Hundertundfünftes Capitel.
Von dem Wechsel eines jeglichen Gutes und vorzüglich der rechten Richter.

[190] Einst herrschte der weise Theodosius, der aber das Licht seiner Augen eingebüßt hatte, und darum ein Gesetz gab, daß eine Glocke in seinem Palaste aufgehangen würde und Jeder, der eine Sache bei ihm anzubringen hätte, eigenhändig das Glockenseil ziehen sollte: bei dem Anschlagen derselben sollte dann der Richter, der dazu bestellt war, herabkommen und einem Jeden nach der Gerechtigkeit thun. Nun hatte sich aber unter dem Glockenstrange eine Schlange ihr Nest gebaut und bekam innerhalb einer kurzen Zeit Junge, und als dieselben kriechen konnten, machte sie sich eines Tages mit denselben auf den Weg außerhalb der Stadt. Während sich aber die Schlange entfernt hatte, kam eine Kröte[190] in ihr Nest und nahm es in Besitz: die Schlange, als sie mit ihren Jungen zurückkam und sah, wie die Kröte ihr Nest inne hatte, kämpfte zwar mit ihr, allein sie konnte die Kröte nicht besiegen, und also behauptete dieselbe das Nest. Wie das die Schlange sah, schlang sie ihren Schwanz um den Glockenstrang, zog tüchtig an demselben und läutete, gerade als wenn sie sagen wollte: komm herab, Du Richter, und verschaffe mir Gerechtigkeit, denn eine Kröte hat gegen alles Recht mein Nest in Besitz genommen. Wie der Richter die Glocke läuten hörte, kam er zwar herab, als er aber Niemanden erblickte, stieg er wieder hinauf. Wie das die Schlange bemerkte, läutete sie zum zweiten Male. Der Richter stieg, als er das hörte, abermals herab, und da er die Schlange das Glockenseil ziehen sah, und wie die Kröte ihren Wohnplatz eingenommen hatte, stieg er wiederum in den Palast hinauf und meldete die ganze Sache dem König. Der König aber sprach zu ihm: gehe wieder hinunter und treibe nicht blos die Kröte wieder aus, sondern tödte sie auch, denn die Schlange muß ihren Platz wieder bekommen, und also geschah es. Wie nun nach diesem eines Tages der König auf seinem Bette lag, kam die Schlange in sein Gemach und trug einen kostbaren Stein in ihrem Munde, und wie das die königlichen Diener gewahr wurden, sagten sie ihrem Herrn, eine Schlange sey hereingekommen, der aber sprach: wollet sie nicht hindern, denn ich glaube, sie wird mir kein Leid zufügen. Die Schlange kroch nun auf sein Bett und nahm ihren Weg nach seinem Gesicht zu, und als sie bis an seine Augen gekommen war, ließ sie den Stein auf dieselben fallen, und ging alsbald wieder aus dem Gemach hinaus. Wie aber der Stein die beiden Augen berührte, bekam der König sein Helles Augenlicht[191] wieder, er freute sich darum nicht wenig und ließ die Schlange überall aufsuchen, allein man fand sie nicht: den Stein aber bewahrte er und beschloß sein Leben in Frieden.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 190-192.
Lizenz:
Kategorien: