Vierundzwanzigste Geschichte

[20] geschah da Rabbi Jauchenen krank war. Da gingen seine Talmidim (Schüler) zu ihm un woltten ihn mewaker Chaule sein (Krankenbesuch machen). Un wie er sie sah, da hebt er an zu weinen. Da sagten die Talmidim: »Lieber Rabbi, so ein köstlicher Mann als ihr seid, ein Herr in der Thauroh, weshalben weint ihr?« Da sagt Rabbi Jauchenen wider: »Meine lieben Talmidim, warum soll ich nit weinen? Wenn man mich sollt doch führen vor einen König, der neiert Fleisch un Blut wär, der heut lebendig un morgen tot is, un wenn derselbige schon über mich soll lernen (entscheiden) so wäre es doch kein Zorn auf ewiglich. Denn auf Jener Welt kann er mir niks tun. Un wenn er mich schon bindet, so kann er mich nit auf ewig binden. Un wenn er mich schon tötet, so kann er mich nit auf ewig töten. Denn er kann mir meine Neschome (Seele) nit nehmen. Un auch kann ich ihn mit guter Red bewilligen, daß er von mir Geld sollt nehmen un läßt mich gehn. Noch gleichwol sollt ich weinen. Un nun jetzunder, daß man mich will führen vor den ewigen König, gelobt sei sein heiliger Name, der da lebt un schwebt ewiglich. Un wenn der über mich sollt lernen, so wär das ein Zorn, der ewiglich sollt gewähren. Un wenn er mich tötet, so wär es ein Tod auf ewiglich un man kann ihn nit mit guten Worten überreden, daß er sollt Schauched (Bestechungsgeld) nehmen. Un nit das allein, ich hab zwei Wege vor mir. Ein Weg is das Gehinnem (Hölle) un der andere Weg is das Gan Eden (Paradies). Un ich weiß nit, welchen Weg man mich führen wird. Drum, wie soll ich nit weinen?« Da sagten die Talmidim: »Lieber Rabbi, benscht (segne) uns.« Da sagte Rabbi Jauchenen wieder sie: »Es soll sein der Wille von dem Heiligen, gelobt sei er, daß ihr euch sollt ferchten vor dem Heiligen, gelobt sei er, so viel wie ihr euch ferchtet vor den Leuten.« Da sagten die Talmidim: »Lieber Rabbi, sollen wir uns nit mehr ferchten vor seinem heiligen Namen als vor den Leuten? Chass wescholaum (bewahre), daß wir nit sollten mehr Maure (Furcht) haben vor dem Heiligen, gelobt sei er, als vor den Leuten.« Da sagt Rabbi Jauchenen: »Wer wollt, daß ihr euch sollt alsoviel ferchten vor dem Heiligen, gelobt sei er, denn wenn ein Mensch eine Awere (Sünde) tut, so denkt er: sollt es neiert kein Mensch sehen. Un vor dem Heiligen, gelobt sei er, hat er kein Scheu nit, ob er es sieht oder nit.« Derhalben benscht er sie damit, als daß sie sich sollten ferchten vor Gott, als wie vor den Leuten.

Quelle:
Allerlei Geschichten. Maasse-Buch, Buch der Sagen und Legenden aus Talmud und Midrasch nebst Volkserzählungen in jüdisch-deutscher Sprache, Nach der Ausgabe des Maasse-Buches, Amsterdam 1723, bearbeitet von Bertha Pappenheim, Frankfurt am Main: J. Kauffmann Verlag, 1929, S. 20-21.
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