Einundzwanzigstes Capitel.
Von List und Verschwörung und von der Huth wider sie.

[43] Justinus erzählt, daß die Lacedämonischen Bürger einmal zusammen sich gegen ihren König verschworen haben und da sie die Oberhand hatten, ihn auf unwürdige Weise aus seinem Staate und Reiche vertrieben. Da begab es sich nun zur selbigen Zeit, daß der Persische König sich vorgenommen hatte, denselbigen Staat zu zerstören und mit einem großen Heere gegen denselben zu Felde zog. Der vertriebene König aber konnte seine Liebe gegen seine obwohl undankbaren Unterthanen nicht überwinden, sondern er fühlte Mitleiden mit denselben, und da er den Anschlag des Persischen Königs gegen sein Land Lacedämon erkundet und erfahren hatte, so dachte er nach, auf welche Weise er unvermerkt und vorsichtig den ganzen Plan dem genannten Staate kund machen könnte. Er nahm also ein Brieftäfelchen und schrieb darein den ganzen Anschlag und zugleich dabei auch eine genaue Anweisung, auf welche Weise sie sich widersetzen und den Staat gegen jenen vertheidigen könnten: hierauf überstrich er das Geschriebene mit Wachs, nahm einen glaubwürdigen Boten und richtete sein Schreiben an die Vornehmsten des Staates. Als diese aber das Schreiben empfangen und fleißig beschaut hatten, zeigte sich gleichwohl kein einziger Buchstabe, sondern nur ebenes Wachs. Darum wurde denn gemeinschaftlich zwischen[43] allen den Vornehmsten des Volkes eine Untersuchung angestellt über die Brieftafel, auf daß ein Jeder seine Gedanken sagte, was mit derselben zu thun sey; allein niemand fand sich, der den Sinn derselben hätte entdecken können. Nun begab es sich aber, daß die Schwester des erwähnten Königs, nachdem sie von der Unverständlichkeit jenes Schreibens gehört hatte, sich von der Obrigkeit die Erlaubniß ausbat, dasselbe ansehn zu dürfen, und als sie es sorgfältig betrachtet hatte, so begann sie mit weiblicher List ein wenig Wachs von dem Täfelchen abzuheben und alsbald erschien ein verborgener Buchstabe. Da sie nun noch mehr des Wachses aufgedeckt hatte, kam immer mehr von der Schrift zu Tage, und als nun somit alles Wachs von den Buchstaben weggenommen war, so konnte man lesen, was darin geschrieben stand. Die Fürsten des Volkes aber, als sie das sahen, freuten sich sehr, vollzogen den ihnen im Briefe ertheilten Rath, verteidigten wacker ihre Stadt und befreiten sie von jeglichem Angriff.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 43-44.
Lizenz:
Kategorien: