Hundertundvierundsiebzigstes Capitel.
Wie das, was die Natur lehrt, Niemand aufheben kann, und von der Vergeltung der Undankbarkeit.

[117] Einst ritt ein Kaiser nach Mittag auf die Jagd, es begab sich aber, daß er durch einen Wald kam und eine von Hirten gefangene und an einen Baum gebundene Schlange antraf; die Schlange aber brüllte gräßlich, und der Kaiser, von Mitleid gerührt, machte sie los und steckte sie in seinen Busen, um sie wieder zu erwärmen. Sobald sie aber warm geworden war, begann sie ihn zu stechen und ihr Gift auf ihn zu schießen, und der Kaiser sprach: was thust Du, warum vergiltst Du Gutes mit Bösem? Die Schlange aber bekam, wie einst Bileams Eselin, das Vermögen zu reden und sprach: Niemand kann ändern, was die Natur uns gelehrt hat: Du hast gethan, was Du mußtest, ich aber habe meiner Natur gemäß gehandelt. Du hast so viel Menschlichkeit bewiesen, als Du vermochtest, ich aber dafür gethan, was mich mein Instinct gelehrt hat. Ich habe Dir Gift gegeben, weil ich nichts als Gift hatte, und immer ein Feind des Menschen seyn werde, weil ich um eines Menschen Willen bestraft und verflucht worden bin. Wie sie nun also mit einander stritten, ward ein gewisser Philosoph herbeigerufen, auf daß er zwischen ihnen Richter wäre, und ein gerechtes Urtheil fällte. Der Weise aber sprach: alles Dieses höre ich nur durch Eure Worte und Erzählung. Wenn ich aber die Sache selbst sehen könnte, über die Ihr redet, wollte ich wohl ein Urtheil sprechen. Ich wünsche also, daß die Schlange wie vorher an den[118] Baum gebunden werde, und der Herr Kaiser sich jetzt von ihr freimache, alsdann will ich beide Theile richten. Wie das geschehen war, sprach der Weise zur Schlange: jetzt bist Du wieder angebunden, mache Dich selbst los, wenn Du kannst, und entferne Dich. Die Schlange erwiderte: das kann ich nicht, weil ich so fest gebunden bin, daß ich mich nicht zu rühren vermag. Der Weise sprach: also wirst Du sterben müssen, denn Du bist immer und von je her undankbar gegen die Menschen gewesen, und wirst es stets seyn. Hierauf wendete er sich zum Kaiser und sprach: Herr, jetzt bist Du frei, drücke das Gift aus Deinem Busen und ziehe Deine Straße, laß Dich aber künftig nie wieder in eine solche Thorheit ein, weil die Schlange nichts Anders machen kann, als was sie die Natur gelehrt hat. Wie das der Kaiser hörte, dankte er dem Weisen, daß er ein so gerechtes Urtheil gefällt hatte und ging davon.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 117-119.
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