Hundertundeinundsiebzigstes Capitel.
Von allzugroßer Liebe und Treue, und wie die Wahrheit beim Sterben frei macht.

[99] Petrus Alphonsus berichtet, daß einst zwei Ritter lebten, der eine in Aegypten, der andere in Baldach. Zwischen diesen zwei Leuten gingen aber öfters Boten hin und her, denn was nur in Aegyptenland vorging, das berichtete der Ritter aus Aegypten durch Boten an den Ritter von Baldach, und so umgekehrt, und also war zwischen ihnen eine treue Liebe entstanden, und doch hatte noch Keiner den Andern gesehen. Wie aber einmal der Ritter von Baldach auf seinem Bette lag, dachte er bei sich: mein Geselle aus Aegyptenland erzeigt mir viel Freundschaft, und gleichwohl habe ich ihn noch nie mit meinen leiblichen Augen geschaut, ich will mich zu ihm aufmachen und ihn besuchen. Er miethete hierauf ein Schiff und kam nach Aegypten, und als sein Freund von ihm hörte, kam er ihm entgegen und führte ihn voller Freude in sein Haus. Nun hatte aber jener Ritter ein sehr schönes Mägdlein in seinem Hause, und wie sie der Ritter von Baldach erblickt hatte, ward er von ihren Augen gefangen und krank vor allzugroßer Liebe zu ihr. Wie aber der Ritter aus Aegyptenland Solches gewahr wurde, sprach er zu ihm: mein Lieber, sage was fehlt Dir denn? Jener aber erwiderte: in Deinem Hause ist ein Mägdlein, nach welchem mein[99] Herz von ganzer Seele begehrt, so daß, wenn ich es nicht bekomme, ich ein Kind des Todes seyn werde. Als das der Ritter hörte, zeigte er ihm alle seine Frauen seines Hauses, jenes Mägdlein ausgenommen. Wie aber Jener alle in Augenschein genommen hatte, sprach er: um alle diese kümmere ich mich wenig oder nichts, allein es giebt noch eine andere, die ich hier nicht sehe, welche meine Seele liebt. Endlich zeigte er ihm auch dieses Mädchen, und als der dasselbe betrachtet hatte, sprach er: auf sie allein beruht mein Leben oder Tod. Der Ritter aber entgegnete: auch ich sage Dir, daß ich diese von ihrer Kindheit an in meinem Hause erzogen habe, auf daß sie meine Gemahlin würde und ich mit ihr unendliche Schätze erhielte; indessen habe ich Dich so lieb, daß, ehe ich Dich sterben lasse, ich sie Dir lieber zur Frau abtrete samt allem ihren Reichthum, welchen sie hätte erhalten sollen. Wie das der andere Ritter hörte, freute er sich sehr, nahm sie zur Frau, erhielt mit ihr große Reichthümer und machte sich also mit dieser seiner Gemahlin nach seiner Vaterstadt Baldach auf. Nach diesem gerieth auf einmal der Ritter aus Aegypten in große Dürftigkeit, so daß er weder ein Haus, noch sonst etwas Anderes mehr besaß. Er dachte also bei sich: zu wem kann ich mich besser begeben, als zu meinem Gesellen von Baldach, den ich zu Reichthum verholfen habe, auf daß er selbst nun in meiner Armuth auf mich Rücksicht nehme. Er bestieg also ein Schiff und kam nach Baldach nach Sonnenuntergang in eine Stadt, in welcher sein reicher Geselle wohnte. Er dachte aber bei sich: es ist jetzt Nacht, wenn ich in diesem Augenblicke in das Haus meines Genossen komme, wird er mich nicht erkennen, weil ich schlecht gekleidet bin und Niemand bei mir habe, da ich doch gewohnt war eine[100] große Dienerschaft mit mir zu führen und an Allem Ueberfluß zu haben. Er sprach also bei sich: ich will diese Nacht ausruhen und morgenden Tages zu ihm gehen, sah sich um, erblickte den Kirchhof, sah die Kirchthüren offen und trat hinein, um daselbst die Nacht hinzubringen. Wie er aber eine Weile daselbst gewesen war und eben einschlafen wollte, fochten Einige auf der Straße mit einander, und einer tödtete den andern. Der Mörder aber floh auf den Kirchhof und lief auf der andern Seite wieder hinaus. Nach diesem erhob sich aber in der Stadt ein Geschrei: wo ist der Mörder, wo ist der Verräther, der einen Menschen umgebracht hat? Jener aber sprach: ich bin der Mörder, der jenen Mann erschlagen hat, nehmt mich und hängt mich an den Galgen. Jene legten nun Hand an ihn und sperrten ihn die ganze Nacht hindurch in ein Gefängniß. Frühe aber ward mit der Glocke der Stadt geläutet, der Richter fällte seinen Spruch gegen ihn, und man führte ihn zum Galgen. Unter den Zuschauern aber befand sich auch sein Geselle, der Ritter, zu dem er gekommen war. Wie ihn der aber zum Galgen schleppen sah, sprach er bei sich: das ist mein Genosse aus Aegypten, der mir meine Frau samt vielen Schätzen gegeben hat, und der geht zum Galgen und ich soll leben? Er rief also mit lauter Stimme und sprach: Ihr lieben Leute, wollet nicht einen unschuldigen Menschen hinrichten: der, welchen Ihr zum Tode führet, hat keine Schuld, ich bin der Verräther, der den Mann erschlagen hat, nicht er. Wie das jene hörten, legten sie Hand an ihn und führten Beide zum Galgen. Wie nun aber Beide schon nahe am Galgen waren, da dachte der wahrhaft Schuldige bei sich: da ich Schuld an dieser That bin, soll ich zugeben, daß diese Unschuldigen sterben? Es kann nicht[101] anders kommen, als daß Gott einmal Rache an mir dafür nimmt, es ist besser für mich, hier eine kurze Strafe auszustehen, als die ewige Pein in der Hölle zu leiden. Er rief also mit lauter Stimme: lieben Leute, wollet um Gottes Willen nicht Unschuldige hinrichten, denn keiner von diesen hat durch ein Zeichen, Wort oder That die Veranlassung gegeben, daß der, welcher getödtet worden ist, erschlagen wurde, sondern ich bin der, welcher ihn mit eigener Hand ermordet hat: also richtet mich hin und lasset die Unschuldigen frei ihre Straße ziehen. Wie jene das vernahmen, griffen sie auch diesen, verwunderten sich aber und führten sie vor den Richter. Wie sie aber der Richter erblickte, wunderte auch er sich und sprach: weshalb seid Ihr wieder umgekehrt? Jene aber erzählten den ganzen Hergang der Sache von Anfang bis ans Ende, und der Richter sprach zu dem ersten Ritter: mein Bester, aus welchem Grunde hast Du gesagt, daß Du den Menschen erschlagen hast? Jener aber erwiderte: das will ich Euch ohne Falsch sagen. In meinem Vaterlande Aegypten war ich reich und hatte Ueberfluß an Allem, nachher bin ich in große Dürftigkeit gerathen und befaß weder ein Haus, noch einen Ort, noch irgend Etwas mehr, aus Sehnsucht habe ich mich also in dieses Land begeben, ob ich vielleicht eine Unterstützung erhalten könnte. Darum habe ich gesagt, daß ich den Mann getödtet hätte, denn ich will lieber sterben als leben, und in diesem Augenblicke noch bitte ich Dich um Gottes Willen, mich hinrichten zu lassen. Hierauf sprach der Richter zu dem zweiten Ritter von Baldach: und Du mein Lieber, weshalb hast Du gesagt, daß Du den Mann umgebracht hast? Der antwortete aber: Herr, dieser Ritter hat mir mein Weib mit ihren vielen Schätzen gegeben, die er für sich aufgehoben[102] hatte, und durch ihn bin ich in Allem reich geworden. Wie ich nun diesen meinen lieben Gesellen, durch den ich zu so Großem und so Vielem gelangt bin, zum Galgen führen sah, habe ich mit lauter Stimme gerufen: ich bin Schuld an dem Tode jenes Mannes, nicht er, weil ich gern aus Liebe zu ihm für ihn zu sterben wünschte. Nun sprach der Richter zu dem Mörder: weshalb hast Du aber behauptet, den Mann ermordet zu haben? Der aber entgegnete: Herr, ich habe nur die Wahrheit gesagt, denn es wäre eine schwere Sünde gewesen, wenn ich Unschuldige hätte sterben lassen und am Leben geblieben wäre. Deshalb habe ich es vorgezogen die Wahrheit zu sagen und hier Strafe zu leiden, als daß Schuldlose verurtheilt würden, und ich in der Hölle oder anderswo dafür bestraft werden sollte. Da sprach der Richter: weil Du die Wahrheit bekannt und Unschuldige gerettet hast, schenke ich Dir das Leben, sofern Du nur künftig Deinen Lebenswandel zu bessern trachtest: gehe hin im Frieden. Alle aber, welche die Worte des Richters vernahmen, lobten ihn, daß er ein so gutes Urtheil gefällt hatte, weil der Schuldige die Wahrheit gestanden hatte.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 99-103.
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