Vierundachtzigstes Capitel.
Wie man der Wohlthaten Gottes immerdar eingedenk seyn muß.

[162] Es regierte einst der König Pompejus, in dessem Reiche sich eine gar schöne und liebreizende Dame aufhielt, in deren Nähe ein Ritter wohnte, der gleichfalls sehr anmuthig anzuschauen und von edler Geburt war, und diese Dame öfters besuchte, und von ihr sehr geliebt wurde. Wie dieser Ritter nun einmal zu dieser Dame kam, sah er ihr einen Falken auf der Hand sitzen, den er gar sehr zu besitzen wünschte, und sprach also zu ihr: o meine Gute, wenn ich irgend Deiner wegen etwas gethan habe, oder wenn Du mich liebst, so gieb mir den Falken. Die Dame erwiderte: ich will ihn Dir unter der einzigen Bedingung abtreten, daß Du ihn nicht so sehr lieben darfst, daß Du Dich deshalb von meiner Gesellschaft zurückziehen solltest. Darauf sprach der Ritter: das sey ferne von mir, daß ich mich wegen irgend einer Sache von Dir trennen sollte, vielmehr bin ich jetzt noch weit mehr gehalten Dich zu lieben, denn vorher. Darauf gab ihm die Dame den Falken. Jener aber nahm Abschied von ihr und fand so viel Vergnügen an dem Falken, daß er seine Dame nicht weiter besuchte und[162] wenig an sie dachte, sondern jeden Tag mit dem Falken spielte. Nun schickte die Dame öfters Boten an ihn, und er kam dennoch nicht, endlich aber schrieb sie ihm, er solle ohne weiteren Verzug mit dem Falken zu ihr kommen, was er auch that. Als er nun bei ihr angelangt war, sprach die Dame zu ihm: zeige mir den Falken, und als sie ihn ergriffen hatte, riß sie ihm den Kopf vom Rumpfe. Der Ritter aber sprach nicht wenig betrübt: o Gebieterin, was habt Ihr gethan? Sie aber sprach: gräme Dich nicht, sondern freue Dich vielmehr, und sey froh, denn der Falke war Ursache, daß Du mich nicht mehr, wie früher besuchtest: darum habe ich den Falken getödtet, daß Du zu mir eben so häufig, als Du es sonst zu thun pflegtest, kommen möchtest. Der Ritter aber, als er sah, daß es die Dame aus einer frommen Ursache gethan hatte, war damit zufrieden und besuchte sie wie früher.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 162-163.
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