Sechsundachtzigstes Capitel.
Wie der Herr sich zu den um die göttliche Gnade bettelnden Sündern mitleidig herabläßt.

[164] Es war einst ein Kaiser, der das Gesetz gab, daß sofern ein Weib ihrem Mann untreu gewesen wäre, sie in ewigem Gefängniß gehalten werden solle. Nun trug es sich aber zu, daß ein gewisser Ritter eine Frau aus adligem Blute heirathete, welche er sehr liebte. Er begab sich aber auf eine Reise in ferne Welttheile, seine Frau aber beging nach seiner Entfernung Ehebruch und ward schwanger: da nun die Sache nach den Gesetzen bewiesen worden war, ward ihr auf das Geheiß des Kaisers der Kerker zugesprochen, und sie gebar in demselben einen sehr schönen Knaben. Das Kind aber wuchs heran und ward von Allen, die es sahen, hoch geliebt. Die Mutter stieß jedoch beständig Seufzer und Wehklagen aus und konnte sich nicht trösten, und es begab sich eines Tages, daß der Knabe seine Mutter weinen sah und zu ihr sprach: liebe Mutter, warum bist Du so niedergeschlagen in Deiner Seele. Darauf entgenete die Mutter: o mein süßes Kind, ich habe viele Ursache zu weinen, denn über unsern Häuptern gehen die Menschen frei herum und die Sonne strahlt in ihrem Glanze, wir aber sind hier im Finstern und haben kein Licht. Darauf sprach der Sohn: o süße Mutter, das Licht über unsern Häuptern, von welchem Du sprichst, habe ich niemals erblickt, denn ich bin in diesem Kerker geboren. So ich nur hier Speise und Trank beständig im Ueberflusse haben werde, gefällt es mir hier und ich will hier bleiben, so lange ich lebe. Während[165] sie aber noch also mit einander redeten, stand der Kaiser mit seinen Rittern am Eingange des Kerkers, und einer von ihnen sprach zu ihm: Herr, höret Ihr nicht jenes Klaggeschrei zwischen Mutter und Sohn da unten im Kerker? Jene aber erwiederte: ei ich höre es gar wohl und habe Mitleid mit ihnen. Alsbald sprachen die Ritter: Herr, wir bitten Dich, daß jenen Deine Gnade und Erbarmen zu Theil werde, und der König antwortete ihnen: ich nehme Euere Bitten an, worauf sie Beide aus dem Kerker führten und von jeglicher Strafe freimachten.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 164-166.
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