Zweihunderteinundzwanzigste Geschichte

[276] geschah an Rabbi Meier, der war gewohnt, daß er allemal vier Stunden auf (vor) den Tag im Bethhamidrasch (Lehrhaus) blieb un lernt. Einmal ging er gar früh aus dem Bethhamidrasch, wiewol das sein Seder (Gewohnheit) nit so war. Da verwundert er sich selbert, wie das doch kommen möcht, daß er so bald aus dem Bethhamidrasch war gegangen. So stund er eine Weile still. Da hört er wie zwei Schlangen miteinander reden. Ein Schlang frägt die andere, wo sie hin wollt gehn. Da sagt die andere: »Der Heilige, gelobt sei er, hat mich geschickt, ich soll Rabbi Jehude das Zeichen tan, un soll ihn un seine Kinder um das Leben bringen.« Da frägt die andere Schlang: »Was hat der Rabbi Jehude getan?« Da sprach die andere Schlang: »Er hat all seine Tag keine Zdoke (Almosen) gegeben.« Wie nun Rabbi Meier das hört, so ging er bald nach dem Haus von Rabbi Jehude un macht sein Ponim (Angesicht) gar schwarz, daß man ihn nit kennt, un ging in das Haus hinein. Da war niemand im Haus, der ihn kennt un Rabbi Jehude sah ihn für einen Ganew (Dieb) an. Wie nun Rabbi Jehude essen wollt, da setzt sich Rabbi Meier auch an den Tisch. Da hebten die Kinder an zu kriegen (streiten) mit ihm, un sagten er sollt hinausgehn. Da sagt Rabbi Meier: »Wenn ihr schon sollt euch untereinander hargenen (schlagen), so will ich nit hinausgehn bis ich hab gegessen. Un ißt mit ihm mit Gewalt über ihren Dank.« Da er nun gegessen hat, da sprach er wider Rabbi Jehude: »Geh hin un nimm ein Laib Brot un gib mir als Zdoke.« Da sprach Rabbi Jehude wider ihn: »Du Bösewichter, is es nit genug, daß ich dir hab Essen un Trinken gegeben, un willst noch ein Laib Brot auch haben.« Da ging Rabbi Meier hin un löscht, das Licht aus, so leuchtet sein Angesicht so wie die Sonne. Da gedacht Rabbi Jehude, der hat mir den Laib Brot nit vergebens angeheischt, denn wie kommt Rabbi Meier daher? Un gab ihm einen Laib Brot um Gottes willen. Da sagt Rabbi Meier: »Folg mir, tu dein Weib und Kind aus dem Haus, un laß sie nit drein kommen bis morgen drei Stunden auf den Tag.« So folgt Rabbi Jehude dem Rabbi Meier, un tät sein Weib un Kinder aus dem Haus. Un Rabbi Jehude mit Rabbi Meier, die blieben im Haus. Da ging Rabbi Meier un wollt seine Notdurft tan. So kam die Schlang un wollt Rabbi Jehude mit seinem Weib un Kind töten. Da schreiet Rabbi Jehude, zu Rabbi Meier: »Helf mir, denn da is ein Schlang, die will mich töten.« Da sprach Rabbi Meier zu der Schlang: »Was tust du hinnen?« Da sprach die Schlang: »Der Heilige, gelobt sei er, hat mich daher geschickt, ich soll töten Rabbi Jehude un seine Kinder.« Da sagt Rabbi Meier: »Was hat er denn getan?« Da sprach die Schlang: »Er hat kein Zdoke gegeben.« Da hat Rabbi Meier gemacht, daß sie sollt wieder hinaus gehn. Da ging die Schlang[277] wieder hinaus. Da ging Rabbi Meier hin, un schließt das Haus wol zu. Un sagt wider Rabbi Jehude: »Tut die Tür nit auf bis morgen vier Stunden auf den Tag.« Wie sie nun schlaften, da kam die Schlang in der Mitternacht un macht eine Stimm gleich als wie Rabbi Jehude sein Weib, un sprach: »Lieber Mann, tu mir die Tür auf, denn ich bin schier ganz derfroren.« Da sprach Rabbi Meier: »Tut nit auf, denn es is nit dein Weib.« Über eine Stunde kam sie wieder un macht eine Stimm gleich wie sein ältester Sohn, un sprach: »Lieber Vater, tu mir die Tür auf, denn ich bin schier ganz derfroren.« Da sagt Rabbi Meier: »Nit tu auf, denn es is dein Sohn nit.« Un so kam die Schlang oft dieselbige Nacht. Aber sie konnt nix ausrichten. Wie nun die Schlang sah, daß sie ihm nix konnt tan, un konnt nix ausrichten, da legt sich die Schlang auf ihren Bauch un schrie: »Weh zu mir. Der Heilige, gelobt sei er, hat mich eppes geheißen, un die Leute wenden es mit der Tefille (Gebet) ab.« Un trieb einen großen Jammer, daß die Schlang in zwei sprang. Wie nun vier Stunden auf den Tag kam, da kam Rabbi Jehude sein Weib un Kinder un klopft an. Da sprach Rabbi Meier: »Tu auf, denn die böse Zeit is vorbei, un will auch dir weisen, wer die Nacht geschrien un geklopft hat.« Da ging Rabbi Jehude mit Rabbi Meier hinaus. Da sah er ein Schlang liegen un ihr Bauch war aufgespalten. Da sagt Rabbi Meier auf Rabbi Jehude: Es helft kein Geld noch Gut wenn Gott zornig is; aber Zdoke beschirmt einem vor dem Tod. Gleich da Rabbi Jehude geschah. Un wär nit gewesen Rabbi Meier, daß er Rabbi Jehude hat gerettet, so wär Rabbi Jehude mit seinem Weib un Kinder um das Leben gekommen. Derhalben fügt sich eben, daß Rabbi Meier frühe aus dem Bethhamidrasch ging, derwartend, daß Rabbi Jehude un sein Weib un seine Kinder beschirmt sollen werden. Dernach gab Rabbi Jehude große Zdoke. Darum soll ein jeglicher ein Beispiel nehmen von der Geschichte, un soll mit gutem Herzen Zdoke geben. Denn Zdoke löst einem von dem Tod, gleich wie in der Geschichte steht.

Quelle:
Allerlei Geschichten. Maasse-Buch, Buch der Sagen und Legenden aus Talmud und Midrasch nebst Volkserzählungen in jüdisch-deutscher Sprache, Nach der Ausgabe des Maasse-Buches, Amsterdam 1723, bearbeitet von Bertha Pappenheim, Frankfurt am Main: J. Kauffmann Verlag, 1929, S. 276-278.
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