Hundertsiebenundneunzigste Geschichte

[223] geschah: Einmal hat das Malches (die Regierung des Königs) verboten, daß die Juden ihre Kinder sollen jüdischen (beschneiden) lassen. Da war zu derselbigen Zeit geboren ein Sohn dem Rabbi Schimen ben Gamliel, das war der Sohn, der da war geheißen Rabbejnu hakodesch. Da sagt der Rabbi Schimon ben Gamliel: »Der Heilige, gelobt sei er, hat uns die Mile (Beschneidung) gegeben, die sollen wir halten. Un is eine große Mizwe (heiliges Gebot) denn Awrohom Owino (unser Vater Abraham) der hat seinen heiligen Namen zum erstenmal damit geheiligt. Un der König hat das verboten, daß wir das Gebot sollen halten. Sollen wir nun das Gebot nit halten, das der Heilige, gelobt sei er, selbst geboten hat, un sollen das Gebot vom König, dem Rosche (Bösewicht) halten, so sind wir auwer (übertreten wir) auf das Gebot der Mile. Darum is es[223] besser, wir halten die Mile, die der Heilige, gelobt sei er, an unserem Vater Awrohom selbst geboten hat, un ich will dem König sein Gebot verschmähen im sollt es mich mein Leben kosten.« Da ging der Vater hin un jüdischt seinen Sohn, gleich wie es Gott geboten hat. Nun war in derselbigen Stadt ein Hegmon (Statthalter, Bischof), der war darüber gesetzt, daß er sollt Achtung drauf geben, daß die Juden keine Kinder jüdischen. Un wenn einer ja sein Kind sollt jüdischen, so soll man das Kind mit dem Vater zu dem König schicken, dann wollt er sie miteinander töten lassen. Nun, der Hegmon war das gewahr, wie der Rabbi Schimen ben Gamliel hat sein Kind gejüdischt. Also schickt der Hegmon nach Rabbi Schimen un sprach zu ihm: »Du weißt wol, daß verboten is, ein Kind jüdischen zu lassen. Un du bist hingegangen un hast dem König sein Gebot verstört un hast dein Kind selbert gejüdischt.« Da sagt Rabbi Schimen: »Mich dünkt, daß billiger is, daß ich das Gebot von Gott dem Allmächtigen halt, der Himmel un Erde beschaffen hat, als daß ich sein Gebot tät verschwächen, un sollt halten des Königs Gebot, der nit mehr als Blut un Fleisch is.« Da sprach der Hegmon: »Du hast recht geredet, un es dünkt mich auch billiger zu sein. Un ich weiß wol, daß du ein frommer Jud bist un ich hätt gern Barmherzigkeit über dich. Un ich wollt es dich gern genießen lassen derweil du der Oberste unter den Juden bist. Aber was soll ich tun? Der König hat es gar hart verboten, un die Leut haben es in der Stadt gewahr geworden, un fercht ich mich, wenn ich dir's nachließ, so sollt ich bei dem König verraten werden, so sollt ich um mein Leben kommen. Derhalben kann ich dich nit gehn lassen.« Da sagt Rabbi Schimen wider: »Mein Herr, was is dein Begehr, das du mit mir tun willst?« Da sagt der Hegmon: »Ich muß dich mit dem Kind zum König schicken. Alles was er wird mit euch machen, so bin ich auch wol zufrieden.« Da sprach der Rabbi Schimon: »Ich bin das wol zufrieden.« Da war der Hegmon zu Rat gegangen, daß er die Mutter mit dem Kind zu dem König schickt, denn das Kind kann die Mutter nit entbehren. Also macht sich die gute Mutter mit dem Kind auf den Weg. Un wie sie nun bei der Nacht in die Herberg kam, da hat sich eben geschickt, daß der Heilige, gelobt sei er, das Glück hat gegeben, daß dieselbige Wirtin einen jungen Sohn hat gewonnen. Un derselbige König hat geheißen Antoninus Sohn Assverus. Wie sie nun zu der Wirtin kam mit ihrem Sohn, da fragt sie die Wirtin wo sie mit dem Kind hin will, oder was sie mit dem Kind will ausrichten, denn gleich is so seit ihr noch ein Kind bescheren. Da hebt die Frau an un verzählt der Wirtin die ganze Schmue (Geschichte), wie es ihr ging. Wie sie zum König mußt kommen, derweil sie ihr Kind hat beschnitten. Un sie fercht sich sehr, daß sie wird um das Leben kommen. Da sprach die Wirtin: »Folg mir, ich will dir einen guten Rat geben. Nimm du mit dir mein Kind, das nit[224] beschnitten is, un trag es zum König. Un laß mir einweil dein Kind bei mir, bis du wieder vom König kommst. So kannst du weisen, daß es nit gejüdischt is, un damit magst du dein Leben behalten.« Die Rede ging der Frau wol ein, un sie folgt der Wirtin un nahm das Wirtskind mit. Un ließ ihr Kind bei der Wirtin bleiben. Un zieht also fort un kam zu dem König in den Palast. Un der Hegmon war auch eben da. So ging der Hegmon vor den König un zeigt ihm an, wie er hat hergeschickt eine Frau mit ihrem Kind, denn sie hat ihr Kind lassen jüdischen, un da wären sie beieinander Mutter un Kind. Derhalben kann der König tun was er will, denn sie hab sein Gebot nit gehalten. Da war die gute Frau vor den König geschickt. Un da sie vor den König kam, da fragt sie der König: »Sag mir an, warum hast du mein Gebot nit gehalten? Du mußt nun um dein Leben kommen.« Da fiel die gute Frau vor seine Füße nieder un sagt: »Allergnädigster König, die Rede un die Sachen werden sich nit so befinden. Neiert besehet mein Kind. Wenn es so wird sein, gleich wie ihr sagt, so will ich mein Leben verloren haben. Aber der Bischof is der Juden Feind, un er kann noch viel mehr Böses auf uns reden.« Da ward das Kind aufgewickelt. Da sah man das Kind, daß es nit gejüdischt war. Da war der König zornig auf den Hegmon, daß er mit solchen falschen Dingen umgeht. Da sagt der Hegmon: »Mein Herr König, das Kind is gejüdischt worden. Un frag ein Teil von deinen Dieners, die haben es auch gesehen, es mag nun sein zugegangen, wie es will.« Da sagten die Diener zum König: »Mein Herr König, wir wissen es gewiß, daß das Kind is beschnitten worden. Aber die Juden, die haben so einen getreuen Gott, wenn sie ihn anrufen mit ganzem Herzen, so tut er ihren Willen. Wie auch in ihren Büchern geschrieben steht: Wer is ein solcher Gott als unser Gott in unserem Anrufen.« Da sprach der König: »Wenn ihnen Gott so viel Zeichen tut, was hilft es mir, daß ich ein solches Gebot laß ausgehn?« Also ließ der König das Gebot wieder aufheben in allen Landen. Un gebot, daß man den Hegmon sollt Din sein (verurteilen), welches gleich geschah, wiewol daß er unschuldig derzu kam. Also schickt der König die Frau wieder heim mit Freuden. Also kam die Frau mit dem Kind wieder sonder allen Schaden in ihre Herberg. Da sagt die Wirtin: »Derweil dir Gott so ein Zeichen hat getan durch mein Kind un dein Kind, so soll mein Kind un dein Kind, Gott soll sie behüten, wenn sie groß werden, Gesellen sein all ihr Lebentag.« So waren sie groß un aus den zwei Kindern waren zwei Herren. Der eine war Rabbejnu hakodesch und der andere war Antoninus. Der war auch ein köstlicher Mann un war ein Benaulomhabo (würdig des Jenseits) un waren zwei Chawerim (Gesellen) bei einander all ihr Lebentag gleich wie ihr vornen in einer Geschichte habt geleint (gelesen). Der Heilige, gelobt sei er, soll uns unser Leben derlängen. Omen. Seloh.

Quelle:
Allerlei Geschichten. Maasse-Buch, Buch der Sagen und Legenden aus Talmud und Midrasch nebst Volkserzählungen in jüdisch-deutscher Sprache, Nach der Ausgabe des Maasse-Buches, Amsterdam 1723, bearbeitet von Bertha Pappenheim, Frankfurt am Main: J. Kauffmann Verlag, 1929, S. 223-225.
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