Hundertsechsundachtzigste Geschichte

[205] geschah in Rabbi Jehude Chossid Zeiten, da war ein Kind geboren, das konnt nit reden. Un da es nun groß war, da konnt es auch kein Wort reden. Da hat seine Mutter viel hören sagen von Rabbi Jehude Chossid zu Regensburg. So zieht sie zu ihm un klagt ihm, wie sie ein Kind hat, un is nun groß un kann noch kein Wort reden. Was sie doch derzu tun sollt. Da sagt der Chossid: »Geh, un trag den Jungen, gleich als wenn du ihn nach Landshut tragst. (Das is ein kleiner Ort bei Regensburg, der so heißt.) Unterwegen wirst du kommen zu einem Dorf, das heißt Gumla. Da frag dem ersten, der dir wird begegnen: ›Lieber, ich hab ein Kind, das kann nit reden. Was soll ich ihm tun, daß er wird können reden?‹ Un was dich derselbige wird heißen tun, dasselbige tu.« Da tät die Frau gleich, wie sie der Chossid hat geheißen. Un wie sie an das Dorf kam, da begegnet ihr ein Goj (Christ). Da fragt sie den selbigen Goj, was[205] sie dem Kind tun sollt, daß es reden könnt. Da antwortet ihr der Goj sehr berischess (mit Bosheit): »Wirf ihn ins Feuer.« Da denkt die Frau, »der Goj, zu einer Kapore (Sühne) sollst du werden für mich un für mein Kind«, denn sie meint nit, daß es seine Refue (Heilung) wär. So ging die gute Frau wieder zum Chossid, un sagt ihm, wie es ihr gegangen wär. Da sagt der Chossid zu ihr: »Du hast Unrecht getan, daß du nit getan hast, wie dich der Goj geheißen hat. Du hast doch das Kind nit bedurft zu verbrennen. Wärst du neiert hingegangen un hättest den Jungen auf ein heißes Brett gelegt auf den Herd, un hättest ein Multer auf das Kind gestürzt, un hättest das Kind eine Weile drunter lassen liegen, un hättest es dann wieder herfür genommen, so hätte dein Kind können reden. Derhalben geh heute wieder bei Tag in das selbige Dorf un frag wieder den ersten, der dir begegnet, wie ich dich vorher auch geheißen hab. Un was dich derselbige lernt, so tu es gleich.« Also ging die gute Frau wieder heraus in das Dorf. Da begegnet ihr wieder ein Goj. Da fragt sie ihn: »Du, lieber Freund, was soll ich tun, daß mein Kind soll reden lernen?« So sprach der Goj sehr berischess: »Wirf ihn in das Wasser, das heißt die Jsar.« Also hat die Frau eine Goje (Christin) bei sich. Da sprach die Frau zu der Goje: »Ich will es aufhalten, daß es nit dertrinkt.« Also tät die Goje, wie die gute Frau heißt, un warf das Kind herab, un die gute Frau fing es auf in ihrem Schurz. So schrie das Kind: »Schuch, schuch, schuch, wie kalt is mir.« Un war von Stund an redend, gleich wie ein anderer Mensch auch. Un der Chossid lernt dernach auch mit ihm, un is ein großer Talmidchochom (Schriftgelehrter) aus ihm geworden.

Quelle:
Allerlei Geschichten. Maasse-Buch, Buch der Sagen und Legenden aus Talmud und Midrasch nebst Volkserzählungen in jüdisch-deutscher Sprache, Nach der Ausgabe des Maasse-Buches, Amsterdam 1723, bearbeitet von Bertha Pappenheim, Frankfurt am Main: J. Kauffmann Verlag, 1929, S. 205-206.
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