Siebzigste Geschichte

[62] geschah: Von Rabbi Akiwe ehe er hat können lernen. Da is er ein Schafhirt gewesen bei dem Auscher (Reichen) Kalbe Sewue zu Jeruscholajm. Un der selbige Reiche, der hat eine feine Tochter. Die sah wol, daß der Schafhirt gar zuchtig war mit allen seinen Werken. Un sie sprach zu ihm: »Wenn ich mich von dir laß mekadesch sein (antrauen), willst du dann wol ausziehn Thauroh lernen?« Da sprach er: »Ja, ich will gern ausziehn lernen.« Also war er sie heimlich mekadesch, daß es die Leut nit gewahr waren. Un er nahm Reschuss (Erlaubnis) von seinem Herrn un verließ die Schafe zu hüten un zieht aus lernen. Un dernach war der Kalbe Sewue gewahr, wie sich seine Tochter hat von seinem Hirten lassen mekadesch sein. Das tät ihm gar bang, denn er hätt sie wol einem köstlichen Mann können geben. Also vertrieb er seine Tochter aus seinem Haus un tät ein Neder (Schwur), daß seine Tochter soll keine Hanoe (Genuß) haben von all seinem Mammon derweil er lebt. Nun, der gute Mann Akiwe der zug aus lernen, un blieb zwölf Jahre aus. Un dernach kam er wieder heim un bracht mit sich zwölf tausend Talmidim (Schüler). Da sagt eine alte Frau gegen sie: »Du bist gleich wie eine Almone (Witwe) un dein Mann lebt noch, un is über Jam (Meer) so wenig Simche (Freude) hast du mit ihm.« Da sprach sie wider: »Wenn mir mein Mann folgen wollt, so sollt er noch zwölf Jahr ausziehen lernen.« Da nun Rabbi Akiwe die Red hört von seinem Weib, so sagt er: »Ich hör wol, wenn ich sollt wieder lernen ziehn so wär sie wol zufrieden.« Un ging hin un macht sich[62] wieder auf, un zieht wieder weg seine Straße um noch mehr zu lernen. Un blieb wieder zwölf Jahr außen. Un lernt auf einer anderen Jeschiwe (Lehrhaus). Dernach zieht er wieder heim un bracht noch zwölf tausend Talmidim mit. Un die vorigen hat er auch derbei. Da hat er nun vierundzwanzig tausend Talmidim beieinander. Da hört das Weib als, daß ihr Mann kommt. Da ging sie ihm entgegen. Da sagten ihre Nachbarn zu ihr: »Wir wollen dir Kleider leihen, um daß du deinen Mann nit so zerrissen entgegen gehst.« Da sprach die Frau wider: »Es kennt der Zaddik den Leib seines Viehs.« Sie meint, der Mann weiß wol, wie sie mit ihm meint, wennschon sie keine guten Kleider an hat. Da sie nun zu ihm kam, so fiel sie nieder auf seine Füß, un küßt ihm seine Füß. Da wollten sie seine Talmidim hinweg stoßen. Da sprach Rabbi Akiwe: »Nit stoßt sie hinweg, denn meine Thauroh und euere Thauroh, die kommt als von ihr her. Denn sie hat gemacht, daß ich dem Lernen bin nachgezogen.« Un verzählt an seine Talmidim die ganze Schmue (Geschichte), wie es zugegangen war. Da hört ihr Vater, Kalbe Sewue, wie ein köstlicher Raw war kommen in die Stadt. So sagt er: »Ich will gehn zu ihm, vielleicht is er mir mein Neder matir (löst meinen Schwur).« Denn er weiß nit, daß das sein Eidam war, neiert er hat Rachmones (Erbarmen) über seine Tochter. Un ging zu Rabbi Akiwe un sagt wie er vermacht hat seiner Tochter von all seinem Mammon, un hat er Charote (Reue) drauf. Denn es hat ihm gar bang getan, daß sie sich hat lassen mekadesch sein (antrauen) un das von einem Schafhirten, un dazu war er ein großer Amhoorez (Unwissender) gewesen. Da sprach Rabbi Akiwe: »Wenn du gewußt hätt'st, daß er ein Talmidchochom (Schriftgelehrter) wär gewesen, hättets du den Neder (Schwur) getan?« Da sprach er: »Lieber Rabbi, wenn er neiert ein Perek (Abschnitt) hätt gekonnt, oder eine Haloche hätt können lernen, so hätt ich den Neder nit getan.« Da sprach Rabbi Akiwe wider: »Ich bin der selbige Hirt gewesen, der dir deine Schaf gehütet hat. Un deine Tochter hat gemacht, daß ich bin ausgezogen lernen, un ich bin mit so viel Talmidim wieder gekommen.« Wie nun das der Kalbe Sewue hört, da fiel er auf seine Fuß un gab ihm seinen halben Mammon. Die Tochter von Rabbi Akiwe, die tät auch so zu ihrem Mann ben Esai, wie ihr Mutter hat getan un ließ sich auch von ihm mekadesch sein (antrauen) derwartend, daß er auch sollt ausziehn lernen. Un das is das Sprichwort, das die Leut sagen: ein Schaf geht dem andern Schaf nach; wie ein Schaf tut, so tut das andere auch. Wie die Mutter getan hat, so tät die Tochter auch.

Quelle:
Allerlei Geschichten. Maasse-Buch, Buch der Sagen und Legenden aus Talmud und Midrasch nebst Volkserzählungen in jüdisch-deutscher Sprache, Nach der Ausgabe des Maasse-Buches, Amsterdam 1723, bearbeitet von Bertha Pappenheim, Frankfurt am Main: J. Kauffmann Verlag, 1929, S. 62-63.
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