen!« Und sie ließen ihn frei und nahmen die Fesseln von ihm. Er ging zur Schlange und befahl ihr, fortzugehen. Die sprach:

»Nun du frei bist, werde ich gehen. Versprich aber, daß du mich rufst, sobald dir jemand ein Leid zufügen will.«

Das versprach der Mann.

Fortan wurde er hochgehalten und geehrt im ganzen Lande. Und man fragte ihn:

»Warum hat der, dessen Gast du warst, dir Übles getan?«

Er erwiderte:

»Die Schlange, der Löwe und der Affe haben mich[38] gewarnt vor den Wohltaten, die ich einem Menschen erweisen würde. Sie haben recht gehabt und die Wahrheit gesprochen, wenn sie sagten, daß von allen lebenden Wesen der Mensch das undankbarste ist. Diesem Manne tat ich Gutes, und er hat es mir mit Bösem gelohnt.«

Der Sultan, da er diese Worte erfuhr, befahl, daß man den Mann, der sie gesprochen hatte, zu ihm brächte. Und er befragte ihn um die Meinung dessen, was er gesagt hatte. Als er nun erfuhr, wie sich alles verhielt, wurde er sehr böse und sprach:

»Dieser Undankbare verdient, daß man ihn in eine Schlafmatte lege und er ertränkt werde; denn er hat Gutes mit Bösem belohnt.«1

1

Eine Matte, deren sich die Suahelis und die Araber an der Küste Ostafrikas bedienen, um darin zu schlafen, heißt Tumba. Sie hat die Form eines Sackes, der an einer Längsseite offen ist. Um sie während der Nacht zu benutzen und vor Kälte und Insekten geschützt zu sein, kriecht man vollständig in sie hinein, wickelt sie fest um den Körper und liegt schließlich auf der offenen Seite. Tumbas werden häufig als Särge benutzt, indem man den Leichnam in sie einnäht.

Quelle:
Held, T. von: Märchen und Sagen der afrikanischen Neger. Jena: K.W. Schmidts Verlagsbuchhandlung, 1904, S. 33-39.
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